Marcus
MARIANNE
Marianne. So heißt Christians dänisches Mädchen. Süß.
»Jetzt willst du dir also die zweite Heimat deines Freundes ansehen?«
»Ja. Ich wollte einfach weg.« Sie erzählt, dass sie in Dänemark mit Christian zusammen war, dann verschwand er von der Schule und ging nach Afrika. Sie hat die Schule beendet und will die Welt sehen. Darum ist sie auf eigene Kosten gekommen.
»Sie singt«, sagt Christian. »Und sie ist gut.« Er schaut Marianne an: »Sing mal was für ihn.«
»Nein«, sagt sie und lächelt.
»Ach, komm schon.« Sie singt: »She likes to party – feeling fine.« Sehr professioneller musikalischer Stil. »Ich will versuchen, eine Arbeit zu finden«, sagt sie. »Vielleicht in einem Flüchtlingslager der UNO.« Christian bekommt einen leeren Blick – er denkt nach. Über einen geheimen Plan, den er mit ihr realisieren will. Er will eine Band gründen. Er ist Schlagzeuger, und ich habe ihm den guten Gitarristen vorgestellt, der in der Kirche spielt und den Zaire-Stil kann. Und einen Bassisten, einen politischen Flüchtling aus Burundi. Der Publikumsmagnet soll das weiße Mädchen werden, als Frontfrau, die singt und mit ihrem Hinterteil wackelt, damit der schwarze Mann von einer weißen Nacht träumen kann. Sie haben schon einige Nachmittage zusammen gespielt, bevor Marianne gelandet ist, aber Christian erzählt es ihr nicht – sie weiß nichts von dem Plan. Vielleicht glaubt er ja selbst nicht daran, denn der Gitarrist will nichts tun, was nicht gottgefällig ist. Und das Wichtigste passiert sonntagmorgens in der Kirche, da kann er nicht Samstagabend im Hotel Saba in Arusha sein.
Christian hat auch Pläne mit Steinen. Er redet viel über das Minengebiet in Merelani – die blauen Steine, Tansanit. Wie bei Mika gehen die Gedanken in eine illegale Richtung, um sich ein schnelles Vermögen zu beschaffen. Wieder erwähne ich die Idee eines Exports nach Dänemark, legale Sachen, Souvenirs, Kunsthandwerk.
»Das ist schwer«, sagt Christian.
»Wieso?«
Christian seufzt. »In Europa gibt es eine Menge Systeme. Zölle, Steuern, Papiere und Zulassungen, die in Ordnung sein müssen. Ich kenn mich mit so was nicht aus.«
»Du könntest es lernen.«
»Vielleicht entscheide ich mich ja hierzubleiben.«
»Wir könnten uns einen Partner in Dänemark besorgen. Einen von deinen Freunden.«
»Meine Freunde sind für so etwas nicht geeignet«, sagt er. »Aber vielleicht sollten wir versuchen, ein paar Tansanit-Steine zu kaufen und in Europa zu verkaufen.«
»Du kannst sie in Arusha kaufen.«
»Nein, im Minengebiet, bei Zaire, da bekommen wir sie billiger. Savio kann uns helfen«, sagt Christian.
»Fahr da nicht raus – die bringen dich um.«
»So schlimm wird’s schon nicht werden.«
»Es ist sehr gefährlich«, sage ich.
»Tsk.« Christian glaubt, er kennt Afrika, obwohl er nie richtigen Hunger erlebt hat.
HÄSSLICHE REKLAME
Christian macht viel Arbeit, denn in Tansania ist er ein Baby, das nicht allein gehen kann. Er glaubt, er versteht alles, aber er kennt die Wege nicht. Ja, er hat eine Vereinbarung mit dem Shukran Hotel, kleine Disco-Abende. Aber für das, was es braucht, um großen Erfolg zu haben, ist er blind.
»Man benötigt eine Disco-Zulassung«, sage ich. »Sonst kann es Ärger mit der Polizei geben.« Ich nehme ihn mit zum Town Council. Der Preis für die Zulassung entspricht dem Geld für drei Biere an der Bar.
»Was ist mit Steuern?«, will er wissen.
»Keine Steuern«, sage ich. »Es ist ein kleines Geschäft, hin und wieder ein Abend. Der Steuermann schaut dich nur an, wenn du eine richtig große Größe bist.«
»Und wenn ich anderen Lohn zahle?«
»Bar auf die Hand, keine Papiere, nichts.« Ja, der weiße Junge braucht mich, um einen Pfad durch die schwarze Wildnis zu finden.
Christian bringt Bob Marleys LP Uprising mit, auf der das Foto eines schwarzen Mannes mit Dreadlocks ist, der sich aus seiner Unterdrückung erhebt. Berge und Sonne im Hintergrund – sehr kraftvoll. »Wir schreiben auf dem Foto nur unsere Namen dazu«, sagt er. »Dort steht dann Rebel Rock Sound System – Uprising, dazu Zeit und Ort.«
»Nein, nein, nein«, sage ich. »Wenn du dieses Bild aufhängst – drei Sekunden später ist es weg, weil es sehr ansprechend ist und zu Hause an die Wand gehängt werden kann. Das Foto muss ein bisschen langweilig sein, und es darf nur etwas von der Disco darauf stehen.«
Wir lassen Plakate drucken, fahren mit dem Motorrad herum und hängen sie mit Klebeband in Schaufenster und mit Heftklammern an Bäume.
DER STIL DES SLUMS
Ich bin jetzt am Boden eines Schiffes mit kalten Eisenketten gefesselt, wie auf dem Cover von Bob Marleys LP Survival. Aber mein Schiff segelt nicht auf das große Leben in den USA zu, mein Schiff ist der Laden Roots Rock, in dem ich Kassetten kopiere und eine tagtägliche Reklame für unser Disco-Geschäft bin. Mein Schiff liegt still, während Christian sich überall herumtreibt und Leute trifft, Pläne schmiedet, Abmachungen eingeht. Ich weiß nichts von diesen Absprachen, obwohl ich sein Partner bin. Eeehhh, es ist ein Problem. Er veranstaltet einen Disco-Abend im Shukran Hotel, aber ich kann nicht dabei sein, weil die kleine Rebekka todkrank ist. Und im Shukran Hotel trifft er die ganzen diebischen mswahili – arme, von der Küste zugewanderte Moslems –, sie werden ihn mir wegnehmen. Christian hat im CCM-Gebäude mit Karate angefangen und den Lehrer Ibrahim und einige Burschen aus Swahilitown kennengelernt, die Kundschaft für Schlägereien suchen. Sie sind sehr interessiert an der Disco-Branche und dem weißen Jungen und kommen tagsüber in meinen Laden, um ihn zu treffen. Sie wollen keine Kassetten, sie wollen nur auf den Stühlen hängen und Cola trinken, bis der weiße Junge vorbeikommt. Und sie haben viele Vorschläge und wollen ihm bei allem helfen. Es sind Khalid, der gefährliche Abdullah, Rogarth, der glaubt, er sei besonders schlau, und Firestone, ein kleines beschissenes Stück Dreck vom Markt, der stottert wie Mika früher.
Gulzar kennt Christian noch aus der ISM, und er sagt es ihm direkt ins Gesicht: »Du musst bei diesen Typen aufpassen, Christian. Sowie du wegguckst, klauen sie dir das Hemd vom Leib; es sind alles Diebe.«
»Das glaube ich nicht«, sagt er.
»Doch, es sind Penner und Diebe.«
»Alle haben ihre guten und ihre schlechten Seiten.«
»Einige haben nur schlechte«, sagt Gulzar. »Sie werden dir alles klauen, was du hast.«
Auf der Veranda höre ich Khalid. »Tsk«, sagt er, denn er spricht Englisch und versteht Gulzar gut.
Christian sagt: »Das sind doch nur junge Kerle, die irgendwas tun wollen, um sich ein paar Schillinge zu verdienen. Wir haben ja nicht alle einen Vater, der die Rechnungen bezahlt.«
Draußen lacht Khalid und übersetzt leise für Firestone. Gulzar wird sauer: »Wenn du mit denen zusammenbleibst, dann gehörst du zum Slum. Es verdirbt deinen Stil.«
»Es ist mein Stil, mit ihnen zusammen zu sein«, sagt Christian.
Christian
Endlich erreiche ich Savio am Telefon.
»Ja, verflucht. Komm her«, sagt er. Ich frage ihn, wie. Ich kann mit ihm fahren, aber er kann mir nicht versprechen, wie ich wieder zurückkomme.
»Ich habe ein Motorrad.«
»Ich weiß nicht. Am besten, du fährst mit mir. Der Ort ist gefährlich, wenn man ihn nicht kennt.« Er schlägt vor, dass ich am nächsten Morgen in den ersten Bus nach Arusha steige.
»Und wenn was dazwischenkommt und du nicht fahren kannst?«, frage ich ihn, denn ich kenne das afrikanische System von Verabredungen. Morgen ist irgendwann, aber selten morgen.
»Ich bin kein Afrikaner«, erwidert Savio, ein wenig kühl.
»Okay, okay.« Wir verabreden, wo wir uns treffen.
Am nächsten Morgen sitze ich im Bus, der durch die Ebene fährt, auf der die Massai ihre Zebu-Rinder und Ziegen grasen lassen. In der Ferne ist der Mount Meru zu erkennen, und weiter südlich die Blauen Berge. An den Ausläufern der Berge liegen die Tansanit-Ablagerungen in dem breiten, flachen Tal der Merelani Hills.
Ich steige an der Abzweigung zum Flughafen aus. Trinke Tee an einem Holzschuppen, während ich nach Savio Ausschau halte. Kurz darauf kommt er in einem schäbigen Land Rover ohne Rücksitze.
»Bist du bereit für den Wilden Westen?«, fragt er. Ich springe ins Auto, und wir fahren zum Flughafen, die breite Straße ist an beiden Seiten von Bäumen eingefasst. Savio hat ein Bild der Jungfrau Maria aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und auf die kleine Holzplatte geklebt, die in der Mitte des Instrumentenbretts angeschraubt ist. Hinter den Vordersitzen stehen Holzkisten und Dieselkanister, ein langer schwarzer Plastikschlauch und ein dicker Gartenschlauch liegen daneben.
»Was hast du dabei?«
»Sprengstoff und Zünder. Diesel für den Generator, der den Kompressor antreibt, um Luft in die Mine zu pumpen. Und ein neues Stück Luftschlauch, denn die Gänge in der Mine sind inzwischen verdammt lang.« Kurz vor dem Schlagbaum zum Flughafengelände biegen wir rechts auf einen unbefestigten Feldweg. »Jetzt sind es noch siebzehn Kilometer bis zum Dorf«, erklärt Savio.
»Alle erzählen mir, dass es dort sehr gefährlich ist.«
»Na ja, das Dorf ist nicht so schlimm. Es liegt ungefähr fünf Kilometer von Zaire entfernt. Alle hoffen, Reichtum zu finden, so wie in Zaire. Und sie sind bereit, alles zu tun, was dazu nötig ist. Im Minengebiet ist es gefährlich. Wenn du in die Mine eines anderen Mannes gehst, wird er dich erschießen und dort unten begraben, und niemand wird das je herausfinden.« Savio lacht. Okay, denke ich, Tansania – für die Leute hat es einen gewissen Unterhaltungswert, einen weißen Mann zu erschrecken.
Der Sandweg schlängelt sich in südwestlicher Richtung zwischen steiniger Erde, Dornenbüschen und Akazienbäumen. Es ist keine Straße, sondern lediglich eine Spur, für die sich die meisten Fahrzeuge entschieden haben. Der große weiße Hangar des Flughafens verschwindet im Rückspiegel, in der Ferne sehe ich eine etwas fruchtbarere Gegend. Mehr Bäume, weil die Blauen Berge die Wolken aufreißen und abregnen lassen.
Wir kommen an einer Polizeistation vorbei, die mitten im Nirgendwo liegt.
»Bis hierhin reicht der Arm des Gesetzes«, sagt Savio.
»Kommen sie nicht ins Dorf?«
Er schüttelt den Kopf.
»Nein. Wenn du da in Polizeiuniform reingehst, bist du so gut wie tot. Und du hast nichts zu sagen. Ein Mann könnte einen anderen direkt vor den Augen eines Polizeibeamten erschießen und sagen: ›Fuck, was willst du tun? Sonst erschieß ich dich auch. Wenn du am Leben bleiben willst, halt’s Maul. Du hast nichts gesehen. Fahr zurück ins Büro.‹ Wenn es hier draußen größere Probleme gibt, kommt The Field Force Unit – eine Spezialeinheit des Militärs. Aber bevor die eingreifen, muss es schon sehr ernst sein.«
Mick hat mir erzählt, was Savio hier draußen tut, aber ich will seine eigene Version hören.
»Und was ist dein Job?«
»Aufseher für einen Minenbesitzer. Ich habe dafür zu sorgen, dass die Arbeiter nicht mit seinen Steinen durchbrennen.«
»Und wie geht das?«
Er schlägt seine Khakijacke auf, damit ich das Schulterholster sehen kann – den Revolver, der darin steckt.
»Wenn gesprengt wird, gehe ich runter und sehe nach, ob wir auf etwas gestoßen sind. Ich muss bereit sein. Mit Fräulein 44 in der Hand ins Loch krabbeln, Steine aufsammeln, dann den Rückwärtsgang, damit man keine Hacke ins Kreuz kriegt, die Leiter hoch, ins Auto und ab damit. Abtransport.«
»Kommen sie wirklich auf die Idee …«
»Hör zu«, sagt er. »Ich bin gut zu meinen Leuten. Aber sie wissen, dass ich sie erschieße, wenn sie mich verarschen. Und sie da unten begrabe. Aber ansonsten behandele ich sie wie Menschen. Manchmal bekommen sie sogar Fleisch.« Ich bin eine Weile still.
»Gehört dir ein Anteil an der Mine?«
»Nein, sie gehört einem Araber aus Arusha.«
»Aber könntest du nicht einfach verduften, wenn ihr auf einen großen Fund gestoßen seid?« Wenn der Besitzer in Arusha sitzt, dürfte es lange dauern, bis er es herausfindet.
»Er würde mich umbringen lassen«, erwidert Savio. »Das ist billig hierzulande.«
»Aber im Ausland?«
»Wenn ich genug mitnehme, würde er mich vermutlich auch dort finden. Die Araber haben eine gewisse Vorliebe für Rache. Außerdem … was soll ich im Ausland? Das ist nichts für mich.«
»Du könntest nach Europa gehen«, schlage ich vor.
»Ich bin dort gewesen. Scheißlangweilig.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Leute – sie sind nicht imstande abzuschalten. Als ob sie es eilig hätten, ihren eigenen Tod zu erleben.«
»Wie ist die Arbeit hier draußen, also als Minenarbeiter?«, wechsele ich das Thema.
»Tsk«, schnalzt Savio. »Die Minenschächte sind tief und nicht ordentlich gesichert. Ständig stürzen sie ein. Wenn in einer der Nachbarminen gesprengt wird, ist es vorbei. Aber die Typen, die dort reinkriechen, sind hungrig. Eine Menge Kinder arbeiten dort, wir nennen sie njokas – Schlangen –, zehn bis zwölf Jahre alt. In die schmalsten und gefährlichsten Spalten können sie sich mit einer Taschenlampe hineinschlängeln und nachsehen, ob es Anzeichen einer Ader gibt. Sie graben mit den Händen. Harte Arbeit.«
Wir erreichen das Dorf, Hütten aus Holz und Dung, kleine Lehmhäuser mit abgeplatztem Putz, Holzschuppen mit Wellblechdächern. Ein totales Chaos. Kioske, Bars, Motorradwerkstätten. Eine Unmenge von Motorradwerkstätten. Ich habe davon gehört. Gestohlene Motorräder aus Moshi und Arusha werden hierhergebracht und für Bares verkauft.
»Hier geben die Minenarbeiter ihr Geld aus, wenn sie etwas verdienen. Hier kannst du alles bekommen, was du willst, vierundzwanzig Stunden am Tag.«
»Alles?«
»Ich habe nichts über die Qualität gesagt«, räumt Savio ein. Ein Säugling hockt vor einem Haus und kackt auf die Erde, überall liegt Abfall herum. Keinerlei Kanalisation. Kein fließendes Wasser. Verknäulte Stromleitungen hängen zwischen schiefen Telefonmasten. Die Bars sind mit Stacheldraht und improvisierten Bretterwänden eingezäunt. Menschen mit schlechten Zähnen. Schief stehend und verfärbt. Esel und Ziegen wühlen in den Abfallbergen, andere Haufen brennen am Straßenrand. Wir halten vor einer Bar. Ich steige aus und höre schnarrende Musik – die Anlage ist hinüber. Wir gehen hinein und bestellen Limonade. Savio stellt mich dem Besitzer vor, der sofort interessiert ist, als ich sage, ich würde in Moshi Disco-Abende veranstalten.
»Das kriegen wir hin«, behauptet er. »Du kommst einfach.«
»Was sind denn die besten Tage?«, will ich wissen.
»Jeder Tag ist gleich.«
»Okay. Wenn ich so weit bin, komme ich wegen einer festen Absprache vorbei. Wir hängen dann einige Plakate in der Umgebung auf. Machen Reklame.«
»Sehr gut«, sagt der Mann.
Wir fahren ins Minengebiet. Junge Leute in schicken Klamotten und Sonnenbrille kommen uns auf großen Offroad-Motorrädern entgegen. Es gibt auch Massai in traditioneller Kleidung: Um den Körper ist ein mit Staub und Blut gefärbtes Tuch geschlungen, das Haar ist mit Glasperlen durchflochten oder mit Schlamm fixiert.
»Das sind die Zwischenhändler«, erklärt Savio. »Sie kaufen kleine Steine von den Minenarbeitern und verkaufen sie den Aufkäufern im Dorf, die sie weitertransportieren.«
Der Land Rover kämpft sich eine ausgewaschene Fahrspur hinauf. Über dem Flachland bewegen sich hohe dünne Staubsäulen rastlos in der Hitze. Wir fahren über einen Hügel, und das Tal liegt ausgebreitet vor uns – nahezu keine Vegetation, überall kleine Schuppen und Schlackehaufen. Die Erdoberfläche des gesamten Gebiets ist bedeckt von funkelndem, knisterndem Quarz.
»Es gibt kein System«, sagt Savio. »Du stellst einen Zaun auf und gräbst ein Loch. Du brauchst zwischen sechzig und hundert Arbeiter. Und du brauchst Holz.«
»Zur Abstützung?«
»Um Leitern zu bauen. Wir verwenden keine Abstützungen; der Felsen ist hart, meist jedenfalls.«
Wir erreichen die Mine. Es gibt nicht viel zu sehen. Ein Zaun, ein Holzschuppen, unter einen Halbdach ein Loch in der Erde. Die Leute sind unten und graben.
Savio ruft seinen Handlanger, Conte, der mir einen Helm mit Stirnleuchte gibt. Ich bin nervös.
»Nur ruhig«, sagt Savio. »Er zeigt dir nur die sicheren Gänge, in denen die Decke stabil ist.« Ja, aber ich denke daran, was er erzählt hat; wenn in einer nahe gelegenen Nachbarmine ein Schacht gesprengt wird, kann der ganze Scheiß einstürzen. Alle treten zur Seite, als ich ängstlich die Leiter hinuntersteige. Die Holme sind schwierig zu umfassen, die Sprossen sind breit, abgewetzt und glatt, die Abstände groß. Meine Arme werden schnell müde, Milchsäure sammelt sich. Ich halte mich mit aller Kraft fest, während der Fuß die nächste Sprosse sucht. Sämtliche Minenarbeiter sind schlank wie Tänzer, kein überflüssiges Fettgewebe beschwert ihre Beweglichkeit. Ich schwitze. Schnell wird es total dunkel und die Luft tot und heiß – ein Geruch nach Schweiß, Pisse, Rauch und Dreck. Wir kommen an Leuten vorbei, die Säcke voller Schlacke zur Leiter schleppen. Ein Hämmern und Klopfen dringt vom Grund des Minenstollens zu uns hinauf. Ich krieche vorwärts, direkt hinter Conte her. An einigen Stellen fällt der Stollen steil ab – die ganze Zeit bewegen wir uns auf allen vieren in den niedrigen Gängen, in denen der raue Fels die Handflächen aufreißt und die Luft stinkend schwer und voller Staub ist. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe gleitet über verschwitzte schwarze Rücken, matt vom Staub. Es ist völlig normal und kommt mir gleichzeitig wie ein Traum vor. Einige Arbeiter schlagen mit Hammer und Meißel Löcher in den Fels.
»Für die Sprengladungen«, erklärt Conte. Andere füllen Schlacke in Futtersäcke. Sie grüßen, lächeln, arbeiten.
Ich bin froh, als wir wieder oben sind. Conte zeigt mir ein paar kleine rohe Steine, die aussehen wie matt gefärbtes Glas – nicht diese tiefviolette Farbe, die ich in Schmuckgeschäften in Arusha gesehen habe. »Sie müssen mit Hitze behandelt werden, bevor der richtige Farbton zum Vorschein kommt«, erklärt er.
Savio ruft mich. Es ist spät. Wir fahren zurück zum Dorf, dort wollen wir in einem Guesthouse übernachten.
Wir setzen uns in die Bar, und bevor wir schlafen gehen, sind wir uns einig über den Preis für eine Handvoll ungeschliffener Tansanit-Steine. Ich zweifele, ob die Papiere echt sind.
Ich habe mit Savio verabredet, am nächsten Tag wieder mit ihm zu der Mine in Zaire zu fahren. Savio hat Fleisch und Gemüse im Auto, Reis, Speiseöl, Mehl für Chapati, indischen Kuchen aus Arusha, drei Kisten Bier und mehrere Flaschen Konyagi. Ich habe meinen Ghettoblaster und Kassetten.
»Ich werde ein sehr gutes Essen zubereiten«, verspricht der Koch der Mine und macht sich sofort an die Arbeit. Die Nachricht des Festes verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Jungen, die die Schlackesäcke entleeren – über die Leiter bis in die Gänge. Es wird noch härter gearbeitet.
»Andere Minenbesitzer halten mich für einen Idioten«, meint Savio. »Aber wenn du einem meiner Jungs die Hände abhackst, würde er die Zähne benutzen, um die Steine für mich auszugraben.«
Ein baufälliger Zaun zieht sich um viele der Minenschächte. Ich frage Savio, ob die Minenbesitzer sich gegenseitig helfen. Er lacht.
»Meine Nachbarin dort drüben«, er weist auf das Gelände, »besteht aus dreihundert Pfund Scheiße. Sie ist die einzige Frau hier in Zaire. Aber ich glaube kaum, dass man sie vergewaltigen kann, sie ist schlichtweg zu fett. Aber ja, wir haben unter der Hand ein Abkommen, uns gegenseitig zu helfen, wenn es Probleme mit unseren Arbeitern gibt.«
Als es zu dämmern beginnt, werden die Arbeiter nach oben gerufen. Sie waschen sich die Hände und das Gesicht in einem großen Eimer Wasser, reden und lachen leise. Ich habe den Ghettoblaster dabei und spiele einen schweren Dub. Das Essen wird auf Aluminiumtellern serviert. Alle essen mit den Händen. Das Bier wird verteilt, auch an die ganz jungen Burschen – die Schlangen –, Unterschiede werden nicht gemacht. Hinterher gibt es Tee und Kuchen. Alle lächeln. Savio fordert eine Schlange auf, ein Päckchen Zigaretten herumzureichen.
Savio schenkt in jeden Kaffeebecher einen Schuss Konyagi. Ein kleines Feuer aus Zweigen brennt. Einige Arbeiter rauchen, aber keine Zigaretten – der Geruch von bhangi wabert mir entgegen.
»Wenn ihr gongo mit bhangi mischt, geht der Geist des blauen Steins in euch über, und ihr könnt die Bahn der Ader spüren, wenn ihr auf dem Boden des Schachtes steht«, behauptet Savio. Die Burschen grinsen.
»Das ist richtig«, erwidert einer von ihnen. »Wenn du uns jeden Tag gongo gibst, werden wir dich schon reich machen.«
»Du bist verrückt«, entgegnet Savio.
»Das stimmt«, sagt der Bursche und lacht aus tiefstem Hals – sein Lachen geht über in einen üblen Husten, er räuspert sich und spuckt.
Der Generator ist abgestellt, wir können die Stille genießen, das Sternengewimmel über uns. Der Ghettoblaster verliert an Geschwindigkeit, die Batterien sind alle. Ich schalte ihn aus.
»Mama ist in den Schacht gefallen!« Die Stimme kommt von der anderen Seite des Zauns. Rings um das Feuer erstarren alle und schauen Savio an, der eine Hand neben sich auf die Erde stützt, bereit aufzuspringen. Regungslos sitzt er da und horcht in die Nacht hinein.
»Ist sie tot?«, ruft ein anderer.
»Ich weiß nicht!«, ertönt die Antwort des Ersten. Savio steht auf, wobei er seiner rechten Hand Conte einen Blick zuwirft.
»Alle bleiben hier«, befiehlt er gedämpft den Burschen am Feuer. Er sieht mich an, redet Englisch mit mir: »Du kommst mit. Halt dich dicht neben mir. Hier ist es jetzt gefährlich.« Er bewegt sich rasch auf das Tor zu. Ich laufe ihm hinterher. Conte ist bereits dort, schließt auf und öffnet eine kleine Tür im Tor. Der Revolver in Savios Hand leuchtet matt, während er seinen großen Körper durch die Tür schiebt. Wir schleichen zusammen durch die Dunkelheit zu der Bretterwand, von der die Nachbarmine umgeben ist. Wir kommen an ihr Tor. Es ist sternenklar, und ich sehe deutlich, wie Savio seine Hand hebt, um mir ein Zeichen zu geben, still zu sein. Wir lauschen.
»… viele Steine« »… die große Ader« »… atmet noch …« »sie stirbt bald.« Das Geräusch von Füßen, die sich rasch über die Schlacke auf der Erde bewegen. Savio gibt mir wieder ein Zeichen. Wir gehen auf das Tor zu. Savio probiert es – abgeschlossen. Wir bewegen uns ein Stück den Zaun entlang. Er steckt den Revolver ins Schulterholster. Ohne ein Wort zu sagen, baut Conte eine Räuberleiter für Savio, der mir Zeichen gibt, ihm zu folgen. Wir klettern beide über den Zaun. Savio ist bereits bei ein paar leeren Öltonnen, die er an den Zaun trägt. Ich bin rasch bei ihm. Er klettert auf eine der Tonnen, zeigt auf die andere. Ich soll sie ihm reichen. Er wirft sie hinüber, das Gepolter beim Aufprall ist infernalisch. Ich schaue mich hektisch um. Conte steigt auf die Tonne und springt über den Zaun. Wir hocken in der Dunkelheit, halb verborgen hinter einem Bretterstapel – wahrscheinlich, um Leitern daraus zu bauen. Der überdachte Minenschacht ist im Sternenlicht deutlich zu sehen. Aus dem Holzschuppen dringt das gleichmäßige Geräusch des Generators, der den Kompressor antreibt. Savio zieht sein Hosenbein hoch und zieht eine kleine Pistole aus einem Wadenholster. Er gibt die Pistole Conte und redet schnell und leise auf ihn ein. Es sind keine Arbeiter zu sehen – alle sind in die Mine gestiegen, um Steine zu sammeln.
»Wer bist du?«, zischt Savio in die Dunkelheit. Erst jetzt sehe ich eine Gestalt, die unweit von uns auf der Erde sitzt. Der Zaun hat im Sternenlicht seinen Schatten über ihn geworfen.
»Ich bin’s, der Koch«, sagt der Mann und steht auf, damit das Sternenlicht auf ihn fällt.
»Was ist passiert?«
»Mama wollte hinunter und den Fund sehen.«
»Sie kommt doch da nicht runter«, sagt Savio.
»Nein«, bestätigt der Koch. »Sie ist gefallen.«
»Ist sie tot?«
»Glaub ich nicht«, sagt der Koch.
»Und Makamba?«, will Savio wissen.
»Er ist unten.«
»Hilft er ihr?«
»Darüber weiß der Koch nichts.«
»Bleib hier!«, befiehlt Savio und schleicht zum Schacht, verschwindet. Wir warten. Nach einer Weile taucht er wieder auf und kommt zu uns.
»Was ist da los?«, flüstere ich.
»Die ficken sie.«
»Ficken sie?«, frage ich. Savio lacht kurz und gemein.
»Afrika«, sagt er. »Es ist eine Strafaktion.«
Ein paar Jungen kommen aus dem Schacht. Savio gibt Zeichen, uns zu verstecken und still zu sein. Die Jungen laufen zum Tor, es ist verschlossen. Sie holen sich Hacken und zerschlagen die Schlösser.
»Wir haben mama zur Hölle geschickt«, sagt einer von ihnen.
»Ja, sie hat unsere Liebe zu spüren gekriegt.«
»Jetzt werden die Schlangen in ihr wachsen und sie bis in alle Ewigkeiten quälen.« Schließlich können sie das Tor ein Stück aufschieben und sich durchquetschen.
»Was machen wir?«, flüstere ich.
»Wir warten auf mamas rechte Hand.« Der Klang von Savios Stimme ist eine Mischung aus intensiver Wut, Gleichgültigkeit und purem Hass. Ich bin still. Wir warten. Ein paar Jungen stürzen an uns vorbei, hinaus. Weitere tauchen auf und laufen auf den Holzschuppen zu, vermutlich mamas Haus.
»Verschwindet!«, ruft Savio ihnen zu. Sie bleiben stehen und rennen dann zum Tor hinaus. Wir warten eine Weile.
Ich spüre, wie angespannt Savio neben mir ist. Er behält den Schacht im Auge. Ein erwachsener Mann kommt heraus, kräftiger als die Jungen, die davongelaufen sind.
»Makamba!«, ruft Savio laut und erhebt sich, den Revolver in der Hand. Der Mann bleibt stehen. »Wo ist mama?«
»Sie ist die Leiter hinuntergefallen. Sie ist tot.«
»Und wer kümmert sich um ihre Mine?«
»Sie wollten mich umbringen … die Arbeiter, die Schlangen«, jammert der Mann. »Du musst mir helfen, die Mine zu schützen.«
»Du siehst nicht tot aus.«
Der Mann verstummt.
»Wo ist deine Waffe?«
»Die hat Moses«, behauptet der Mann.
Savio zielt mit ausgestrecktem Arm auf ihn. Der Mann läuft los. Savio schießt. Der Mann fällt. Savio geht zu ihm. Ich bleibe sitzen. Ich zittere. Ich sehe, wie Savio erst die Taschen und dann die Stiefel des Mannes durchsucht und etwas herausnimmt. Conte legt eine Hand auf meine Schulter.
»Komm«, sagt er. Savio steht auf. Der Mann liegt am Boden und stöhnt in der Dunkelheit. Es klingt, als würde er gurgeln.
»Du stellst dich da rüber«, sagt Savio zu Conte und zeigt auf einen Holzschuppen. »Wenn sich jemand dem Haus nähert, schickst du ihn weg. Wenn er nicht will, erschießt du ihn.«
»Warum?«, fragt Conte. Ich glaube, er will lieber hinunter in die Mine.
»Möglicherweise kommen ein paar von den Jungs zurück, wenn sie einen Moment nachgedacht haben. Sie werden dann eine ganz andere Angst haben und versuchen, den Schacht zu sprengen, um mamas Leiche beiseitezuschaffen. Der Sprengstoff ist im Haus. Nimm diese Steine hier.« Savio reicht Conte ein paar unförmige Klumpen. Conte nickt. Es muss sich um die Steine handeln, die Savio aus dem Stiefelschaft des niedergeschossenen Mannes geholt hat.
»Wer kommt, wird erschossen«, bestätigt Conte. Savio gibt ihm ein Zeichen, und Conte läuft zum Holzschuppen. Ich höre die rhythmisch gurgelnden Atemgeräusche des verletzten Mannes.
»Wieso soll Conte dort warten?«, will ich von Savio wissen.
»Sollte die Mine gesprengt werden, wenn wir unten sind, sterben wir. Dann wird niemand von uns ernten«, antwortet Savio.
»Ernten?«
»Los jetzt!«, fordert Savio mich auf.
»Was machen wir?«
»Wir gehen runter in die Mine. Ich muss mir das ansehen.«
»Ich will da nicht runter.«
»Du musst.«
»Kann ich nicht hierbleiben?«
»Hier oben ist es jetzt zu gefährlich.«
»Kann ich nicht bei Conte bleiben? Ich will da nicht runter.«
»Conte ist jetzt gefährlich. Ich bin verantwortlich für dich, und ich muss da runter. Und du kommst mit.« Savio zieht seinen Revolver aus dem Schulterholster unter dem Hemd. Wir schleichen zum Schacht. Ich schaue in das dunkle Loch. Kann tief unten einen schwachen Lichtschimmer erkennen. Wir haben kein Licht, und das Halbdach über dem Loch schirmt die Sterne ab. Savio klettert hinunter. Mir klebt das Hemd am Rücken.
»Wieso müssen wir da runter?«, frage ich verzweifelt.
»Willst du nicht reich werden?«, erwidert Savio und klettert geschickt weiter. Ich folge ihm. Ich habe Angst, aber ich will auch nicht riskieren, mit Conte oben allein zu bleiben. Wir steigen eine Ewigkeit im Dunklen hinab.
»Ganz ruhig«, sagt Savio. »Wir sind gleich unten.« Er zieht eine kleine kräftige Taschenlampe aus seiner Hosentasche. Er hatte sie die ganze Zeit dabei. Er leuchtet hinunter: große, fette Beine, nackt, auf dem Felsboden gespreizt. Zwischen den Schenkeln Wulste, eine obszöne Möse – nach außen gestülpt, verwüstet. Er lässt den Lichtkegel über ihr Gesicht wandern; das Gesicht ist feucht, Staub und Dreck überziehen die Haut. Etwas Staub ist zu einer dünnen, rissigen Haut geronnen. Das geblümte Kleid und die Unterwäsche wurden ihr vom Körper gerissen, die Brüste hängen schwer an den Seiten herab – enorme Dehnnarben leuchten bleich aus der dunkleren Haut auf. Der Hals: eine offene rote Wunde. Geschändet. Tot. Meine Kehle schnürt sich zusammen. Savio tritt an ihr vorbei. Er hält den Revolver und die kleine Taschenlampe in derselben Hand. Vornübergebeugt, fast auf Händen und Knien, bewege ich mich dicht hinter ihm. Es ist heiß und stinkt nach Schweiß und Rauch. Ich höre ein Stöhnen. Savio bleibt stehen. Sein Lichtstrahl trifft auf einen Mann, der auf dem Bauch liegt; der Rücken seines zerschlissenen Hemdes ist dunkel und feucht. Savio zieht den Stoff zur Seite. Ein Loch im Rücken. Von einer Hacke.
Savio beugt sich über den Mann: »Shirazi?«
»Savio«, erwidert der Mann schwach und hebt den Arm ein wenig. Savio starrt längere Zeit ins Dunkle. »Ich spüre meine Beine nicht«, sagt der Mann.
»Was ist passiert?«
»Moses«, flüstert der Mann. Moses? »Hilf mir, Savio«, bittet er, lauter. Wenn hier noch mehr Menschen sind, können sie ihn hören. Savio schlägt ihm mit dem Revolver auf den Schädel, der Kopf des Mannes zuckt kurz zurück und schlägt dann mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Er liegt still.
»Was für eine Scheiße!« Savio leuchtet auf etwas in seiner Hand – einen Kompass. Wir bewegen uns weiter vorwärts, an anderen Tunneln vorbei. Woher weiß er, in welche Richtung wir müssen?
»Kennst du den Weg?«, flüstere ich – mit rauer Stimme.
»Der neueste Stollen«, antwortet er kurz angebunden. Offenbar sieht er, welcher Gang der jüngste ist.
»Sind alle oben?«
»Nein, sie sind hier. In den Nebengängen.« In den anderen Gängen – sie warten darauf, dass wir an ihnen vorbeikommen, damit sie hoch zu Conte klettern können … oder? Wir nähern uns einer Gabelung. Vor uns höre ich ein Knirschen. Savio bleibt stehen, schaltet die Taschenlampe aus und hält mich mit der anderen Hand fest. Das einzige Geräusch, das ich hören kann, ist das Zischen des großen Plastikschlauchs, der sich durch den Schacht windet und Luft zum Grund der Mine bringt.
»Savio!«, brüllt jemand. »Toka!« Verschwinde hier. Savio lacht, hebt die Hand und feuert einen Schuss ab. Das Geräusch ist ohrenbetäubend in dem engen Gang.
»Versuch mal, ob du mich dazu bringen kannst, Moses!«, ruft er und zieht mich mit sich durch die Dunkelheit, bis wir an dem Seitentunnel vorbei sind und Savio seine Taschenlampe wieder einschaltet, auf den Kompass schaut und sagt: »Komm, schnell jetzt. Wir müssen uns den Fund ansehen.«
»Warum?« Meine Sachen sind schweißdurchtränkt – ein Geruch nach Aas steigt von meinem Körper auf, das Zittern der Hände habe ich nicht mehr unter Kontrolle. An Savios Stimme höre ich, dass er lächelt.
»Die Ader ist nah an meiner Mine«, sagt er. »Ich weiß genau, wo wir sind.« Das ist nicht deine Mine, geht mir durch den Kopf; weder diese noch die andere. Aber ich habe das deutliche Gefühl, dass das vollkommen egal ist – seine Hand hält den Revolver: das Gesetz. Er wird sich von seinem eigenen Schacht zu dem Fund durchgraben. Aber das bedeutet … er wird diesen Schacht sprengen. Er kriecht rasch weiter. Der Tunnel wird schmaler und endet plötzlich an einem Haufen Schlacke. Ich hatte eine Öffnung erwartet, einen größeren Raum. Savio leuchtet die unförmigen Wände ab, den Boden, die Decke. Ich sehe das matte, glasartige Kristall, das stumpf um uns herum glänzt. Es ist ganz still. Was? Das konstante Zischen des Plastikschlauchs hat aufgehört. Jemand muss den Kompressor abgestellt haben. »Jetzt hat der Generator keinen Diesel mehr«, stellt Savio fest, bückt sich, wühlt mit den Händen in der Schlacke, stopft ein paar Steine in die Tasche. Er hustet Schleim, spuckt. »Der Sauerstoff ist bald verbraucht. Wir müssen los.«
»Was ist mit den anderen Männern?«
Savio lächelt. »Moses, der gerufen hat, ist ein harter Hund. Los jetzt.« Savio rennt vorgebeugt den Minengang zurück. Er hat gesehen, was er wollte. Schweigend folge ich ihm, spüre den Kloß im Hals. Der Weg scheint sehr viel länger zu sein. Ich bin außer Atem. Es ist stockfinster, weil Savio einen Teil des Lichtkegels seiner Taschenlampe mit der Hand abschirmt. Wieso macht er das? Ich habe nicht genügend Luft, um ihn zu fragen. Meine Hände schmerzen, meine Knie, die Ellenbogen, mein Kopf stößt an die Decke, ich spüre etwas Warmes in meinen Haaren. Blut. Savio bleibt stehen, ich stoße fast mit ihm zusammen.
»Psst«, zischt er und schaltet die Lampe ganz aus, findet meinen Hals mit seiner Hand und zieht mich an sich. Spricht mir leise ins Ohr: »Du rennst jetzt an dem Seitentunnel vorbei, ich komme direkt hinter dir.« Er gibt mir einen Stoß. Ich laufe. POW – ein Schuss. Das Geräusch ist lähmend komprimiert in dem niedrigen Stollen. Ich werfe mich flach auf den Boden – bin an dem Seitentunnel vorbei. Wurde ich getroffen? Nein. Undeutlich höre ich eine Bewegung hinter mir. Ich drehe den Kopf. PAW-PAW … PAW. Der Lichtblitz der Mündung erleuchtet Savio, der die Hand mit dem Revolver um die Ecke geschoben hat und in den Seitenstollen schießt. Sobald der Revolver verstummt, herrscht wieder absolute Dunkelheit. Ein Scharren. Savio wirft sich nach vorn. PAW-PAW-PAW-PAW – die Schüsse kommen aus dem Seitentunnel.
»AHHHRRRGG!«, brüllt Savio, als er direkt neben mich fällt. »Fuck!« Ich kann nichts sehen. Er schleppt sich weiter, ich folge ihm. Er schaltet die Taschenlampe ein. Sein Hosenbein ist nass vor Blut. »Hier«, sagt er und gibt mir den Revolver. »Wenn du etwas hörst, schieß!« Savio zieht sich hastig das Hemd aus, steckt die Taschenlampe in den Mund, reißt das Hemd kaputt und bindet sich ein Stück fest um den Oberschenkel. Sein behaarter Bauch wölbt sich über dem Hosenbund, aber nichts an ihm wirkt schwer. »Den Revolver«, befiehlt er. Ich gebe ihn zurück. »Du kriechst zuerst, schnell!« Er schießt hinter sich. Die Taschenlampe ist jetzt ausgeschaltet, man soll uns von hinten nicht sehen können. Ich höre Savio vor Schmerz aufstöhnen. Krieche weiter, meine Handflächen sind aufgescheuert, der Stollen macht eine Biegung, hinter mir ist Licht. Savio hat die Lampe wieder angeschaltet, weil die Biegung uns vor Schüssen schützt. »Stopp!«, sagt er. Ich bleibe liegen, er kriecht zu mir. »Du leuchtest.« Er gibt mir die Lampe. Ich sehe, dass der Revolver wieder im Schulterholster steckt. Sofort bewegt er sich wieder vorwärts. Mein Kopf fühlt sich leicht an. Vielleicht bin ich kurz davor, ohnmächtig zu werden, weil der Sauerstoffgehalt in der Luft so dünn ist. Wir erreichen den Gelähmten – Shirazi –, er ist wieder bei Bewusstsein. Savio bleibt bei ihm stehen, zieht den Revolver, platziert die Mündung auf den Hinterkopf des Mannes. Savio spricht zu ihm.
»Ich erschieße dich, weil du lahm bist, Shirazi. Gute Reise«, sagt er und drückt ab.
»AAHHHRRRIII!« Der Schrei entfährt meiner Kehle. Unfreiwillig. Ich muss mich übergeben. Savio kriecht weiter, ich halte die Taschenlampe in der Hand und kann es nicht lassen, ich muss darauf leuchten, als ich mich an die Stollenwand presse, um an dem explodierten Schädel vorbeizukommen, weg. Endlich erreichen wir mamas bizarre Leiche, die Luft wird besser. Die Leiter. Savio steigt in einem gleichmäßigen Tempo hinauf; sein verletztes Bein hängt frei, während er die Hände auf die Sprossen legt und sich mit einem dumpfen Stöhnen hochzieht, bis er sein gesundes Bein auf die Sprosse stellen und mit den Händen die nächste erreichen kann. Rhythmisch stöhnend, nach oben. Im flackernden Schein der Taschenlampe glänzt Savios Rücken vor nassem Schweiß. Die Tropfen treffen mich, Tränen steigen in mir auf, Milchsäure sammelt sich in den Muskeln. Unter uns … ich bin wie gelähmt … Savio hat daran gedacht: Der Mann, der geschossen hat, er kann zum Schacht kommen, er kann uns hinterherklettern, hinaufschießen – ich werde dann die Kugel abbekommen. Savio hat an einem kleinen Absatz angehalten.
»Gib mir die Taschenlampe und kletter weiter«, sagt er. Er steckt die Lampe in den Mund. Ich klettere auf der Leiter schnell an ihm vorbei, nach oben. Savio schießt hinunter, einen Schuss. Hat er mehr? Ich klettere, denke nur an die nächste Sprosse. Und die nächste. Die nächste. Wenn ich nach oben blicke, sehe ich nur die Leiter, die Dunkelheit und die unförmigen Wände des Schachts im Schein von Savios Taschenlampe. Stufe für Stufe. Hinauf zur Welt. Meiner Welt. Schließlich sehe ich einen helleren Fleck über mir. Schweiß läuft mir in die Augen, den Hals hinunter, über die Rippen. Ein Fuß rutscht ab, baumelt ohne festen Halt, die Handflächen gleiten feucht über die glatt getretenen Sprossen, zu viel Schweiß. Ich presse den baumelnden Fuß an die Wand des Schachts und lasse die Sprosse los, um die Sprosse unter mir zu fassen zu bekommen. Hänge, bis ich spüre, dass ich bald einen Krampf im Arm bekommen werde – versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Halte mich mit dem Arm fest, noch immer einen Fuß auf der Sprosse. Führe die andere Hand hinunter, bis sie beide dieselbe Sprosse umfassen. Nehme langsam den Fuß von der Wand, bis er zurück zur Sprosse und dem anderen Fuß findet. Erhole mich einen Moment. Wische mir die Handflächen nacheinander gründlich an der feuchten Hose ab. Um mich herum flackert das Licht der Taschenlampe.
»Weiter!«, ruft Savio unter mir. Ich klettere automatisch, ein Arm, ein Bein, nach oben. Schließlich bin ich draußen und kann auf Händen und Füßen die letzten Meter kriechen, an denen der Schacht mit großen unförmigen Stufen beginnt. Savio lacht leise, als er an mir vorbeihumpelt. Ich rolle mich auf den Rücken. Atme schwer. Die Luft ist fantastisch. Starre an dem Halbdach vorbei auf die Sterne. Die Sterne. Den Himmel. Die Welt. Rückwärts krieche ich ein paar Meter weg von dem Loch, bevor ich mich aufsetze – ich habe eine absurde Angst, das Loch könnte mich aufsaugen, hinein in die Dunkelheit. Ich sehe mich fieberhaft nach Savio um. Ein Geräusch aus dem Schacht bringt mich dazu, mich flach auf den Boden zu werfen. Ich schaue auf die Öffnung, ahne eine Bewegung, einen dunkleren Fleck in der Nacht, dann ist es vorbei. Savio kommt zurück, bleibt stehen und hantiert mit irgendwelchen Gegenständen. Sprengstoff. Wenn er hinaufkommt, kann er uns töten – der Mann, der Moses heißt. Was kann ich tun? Vielleicht ist alles nur eine Sinnestäuschung? Vielleicht hat er gar keine Munition mehr. Ich stehe vorsichtig auf.
»Sollen wir den, den du erschossen hast, hinunterwerfen, bevor du sprengst?«, frage ich. Merkwürdig nüchtern jetzt. Mamas Stellvertreter liegt noch immer auf dem Platz und atmet mit gurgelnden Geräuschen.
»Die Leute sollen sehen, wie er stirbt«, erwidert Savio. »Geh zum Wagen.« Ich bewege mich langsam, die Glieder sind steif vor Milchsäure. Beine aus zähem, feuchten Holz.
Conte hat bei mamas Land Rover die Motorhaube geöffnet, um ihn anzulassen. Vor dem Zaun Geräusche.
»Verschwindet von hier!«, wird auf Swahili gerufen. Conte schaut mich an, als ich auf den Wagen zugehe.
»Sie haben keine Angst mehr«, sagt er. »Jetzt wollen sie uns töten, um selbst an die Mine zu kommen.« Draußen ertönt ein Schuss.
»Verschwindet, das ist nicht eure Mine!« Vor dem Tor stehen jetzt mehr Leute. Kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Savio kommt auf uns zugelaufen.
»Ans Steuer!«, befiehlt er Conte, der sofort gehorcht.
»Der Mann lebt noch. Hast du keine Angst, ihn liegen zu lassen? Er kann erzählen, dass du es warst«, gebe ich zu bedenken.
»Wir kommen jetzt rein!«, wird von draußen gebrüllt.
»Er stirbt bald«, gibt Savio zur Antwort, beugt sich mit dem Oberkörper über den Motor und hält ein paar Kabel in den Händen.
»Das kannst du nicht wissen«, erwidere ich.
»Setz dich ins Auto«, sagt er, während er mit einem Kabel in jeder Hand stehen bleibt. Er hält sie dicht aneinander, als würde er auf etwas warten.
»Vielleicht überlebt er.«
»Ich habe schon mal Tieren durch die Brust geschossen«, erwidert Savio. »Du kannst an der Atmung hören, dass die Lungen bald voller Blut sind.«
Aus dem Schacht ertönt ein gewaltiger Schlag. Der Explosion folgt das Rumpeln von Felsen. In diesem Moment führt Savio die Hände mit den Kabeln zusammen, der Motor springt an. Ich werfe mich auf den Rücksitz. Savio steht an der Wagentür und zündet ein Feuerzeug an – in seiner Hand eine Stange, eine Lunte, die angesteckt wird. Dynamit. Er wirft die Stange hinüber zum Tor, wo die Stimmen herkommen, und springt auf den Beifahrersitz. Er hält den Revolver in der Hand, das Fenster ist heruntergekurbelt. Conte legt einen Gang ein. Die Explosion am Tor: gewaltig, gefolgt von einem Schlackeregen. Conte setzt zurück, bremst, wechselt den Gang und gibt Gas. Wir rasen auf den Bretterzaun zu. Holz splittert, als wir ihn durchbrechen und durch die Schlackehaufen fahren, die im Licht der Scheinwerfer funkeln. In hohem Tempo fahren wir an Savios Mine vorbei, auf der Reifenspur in Richtung Dorf.
Savio legt den Sicherheitsgurt an. Er zieht seinen Gürtel aus der Hose und zurrt ihn um seinen Oberschenkel, wobei er leise auf Portugiesisch flucht. Ohne ein Wort zu sagen, fahren wir, bis wir uns Merelani Township nähern.
»Mama war ein Schwein«, sagt Conte plötzlich.
»Ja«, bestätigt Savio. »Die Jungs haben alles verdient, was sie von dort mitgenommen haben.«
»Wieso hast du ihren Stellvertreter erschossen?«, will ich wissen. Savio dreht sich um: »Weil er ihre Steine gestohlen hat.« Und Savio hat die Steine ihm gestohlen, aber das sage ich nicht.
»Aber sie war tot.« Savio dreht sich wieder in Fahrtrichtung und übertönt den Motorlärm: »Alle gehen davon aus, dass die Minenarbeiter stehlen. Das ist klar, schließlich bekommen sie ja keinen Lohn. Meine klauen auch. Aber seiner rechten Hand muss man vertrauen können, sonst ist man tot. Er wird für seine Loyalität bezahlt.«
»Loyalität kann man nicht kaufen«, wende ich ein.
»Nein. Darum habe ich ihn ja auch erschossen.« Ich sage nichts mehr, verstehe nichts. »Ich bin auch eine rechte Hand«, fügt er hinzu. »Ich musste ihn erschießen, um meinen Job zu behalten. Den Glauben an mich. Jetzt muss ich an ihren Fund. Dann kann ich aufhören.«
Ich zittere noch immer, es hört nicht auf. Conte dreht sich um und sieht mich an.
»Der mzungu kommt in Zaire nicht zurecht«, sagt er zu Savio. Wir fahren ein Stück weiter, ohne dass ein Wort gewechselt wird. Savio gräbt in seiner Tasche. Er dreht sich auf seinem Sitz um und reicht mir einen kleinen unförmigen Stein.
»Bitte sehr«, sagt er. »Willst du in die Branche?« Ich schüttele den Kopf. »Nimm ihn, er gehört dir.« Ich nehme den Stein. Spüre seine Oberfläche, wie verschrammtes, körniges Glas.
Savio entspannt sich und erzählt: »Als Gott die Welt schuf, versah er Afrika mit einem so wunderbaren Reichtum an Naturressourcen, dass die Engel protestierten: ›Warum bekommen die so viel?‹ Gott lachte die Engel aus. ›Bleibt entspannt‹, sagte er. ›Wartet’s ab, bis ihr die Menschen seht, die ich da hinsetze.‹« Conte grinst.
»Kweli«, sagt er – wohl wahr.
Wir fahren durchs Dorf zum Flughafen und von dort bis zur Hauptstraße, auf der sie mich absetzen wollen. Ich soll einen Bus anhalten, wenn es hell wird. Savio will zu einem Arzt in Arusha, den er kennt.
»Bist du okay?«, erkundigt er sich.
»Ja.«
»Afrika«, sagt er mit einem Achselzucken und einem Lächeln. »Sag Bescheid, wenn du ein paar Steine kaufen willst.«
»Okay«, sage ich, als Conte den Gang einlegt. Sie fahren.
Der Plan, eine Band mit Marianne als Sängerin zu gründen, ist gestorben, bevor er realisiert werden konnte. Der Gitarrist ist zu fromm, um für Leute zu spielen, die trinken, und ich finde keinen anderen. Ich bin froh, Marianne nichts davon erzählt zu haben.
In den ersten Tagen haben wir gerammelt wie die Karnickel. Wir sind mit Katriina und den Mädchen in den Tarangire Nationalpark und ins Tanzanite Hotel in Arusha gefahren. Wir stiegen bis zur Basishütte auf den Berg. Und wir sind nach Hause gefahren und haben wieder gerammelt wie die Kaninchen. Aber jetzt ist Schluss damit, und wir haben sonst nichts, was uns verbindet. Sie kommt und will reden.
»Was ist, wenn ich in einem UNO-Flüchtlingslager im Westen arbeiten könnte, würdest du mitkommen?« Ich wusste nicht einmal, dass es UNO-Flüchtlingslager in Tansania gibt. Aber es gibt ja ständig Ärger zwischen den Stämmen und Regierungen in Burundi, Ruanda, Uganda und Kongo.
»Ich bin eigentlich nicht hierhergekommen, um in einem Flüchtlingslager zu arbeiten. Für mich klingt das wie so eine Art Armutstourismus mit Feigenblatt.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst?«
»Doch, das sehe ich so.«
»Aber wir haben doch die Möglichkeiten, Christian. Es ist richtig, wenn wir helfen.«
Ich verstehe schon, was sie mit Möglichkeiten meint. Ich glaube, ich verstehe es besser als sie selbst. Wir haben das Organisationstalent, wir können die Dinge zum Laufen bringen.
»Und wovor willst du die armen Neger retten?«
»Vor dem Hungertod. Ich will ihnen helfen, wieder heimzukehren.« Sie werden geschlachtet, wenn sie zurückkehren – sie sind geflohen, um zu leben. Was glaubt sie eigentlich, wer sie ist?
»Wir sind in ihrem Zuhause«, erkläre ich. »In Afrika. Sie leben so. Daran kannst du nichts ändern.«
»Selbstverständlich kann ich … Man kann etwas tun. Die UNO kann eingreifen und die Flüchtlinge beschützen, die zurückkehren. Und dabei möchte ich gern helfen.«
»Mutter Teresa. Bis zu den Knöcheln in der Scheiße. Typhus, Malaria, Bilharziose, Würmer, Unterernährung, falsche Ernährung, ethnische Säuberungen, juju-Scheiß – und du meinst, das ist es?«
»Und was machst du?«, fragt Marianne spöttisch zurück. »Spielst Reggae-Platten. Und was hilft das?«
»Mehr als die UNO.« Ich gehe ins Freie, setze mich aufs Motorrad und fahre nach Majengo. Trinke Bier in einer Bar. Verflucht, wie weiß sie ist.
Am folgenden Tag bin ich mittags in der Garküche hinter Tanesco. Rachel ist nicht da. Ich frage das Mädchen, das bedient, nach ihr.
»Mimi sijui«, sagt sie – ich weiß es nicht. Ich frage die mama.
»Huyo Rachel, sio mzuri – mimi siyui yoko wapi.« Diese Rachel ist nicht gut, ich weiß nicht, wo sie ist.
»Tsk«, sage ich nur.
Marcus
ZIEGENSTEUER
Der IRS-Mann kommt zu Roots Rock. Internal Revenue Service – der Steuerteufel.
»Eine Cola«, sagt er, und Patricia springt wie ein Floh. Meine Welt ist zu klein für Steuern, aber der Kiosk an der Uru Road, der Kopierladen und Patricia mit ihrer gebrauchten Kleidung vor dem Geschäft stechen dem Steuerbeamten wohl allmählich ins Auge. Ich lade ihn rasch in den Hof hinter dem Kaufmann ein, kaufe ihm Bier und nyama choma.
»Wir müssen herausfinden, wie viel Steuern du bezahlen musst«, sagt er.
»Der Umsatz ist sehr klein.«
»Zeig mir die Bücher«, sagt er.
»Der Umsatz ist zu klein für Bücher.«
»Du kannst ins Gefängnis kommen, wenn es keine Bücher gibt«, sagt er.
»Ich habe Bücher, aber sie liegen zu Hause.«
»Dann musst du sie holen«, sagt er.
»Im Moment kann ich mein Geschäft nicht gut verlassen. Aber ich kann heute Abend zu Ihnen nach Hause kommen.«
»Was soll ich mit deinen Büchern in meinem Haus«, sagt er.
»Ich werde Ihnen ein kleines Geschenk für die Unannehmlichkeit machen, dass ich Sie zu Hause störe.«
»Wie klein ist dieses Geschenk?«
»In der Größe von drei Hühnern – bereit für den Topf.«
»Nein, die Größe ist eine Ziege«, sagt er und sieht mir direkt in die Augen, während er mir seine Adresse gibt.
Den Rest des Tages bin ich ein Mann, der herumläuft, um eine Ziege zu kaufen, und am Abend bin ich ein Mann, der einen besonders hohen Preis dafür bezahlt, um eine Ziege in einem Taxi nach Kiborloni zu bringen, wo der Steuermann sein Haus gebaut hat. Mit viel Platz für Geschenke in seinem Garten, der voller Hühner, Ziegen und stinkender Schweine ist.
Christian
Zuerst gehe ich ins Kibo Coffee House. Ich rauche eine Zigarette nach der anderen und trinke Eiskaffee. Ich muss mir etwas überlegen, wie wir den Laden in Schwung bringen können. Wir verdienen zu wenig, und ich bin mit Savio und den Tansanit-Steinen keinen Schritt weitergekommen. Ich brauche Geld, um die Fracht für die Anlage des Hasseris Gymnasiums bezahlen zu können. Sonst läuft hier gar nichts. Und ich brauche einen Ort zum Wohnen. Katriinas Gastfreundschaft ist allmählich verbraucht. Oder wie man auf Swahili sagt: Nach drei Tagen fangen die Gäste an zu riechen. Sie hat bisher nichts gesagt, aber … Natürlich ist sie mit Vater einer Meinung, dass ich in Dänemark sein sollte, um etwas zu lernen. Und nun habe ich die Hälfte der Zeit auch noch Marianne im Nacken. Wir sollen die Neger vor ihnen selbst retten. Blödsinn. Im Augenblick scheint alles ein wenig schwierig. Ich trinke aus, bezahle. Gehe zu Roots Rock.
Rachel! Rachel sitzt auf einem Stuhl neben dem Kühlschrank des Kaufmannsladens. Hier arbeitet sie jetzt. Sie steht auf, als sie mich sieht. Lächelt.
»Hej, was machst du hier?«, fragt sie. »Ich dachte, du wärst fort.« Sie nimmt meine Hand. Hält sie locker mit ein paar Fingern – tansanische Gewohnheit, wenn man sich von Mann zu Mann unterhält. Mädchen machen es eher selten.
»Ich komme, um dich zu sehen«, antworte ich und schaue sie mir von oben bis unten an. Sie lacht. »Ich hoffe, du hattest nicht allzu viele Probleme mit deinem Freund«, füge ich hinzu.
»Meinem Freund? Was meinst du?«
»Als ich dich den Abend im Liberty traf«, sage ich.
»Ach so.« Sie schaut auf den Fußweg, ein wenig verlegen, scheint mir. »Nein, er ist nicht mein Freund. Ich habe keinen Freund.« Sie lächelt mich an.
»Gut«, sage ich und schaue auf ihre Hand. Die Nägel sind goldbraun gefärbt. Ich lasse meine Finger darübergleiten. »Was ist das?«
»Eine Henna-Tätowierung.«
»Und wie macht man das?«
»Es besteht aus Rinde, die zu Pulver zerstampft wird, und dann mischt man das Pulver mit Tee, damit es feucht wird. Danach lässt man es eine Weile in die Nägel einwirken.«
»Das ist mwafrika Nagellack«, sage ich. Sie kichert, hebt meine Hand und zeichnet mit einem Finger Muster in meine Handfläche.
»Man kann es auch dazu benutzen, Muster auf die Hände oder die Finger zu malen, so, wie es die Inder machen«, erklärt sie.
Katriina fährt in ihrem Nissan Patrol vorbei – auf dem Beifahrersitz Marianne. Ich glaube, Rachel weiß nichts von Marianne. Es sei denn, sie hat gehört, dass ich mit einem weißen Mädchen in der Stadt gewesen bin. Aber das könnte auch meine Schwester oder jemand ganz anderes gewesen sein.
»Bis bald«, verabschiede ich mich von Rachel, lasse ihre Hand los und gehe zu dem Wagen, der am Straßenrand hält. Katriina sieht mich nicht an, sagt nichts. Das Auto steht, aber Marianne öffnet die Tür nicht. Auch sie schaut stur geradeaus. Ich halte ihr die Tür auf. Marianne steigt langsam aus und schließt die Tür, wobei sie sich zu dem offenen Seitenfenster hinunterbeugt und »bis bald« sagt, bevor Katriina losfährt. Dann geht Marianne zum Clocktower-Kreisel, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
»Was ist?«, rufe ich und gehe ihr nach.
»Ich habe euch genau gesehen.«
»Wen hast du genau gesehen?«
»Dich und … dieses Mädchen.«
»Sie heißt Rachel«, sage ich, »Jemand, die ich kenne.«
»Ja, das glaube ich dir gern.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe genau gesehen, wie du ihre Hand gehalten hast.«
»Jetzt hör mal zu. Sogar Männer halten sich hier an den Händen, wenn sie spazieren gehen oder sich unterhalten. Das ist kein Vorspiel für Sex.«
»Ja. Und die Frauen halten sich auch an den Händen. Aber nicht Männer und Frauen.«
»Manchmal schon, es kommt vor.«
»Tja, das sehe ich.«
Marcus
DER FALSCHE TOURIST
Die Leute von der Einwanderungsbehörde kommen in den Laden.
»Wo ist dieser mzungu?«, fragt der Mann.
»Der mzungu? Ich glaube, bei seinem Vater und seiner Familie.«
»Aber er arbeitet mit dir zusammen. Wann kommt er?«
»Nein, nein, nein, er arbeitet nicht. Er ist nur Gast seines Vaters. Und er ist auch mein Gast. Und der Vater lebt hier – er arbeitet für Nordic Project. Sie haben viele Jahre hier gewohnt.«
»Aber der junge mzungu ist kein richtiger Tourist«, sagt der Mann. Und die Frau erklärt: »Wir sehen ihn hier jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend. Er kommt im Auto, er holt Kisten, und er bringt Kisten. Das ist ein Geschäft.«
Das Immigrationsbüro liegt genau gegenüber an der Boma Road, das Personal isst in der gleichen Garküche wie Christian. Selbstverständlich betrachten sie ihn als wandelnde Geldbörse. Wie viel kann er bezahlen, damit sie seine Rechtswidrigkeit vergessen?
»Nein, er ist nur mein Freund«, sage ich. »Er leiht mir seine Langspielplatten, damit ich besser arbeiten kann und mein Leben einfacher wird.«
»Du lügst«, sagt der Mann. »Und du wirst an dem weißen Burschen keine Freude haben. Du bist selbst ein Verlierer. Und er muss Steuern bezahlen.«
»Nein, nein, nein, nein. Er ist zu Besuch hier. Er ist hier mit einem Touristenvisum.«
»Wir behalten dich im Auge«, sagt die Frau, dann gehen sie.
EUROPÄISCHE LIEBE
Christian soll auf den Berg, um auf einer Hochzeit Disco zu spielen. Aber ich kann nirgendwohin, denn meine Tochter ist ein Sack aus Haut und Knochen. Ich kann nur im Roots Rock sitzen, Kassetten für wazungu-Kinder auf der ISM überspielen und an Christians Ehrlichkeit zweifeln. Seine weiße Geliebte, Marianne, kommt zur Tür herein.
»Wie geht’s?«, frage ich sie.
»Geht so«, antwortet sie und kauft jedem von uns eine Cola. Sie setzt sich, raucht viele Zigaretten, ist unruhig.
»Bist du gern hier?«, frage ich. Sie zieht an der Zigarette, seufzt, guckt mich an und sagt: »Was macht Christian hier? Was will er? Im Leben … sag es mir geradeheraus, du kennst ihn doch.«
Aber ich bin auf der Hut und sage, sie müsse warten, er würde es schon hinkriegen, er wird es richtig machen.
»Gib ihm eine Chance«, sage ich. Aber sie überhört meine Antwort: »Es gibt da ein Mädchen, in das er verliebt ist. Ich kann es an seinen Augen sehen, ich kenne ihn. Er ist scharf auf sie. Ich spüre es, wenn wir uns lieben.«
Dieses Mädchen ist Rachel, die Kellnerin aus der Garküche. Und ich weiß, dass Marianne die Wahrheit sagt. Was kann ich ihr antworten? Christian ist der hungrige Fisch, und das schwarze Mädchen benutzt einen guten Köder. Und Christian glaubt, er sei Afrikaner, der versteht. Aber das mswahili-Mädchen ist eine malaya – nur von einer anderen Sorte: Die Mädchen, bei denen du nicht glauben willst, dass es sich um malaya handelt, sind die größten malaya von allen. Und nun kommt dieser mzungu, der in einem großen neuen Auto fährt, aber niemand sieht, dass es das Auto seines Vaters ist, und er hat hundert Dollar in seiner Tasche – damit wedelt er in Tansania herum, umgerechnet in Schilling ist es ein Vermögen. Das schwarze Mädchen sucht nach einem Ticket. Rachel würde alles für ihn tun. Marianne kann kaum weinen, so traurig ist sie. Sehe ich in ihre Augen, fühle ich mich fast an damals erinnert, wenn ich in den alten Zeiten zu Jonas Larssons Pumpenfabrik Katriina ansah.
Christian
Sie hat fast schulterlanges Haar; die Krause ist ausgekämmt, aber nicht geglättet – das kann sie sich vermutlich nicht leisten. Sie trägt es aufgesteckt, so wie sie es bei Amerikanerinnen im Film gesehen hat. Manchmal hat sie Vaseline im Haar, damit es glänzt. Aber ich habe auch schon gesehen, dass sie ihr Haar wie Kornähren flicht. Wenn sie sich nicht frisiert hat, trägt sie eine umgedrehte rote Baseball-Kappe oder ein Piratenkopftuch. Ihre T-Shirts sind immer sehr kurzärmelig, einige haben ein paar Knöpfe vorn oder einen Kragen. Ich habe sie auch schon mit einer kanga gesehen, die sie sich um den Körper geschlungen hat. Meist läuft sie jedoch in Hosen herum, in allen möglichen Hosen: Jeans, Leinenhosen, dunkle, nadelgestreifte Gabardinehosen. An den Füßen: Flipflops oder vornehme Ledersandalen mit Perlenstickereien, die sie von ihrem älteren Bruder bekommen hat, bevor er starb. Sie besitzt sicher auch ein paar hochhackige Schuhe für die Kirche am Sonntag. Ohrringe, eine Halskette aus dunklen Glasperlen, zwei schlichte Armbänder am rechten Arm, keine Uhr. Rachel trägt Nagellack, der ein wenig abgeplatzt ist – ein dunkles Pink, auch an den Fußnägeln. Ihre Fingernägel sind lang, sehr gebogen und hart. Sie hat eine stattliche Figur und ein ausdrucksvolles Gesicht: eine ausgeprägte Kieferpartie, einen großen Mund mit vollen Lippen, ohne dass sie aufgepumpt wirken, kräftige weiße Zähne, eine kleine feine Nase, schräge Katzenaugen, die lebhaft und schnell sind und ganz plötzlich auf eine sehr erotische Weise träge werden können. Sie hat starke Arme und starke Hände, nicht zu groß, aber mit muskulösen Fingern. Ihre Brüste sind groß und prall, sie hüpfen ein wenig unter dem T-Shirt. Sie hat eine Taille, sieht aber nicht aus wie eine Cola-Flasche, dazu ist sie zu kräftig. Der Hintern ist ebenfalls so prall, wie er sein soll, ohne breit zu wirken, die Hinterbacken wippen, wenn sie geht. Sie hat feste und gleichzeitig weiche Schenkel, muskulöse Schienbeine und kurze, breite Füße. Sie ist nicht dick, es gibt kaum Fett an ihr – es sind alles Muskeln. Rachel ist eine richtige mswahili.
Sie redet mit vielen Männern. Das ist notwendig, wenn man vor dem Kaufmannsladen den Leuten Limonade aus dem Kühlschrank verkaufen will. Sie müssen sie dort trinken, denn sie dürfen die Flaschen nicht mitnehmen; also stehen sie da und reden. Auch ich stehe da und rede.
»Woher stammst du?«
»Galambo, das liegt an der Küste, in der Nähe von Tanga«, antwortet sie. »Ich bin mswahili.«
»Bist du Muslimin?«
»Mkristo. Wie du.« Ich trinke ziemlich viel Limonade bei diesem Kaufmann.
Marcus’ Tochter Rebekka ist todkrank. Abgemagert, dehydriert, entkräftet. Er hat mir mal erzählt, er sei mit vielen Frauen zusammen gewesen, nachdem er den Unfall und den Aufenthalt im KCMC überlebt hatte. Er sagt, die Ärzte könnten bei Rebekka nichts finden. Ich glaube, es ist eine Lüge. Ich bin sicher, dass es Aids ist, aber er würde es nie zugeben, denn die Krankheit ist total tabuisiert.
»Hast du einen HIV-Test machen lassen?«
»Tsk«, erwidert Marcus. »Alle Tests wurden an dem kleinen Baby durchgeführt, sie wissen nicht, was ihr fehlt.« Vielleicht ist es gelogen. Wenn jemand kranke Familienangehörige hat, werden sie zu Hause versteckt, und es heißt, sie hätten Malaria, denn daran kann man auch sterben, wenn man Pech hat. Jedenfalls kann Marcus an den Abenden, an denen ich im Shukran Hotel auflege, nicht helfen. Und allein schaff ich es nicht. Der Besitzer verlangt, dass ich einen Mann bereitstelle, der aufpasst, wer reinkommt, und an der Tür den Eintritt kassiert. Rogarth springt ein. Er will lieber mit mir arbeiten als für den mabwana makubwa im Moshi Hotel zu springen.
Im Laufe des Vormittags komme ich zur Dienstbotenwohnung von Katriina. Meinem Zimmer. Marianne ist noch immer da, sie sitzt an dem kleinen Schreibtisch, liest in irgendwelchen Papieren und macht sich Notizen auf einen Block; das Haar stramm zu einem Pferdeschwanz gebunden – Typ Schullehrerin.
»Hej«, grüße ich. Sie wendet sich nicht um, sagt nur: »Wo bist du gewesen?«
»Du bist nicht gekommen.«
»Du hast gearbeitet. Ich habe keine Zeit, nur dazusitzen und dich bewundernd anzustarren, während du Platten umdrehst.«
»Es war Samstagabend, ich dachte, wir wollten in die Stadt.«
»Du willst doch gar nicht mit mir in die Stadt«, erwidert Marianne, ohne sich mir zuzuwenden.
»Wovon redest du?«
»Du bist genau … genau wie Jonas.« Ich habe ihr natürlich von Jonas erzählt, auch von Katriina und meinen Eltern. Damals, als wir uns auf dem Hasseris Gymnasium kennenlernten.
»Wieso bin ich genau wie Jonas?«, frage ich sie. Jetzt dreht sie sich auf dem Stuhl um, ihre Augen sind geschwollen. Sie hat geweint. Sie ist hässlich.
»Hältst du mich für eine Idiotin? Ich rede auch mit Leuten, während du durch die Gegend ziehst und deiner … Arbeit nachgehst. Jonas hat mit allen außer Katriina geschlafen, Hauptsache, sie waren jung und schwarz.«
»Ja. Das hat er getan. Und fange an zu glauben, dass der Mann vielleicht sogar recht hatte.«
»Hast du deine kleine Freundin getroffen?«
»Nein, habe ich nicht. Sie heißt Rachel.«
»Aha. Sie ist gestern Nachmittag übrigens vorbeigekommen.«
»Ach ja?«
»Issa hat sie fortgeschickt. Weißt du, was er über sie gesagt hat?«
»Nein, aber ich bin sicher, du wirst es mir gern erzählen.«
»Er sagt, sie ist ein schlechtes Mädchen, das nur hinter dem Geld her ist.«
»Ja«, sage ich. »Obwohl der alte Issa schwarz und halb taub ist, ist er in seinem Kopf noch immer so kolonialisiert, dass er meint, die Weißen wären etwas Besseres als die Schwarzen.«
Den Rest des Tages ist die Stimmung schlecht, bis wir abends eine Runde Golf spielen und einen Joint rauchen. Als wir nach Hause kommen, will sie vögeln. Und ich lecke ihr die Möse, stecke ihr einen Finger in den Hintern, sauge an ihren Brustwarzen, kitzele sie mit der Zunge hinter den Ohren, sage ihr, sie wäre hübsch, und ich wäre geil auf sie – den ganzen Mist. Ich brauche nicht zu zählen, sie berührt mich nicht ein einziges Mal. Ich hätte ebenso gut Sex mit einer Pappschachtel haben können, die draußen im Regen gestanden hat.
Montagabend fahre ich zum CCM-Gebäude am Clocktower-Kreisel. Big Man Ibrahim trainiert seine Karateklasse jeden Tag von sieben bis neun.
»Bist du bereit zum Training?«, fragt er.
»Ich bin nur gekommen, um die Leute zu treffen, von denen du erzählt hast.«
»Du trainierst mit«, entscheidet er, stellt sich vor die zwölf, vierzehn Jugendlichen und fängt an, Befehle zu erteilen.
»Ich heiße Khalid«, sagt einer der Burschen. »Wenn du nicht mittrainierst, wird er nie wieder mit dir reden.« Ich trainiere mit. Uns fließt der Schweiß. Hartes physisches Training. Hinterher grinst Ibrahim mich an und ruft einen Burschen, der Abdullah heißt. Ich werde ihm vorgestellt. Abdullah ist beinahe ebenso groß wie Ibrahim. Ich frage ihn, ob er Freitag und Samstag im Shukran Hotel als Rausschmeißer arbeiten will. Gern. Ich gehe zu meinem Motorrad. Der Junge, der Khalid heißt, läuft mir nach.
»Wollen wir eine Cola trinken?«, fragt er.
»Einverstanden.«
»Ich bin bei deiner Disco im Shukran Hotel gewesen. Du hast fantastische Musik.«
»Danke.«
»Du musst wissen, dieser Abdullah – er ist ein sehr gefährlicher Mann. Er ist gerade aus dem Knast gekommen, nach zwei Jahren. Karanga Prison«, erzählt Khalid vertraulich.
»Weshalb hat er gesessen?«
»Mord. Das wissen alle.« Khalid nickt ernst. Ein guter Ruf für einen Rausschmeißer. Der Mann dürfte kaum jemanden ermordet haben, wenn er nur zwei Jahre abgesessen hat.
»Spring hinten drauf«, fordere ich ihn auf. Wir fahren zum Shukran Hotel und trinken vor der Tür eine Cola.
»Ich könnte auch viel für dich tun, wenn du eine Disco veranstaltest«, sagt Khalid.
»Hast du auch im Gefängnis gesessen?« Er lächelt, und wir klatschen die Handflächen gegeneinander. Er hält eine Hand hoch.
»Nein, aber ich habe die todbringende Waffe von Big Man Ibrahim.«
Ich fahr auch am nächsten Abend ins CCM-Gebäude. Zwei Stunden Tortur unter Ibrahims Anleitungen. Hinterher frage ich ihn nach Abdullah.
»Nein, nein, nicht Mord«, wehrt Ibrahim ab. »Die Anklage war gelogen. Aber Abdullah hatte kein Geld, um den Richter zu schmieren, also saß er zwei Jahre und wartete auf sein Verfahren. Und am ersten Tag vor dem Richter wurde die ganze Sache im Gericht niedergeschlagen, weil es keine Beweise gab.« Ibrahim lacht laut.
»Zwei Jahre für eine Lüge«, sage ich.
»Ja. Die Methoden in Tansania – sehr kompliziert.«
Endlich sieht es so aus, als hätte Marianne es aufgegeben, aus mir einen guten Menschen machen zu wollen. Sie will auf eigene Faust aufbrechen: »Ich werde mit ihnen reden. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.«
»Okay«, sage ich. Sie will nach Arusha, um dort mit einem UNO-Büro zu reden, und dann nach Kampala, um mit einem anderen UNO-Büro zu sprechen – alles dreht sich um Flüchtlinge und Vertriebene in Lagern. Sie will diese Menschen retten. Sie ist weiß, es ist ihre Schuld, wenn diese Menschen leiden müssen. Ich fahre sie morgens zur Busstation. Bin froh, als ich sehe, wie der Bus verschwindet.
Marcus
GOTTES STRAFE
Eines Abends klopfen ein Mann und eine Frau aus Claires Kirche bei mir an. Der Mann redet wie ein Teufel: »Es ist die Strafe Gottes, weil ihr nicht verheiratet seid. Wenn ihr heiratet, könnt ihr das Kind vielleicht noch retten. Wenn das Kind jetzt stirbt, kommt es nicht in den Himmel, und auch ihr werdet nicht in den Himmel kommen, weil ihr in Sünde lebt.« Claire weint.
Der Mann öffnet seine Bibel und liest: »So spricht der Herr: Siehe, ich will Unheil über dich kommen lassen aus deinem eigenen Haus – Das zweite Buch Samuel, 12,11.«
»Komm in unsere Kirche«, sagt die Frau zu mir.
»Ich bin Katholik. Ich kann meine Kirche nicht verlassen, und Claire will ihre nicht verlassen.«
»Ihr bringt die Seele des Kindes in Gefahr«, sagt der Mann.
»Was ist, wenn wir bei der Stadtverwaltung verheiratet werden?«, will Claire wissen.
»Die Stadtverwaltung kann gegen die Kraft des Teufels nichts ausrichten«, sagt der Mann. Claire will in Wahrheit auch gar nicht zur Stadtverwaltung, sie will in die Kirche. Und sie vertraut meiner Kirche nicht, aber ich finde, ihre Kirche ist nicht besser als meine – ich finde, es sind alles Kirchen. Die Idee stammt aus demselben Haufen Knochen.
»Marcus mischt sich nicht in meinen Glauben ein. Ich will mich auch nicht in seinen einmischen«, sagt Claire, um unsere Position zu verteidigen – wir können nicht in zwei Kirchen gleichzeitig heiraten. Und ich, ich weiß, dass Kirchen von Menschen begründet wurden, Menschen wie mir. Sie sind alle falsch.
»Ihr müsst dieses Kind taufen lassen. Vielleicht könnt ihr so das Böse ausmerzen und das Kind vor der ewigen Verdammnis retten«, sagt die Frau.
»Wir haben euch gehört«, sage ich. »Jetzt müssen wir ins Bett. Wir haben ein krankes Kind. Und wir müssen morgen früh arbeiten.«
»Aber vielleicht …«, sagt Claire, als sie gegangen sind.
»Das sind nur Lügen«, sage ich. »Ein Kind kann nicht böse sein. Wir sind nicht böse. Gott liebt seine Kinder.«
»Die bösen Gedanken der Hexe sind auf das Kind übergegangen. Nur Gott kann sie wieder nehmen«, sagt Claire. Ich könnte ihr erklären, dass Hexen in ihrem Glauben eigentlich keinen Platz haben, aber ich bin zu müde.
Am nächsten Morgen fängt Claire wieder an. »Wir müssen das Kind taufen lassen.« Ich stimme zu.
Zwei Tage später sind wir in ihrer Kirche und taufen unsere Tochter Rebekka, obwohl sie kaum noch eine Tochter ist, sondern nur noch aus Haut und Knochen besteht. Wir flößen ihr mit einem Teelöffel Zuckerwasser ein, aber sie erbricht sich – aus ihrem Mund strömt ein Geruch nach Verwesung, während in den Augen leere Verzweiflung steht.
Ich gehe ständig ins KCMC, die Ärzte finden nicht heraus, was ihr fehlt. Bis zum letzten Tag; es ist der Tag, an dem von Rebekka Röntgenaufnahmen gemacht werden sollen, außerdem ein Ultraschallscanning, alles eben – damit wir eine endgültige Auskunft der Ärzte bekommen. Claire soll sie ins KCMC bringen. Ich gehe, um mich an der Bar zu vergessen. Ein Geschrei weckt mich.
»Marcus, Marcus – Rebekka atmet nicht mehr!« Es ist Claires Freundin. Ich renne nach Hause. Claire steht über das Sofa gebeugt und schreit; sie drückt ins Sofa – auf Rebekkas Brust.
»Es ist der Satan!«, schreit Claire. »Rhema hat meinem Kind den Satan geschickt.« Ich umarme Claire. Sie schluchzt. Dort liegt meine Tochter. Still.
»Wir waren auf dem Weg zum Bus, aber plötzlich atmete sie nicht mehr«, sagt die Freundin.
Wir gehen ins Krankenhaus, um einen Totenschein ausstellen zu lassen, dann zur Kirche, um das Begräbnis zu arrangieren. So viel Bewegung wegen eines steifen Stück Fleischs. Abends kommen die Leute der Kirchengemeinde wieder.
»Du musst unserer Kirche beitreten«, sagen sie zu mir. »Das Böse, das passiert ist, liegt daran, dass ihr nicht verheiratet und nicht gemeinsam in der richtigen Kirche seid.«
Ich sage nichts. Ich will das Begräbnis überstehen, hinterher werden sie meine Antwort bekommen.
»Marcus, du musst erlöst werden. Schau auf die Dinge, die geschehen sind«, sagt der Kirchenmann.
»Aber es waren böse Geister«, erklärt Claire ihnen. »Eine Hexe hat Rebekka satanische Medizin gegeben und sie mit dem bösen Blick bedacht.«
»Ihr könnt die bösen Geister nur bekämpfen, wenn ihr erlöst seid«, sagt der Kirchenmann. »Es sind die bösen Geister der Vorfahren, die unzufrieden sind und euch nun bestrafen.«
Ich will sie aus dem Haus haben. Wie können Gottesmänner denn von den Geistern der Vorfahren reden? Das ist Ketzerei. Ich sage ihnen, ich würde darüber nachdenken. Sie gehen und glauben, sie hätten mich bereits in der Tasche.
»Du musst jedenfalls am Sonntag mit in die Kirche kommen«, sagt Claire.
»Ich vertrete mir noch ein wenig die Beine«, sage ich und nehme meine Zigaretten. Claire beginnt sofort zu heulen: »Deine Kirche ist die Bar. Aber Gott wohnt nicht in Flaschen.«
»Doch, mein Gott wohnt dort, und wenn ich die Flasche austrinke, fließt Gott in meinen Körper.« Ich gehe. Es ist dumm, so mit Claire zu reden, aus reiner Irritation über diese kirchlichen Trottel, die ich mit einem Knüppel hätte verprügeln sollen.
WEISSER ERNST
In der Stadt organisiere ich alles: Schmiergeld für den Priester, damit er seine Arbeit erledigt, einen Sarg von den Tischlern der Imara Möbelfabrik, Snacks für die Gäste nach der Zeremonie. Nach meinen Anstrengungen mache ich bei Bier und Konyagi eine Pause in der Stereo Bar. Ein großer Kerl kommt auf mich zu, setzt sich an meinen Tisch und lehnt sich zu mir hinüber.
»Du kannst deinem mzungu sagen, er soll sich von Rachel fernhalten«, sagt der Kerl.
»Wer bist du?«
»Tito«, sagt er.
»Du kannst es ihm selbst sagen.«
»Wenn er die Finger nicht von ihr lässt, füge ich ihm Schaden zu«, sagt Tito.
»Schaden?«
»Ja, Schaden.«
»Er ist nicht mein mzungu«, sage ich. »Ich habe nicht darüber zu entscheiden, ob er einem Mädchen nachläuft.«
»Jetzt hör mir mal zu, was ich dir sage«, sagt Tito. »Wenn du nicht …« Ich unterbreche ihn: »Nein. Meine Tochter ist gestern gestorben und wird morgen begraben. Du bist mir egal. Mir sind deine Drohungen, der mzungu und das Mädchen egal. Geh.«
»Ich habe dich gewarnt«, sagt Tito und steht auf.
»Tsk«, sage ich.
Die ganze Familie kommt zum Begräbnis: Solja, Rebekka, die Namensvetterin meiner toten Tochter, Katriina, bwana Knudsen. Im Leben bedeuten sie mir nichts mehr, aber im Tod stehen sie an meiner Seite. Auch Christian kommt. So viel versteht er doch vom afrikanischen System. Lässt er mich bei dem Begräbnis im Stich, schafft er böses Blut zwischen uns. Mit einer Sonnenbrille verbirgt er seinen Abscheu über die schreiende Hysterie der afrikanischen Frauen am offenen Grab; für den Weißen hat unsere Trauer etwas Primitives und Barbarisches.
Katriina legt mir ihren Arm um die Schulter.
»Jetzt hat die kleine Rebekka ihren Frieden gefunden, Marcus«, sagt sie.
»Frieden? Wenn weiße Kinder sterben, bekommen sie Flügel und werden Engel im Himmel. Schwarze Kinder werden Fliegen.«
»Das darfst du nicht sagen, Marcus.«
»Deshalb gibt es Fliegenklatschen.«
»Nein.« Katriina schüttelt den Kopf. Ich schaue sie an: »Erfunden von einem weißen Mann.«
GOTTES DISKOTHEK
»Wir haben gerade genug, um uns die Ausrüstung schicken zu lassen«, sagt Christian. »Aber wir können unmöglich fünfundsechzig Prozent Importsteuer bezahlen.«
»Gibt es keine wazungu, die sich mit Ostermann Carlsberg schicken lassen? Die Ausrüstung könnte doch mit derselben Sendung aus Dänemark kommen?«
»Nein, es gibt jede Menge Bier aus Arusha, und im Augenblick kommen keine neuen wazungu. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
»Ich habe eine Idee«, sage ich und nehme Christian mit zum Bischof – Claires Bischof der Pfingstkirche in Majengo. Denn die Kirche bezahlt weder Abgaben noch Steuern oder Zoll. Gott ist von so was ausgenommen. Ein alter Norweger ist Mitglied der Kirche, er hat eine Einheimische geheiratet und importiert eine Menge Sachen aus Norwegen. »Er kann das organisieren, ohne dass wir Importabgaben bezahlen müssen. Du müsstest ihn nur für die Unkosten hier vor Ort bezahlen.«
Der Norweger hat ein kleines Büro im Haus des Bischofs.
»Muss ich wirklich dabei sein?«, fragt Christian vor der Kirche. Manchmal denkt der weiße Junge wie ein Analphabet aus dem Dorf.
»Ja – die Kirche muss unser Licht am Horizont sehen, um uns zu helfen. Du musst dem Bischof versprechen, jederzeit bereit zu sein, etwas für ihn zu tun. Vielleicht wollen sie die Anlage mal für eine Predigt nutzen – dann bekommen sie sie gratis oder immer sehr billig. Zeig ihnen einfach, dass du für sie da bist, dann ersparen wir uns den Zoll.« Und Christian sagt genau, was ich gesagt habe. Es funktioniert, sie wollen helfen.
UPRISING
Claire liegt auf dem Bett und starrt die Wand an. Sie ist bei all den Sorgen sehr dünn geworden. Vielleicht hat sie sich entschlossen zu sterben, wie eine eigensinnige Eingeborene.
»Ach, zum Teufel!«, sage ich. Immerhin, Schritt für Schritt fangen wir an, uns wieder zu bewegen. Wir setzen alles daran, um die notwendige Energie zur Arbeit wiederzufinden.
Abends, als Claire schläft, nehme ich den Schuhkarton mit meinen privaten Papieren zur Hand. Er steht in einem abgeschlossenen Schrank. Nur ich habe den Schlüssel. Und ich wühle mich durch bis zum Boden, öffne den Umschlag und ziehe das Foto heraus. Mein Schokoladenbaby. »Das ist gut«, sage ich zu dem Baby, das jetzt drei Jahre alt ist. »Du bist in Finnland, du wirst groß und stark und hübsch. Bleib gesund und geh in die Schule. Du bist meine Abgesandte, meine Agentin in dem weißen Land.« Und ich sehe mir Tita und das Baby an, ich halte das Foto ein Stück von mir entfernt, damit es nicht nass wird von den Tropfen.
Claires Freundinnen aus der Kirche fangen wieder an, uns zu besuchen.
»Ohhh, satanisch«, flüstern sie, wenn sie meine fünf Fotos von Bob Marley sehen, die im Wohnzimmer zusammen mit Haile Selassie und einem Foto von Claire und der kleinen Rebekka, als sie noch hübsch und rund war, eingerahmt hinter Glas hängen. Jesus blutet am Kreuz, aber nicht bei mir zu Hause. »Wie kannst du mit diesen Bildern leben?«, fragen sie Claire vorsichtig.
»Jeder hat seinen Gott«, sagt sie. Und sie findet, Bob kann man durchaus ansehen. Man weiß, wo er steht, und er klingt immer gut. Nur wenn ich die Bar zu meiner Kirche werden lasse, und Bier zu meinem Gott, findet Claire das nicht gut.
Claire erweist sich als stark. »Wir brauchen spektakuläre Waren im Kiosk und bei Roots Rock, um Kunden anzuziehen«, sagt sie.
»Und woher sollen wir diese Waren nehmen?«
»Aus Kenia.«
»Aber wir haben weder Kenia-Schillinge noch die Möglichkeit, uns welche zu beschaffen.«
»Wir müssen Batik herstellen«, sagt sie und kauft Stoff, Wachs, Farbe und alle anderen Zutaten. Sie hat es bei einer Frau gelernt, die ihre Mutter kennt. Die Chemikalien stinken im ganzen Haus, aber das Resultat ist eine Farbexplosion.
NIEMANDSLAND
Die Grenze nach Kenia ist aus politischen Gründen geschlossen, weil die Ökonomie Tansanias von mwalimu Nyereres Träumen vom Sozialismus so ruiniert ist, dass alles zusammenbrechen würde, wenn wir die Konkurrenz der soliden kenianischen Waren bekämen. Aber es gibt den Markt im Niemandsland an der Grenze Holili-Taveta, wo wir den Kenianern unsere Batik verkaufen können. Und wenn wir zurückkommen, müssen wir fünfundsechzig Prozent Zoll auf alle kenianischen Waren bezahlen, die wir gekauft haben. Aber wir können auch schmuggeln.
Claire packt unser großes Bündel Batik zusammen, und wir nehmen den Bus nach Osten, durch Himo und weiter bis Holili. Die Straße führt in weichen, langen Kurven durch eine hügelige Landschaft, die mit Büschen und Dornbäumen bedeckt ist. Hirten mit Rindern, Schafen und Ziegen, Maisfelder, Bauern. Der Bus fährt einen kleinen Hügel hinauf, und man kann bis zum Horizont sehen.
Wir gehen ins Niemandsland. Auf den Markt kommen Kenianer, um Mais, Bohnen, Batikstoff und gebrauchte Kleidung zu kaufen, die über westliche Wohltätigkeitsorganisationen nach Tansania gelangen. Die Kenianer bezahlen in Kenia-Schillingen. Auf dem Markt verkaufen die Kenianer auch all die Dinge, die wir brauchen, aber nicht zum Großhandelspreis; sie schlagen noch etwas drauf.
Wir verkaufen die Batik zu einem guten Preis und kaufen in Taveta Seife wie Imperial Leather und Lux, wir kaufen Nivea-Creme, OMO und Seife zum Wäschewaschen. In Kenia haben sie von allen Produkten verschiedene Marken, man kann ordentliche Kosmetik einkaufen, und nicht nur das Salz ist weitaus billiger, auch Speiseöl, Kiwi-Schuhcreme, Zahnpasta und Medizin wie Kopfschmerztabletten und Hustenjuice. Die gewöhnlichen Sachen aus Kenia sind Luxusartikel in Tansania.
In Holili steigen wir mit unseren Sachen in einen Bus nach Moshi. Wir fahren und warten auf den Kontrollposten in Tansania; ein paar Polizisten und Zöllner. In meiner Hand halte ich die gefalteten Geldscheine bereit. Der Bus hält, der Zöllner geht durch. Ich stecke ihm das Geld diskret zu, denn darum ist er hier: Geld für seine eigene Tasche – nicht etwa die Staatskasse, die nur die korrupten mabwana makubwa füttert. Der Zöllner will nichts durchsuchen, denn im Bus wird es sehr heiß, wenn er auf der Straße in der Sonne steht. Die Polizisten und Zöllner wollen lieber im Schatten unter einem Baum auf den nächsten Bus warten, der Geschenke für ihre Taschen bringt.
Mein Kiosk wird zum Paradiesgarten. Ich habe Busfahrkarten gekauft, Fahrradtaxis angeheuert, Bestechungsgelder bezahlt – und doch ist mein Profit gut: fünfzig Prozent. Sofort beginnen wir mit einer größeren Batikproduktion. Der Kiosk läuft, die Hühnchen wachsen. Auch Claires Bauch wächst, denn wir sind in dem harten Holzbett sanft miteinander umgegangen. Das Geld ist knapp, aber wir sind keine Trittbrettfahrer, die nur an den Rockzipfeln eines dummen weißen Jungen hängen.
VERBLENDET
»Ihr glaubt, der mzungu ist gottähnlich und kann euer Leben verändern«, sage ich. »Aber er ist nur ein Junge. Das Auto, das er fährt, gehört seinem Vater. Die Stereoanlage hier im Laden gehört zur Hälfte mir. Er ist keineswegs fantastisch.« Sie sehen Christian, so wie die Leute vom West-Kilimandscharo Jonas gesehen haben – als König des Waldes.
»Er kann aus Europa eine große Anlage fürs Liberty oder das Moshi Hotel beschaffen«, sagt Khalid. Firestone, unser neuer jämmerlicher hangaround, der entsetzlich stottert, nickt.
»Du arbeitest doch auch für ihn«, sagt Abdullah. »Du versuchst nur, uns die gute Arbeit, die er uns beschaffen will, vorzuenthalten.«
»Ich arbeite nicht für ihn. Wir sind Partner.«
»Christian fährt mit seinem chiki-chiki-Mädchen im Nissan Patrol herum und amüsiert sich, während du den ganzen Tag im Roots Rock herumhängst und Kassetten überspielst. Du arbeitest für ihn«, sagt Abdullah. Ich könnte ihm von den Leuten von der Einwanderungsbehörde und der fehlenden Arbeitserlaubnis erzählen, aber ich lasse es.
»Wir arbeiten gern für ihn«, sagt Khalid. »Wenn er die große Disco-Ausrüstung hat, braucht er mehr Hände. Versuch nicht, uns rauszuhalten.« Sie gehen. Und ich bin in diesem Laden gefangen. Wenn sie Christian treffen, werden sie über mich reden. Ich weiß es. Ich muss eingreifen. Christian kommt am Abend und holt mich und die Ausrüstung im Auto ab. Ich lache: »Diese ganzen Swahili-Typen kommen ständig in den Laden, weil sie für dich arbeiten wollen. Sie glauben, du wirst sie reich und berühmt machen und mit nach Europa nehmen.«
»Ich brauche mehr Leute, wenn die große Anlage da ist«, sagt Christian.
»Wir brauchen mehr Leute. Ich bezahle genauso viel für diese Ausrüstung.«
»Ahhh, jedenfalls bezahle ich den größten Teil«, sagt Christian.
»Ja, aber ich kann sie ins Land schaffen, und ich bin es, der jeden Tag in diesem Laden hockt.«
»Ja, ja, natürlich«, sagt Christian.
»Du musst bei diesen Swahili-Typen aufpassen. Im Moment sind sie nett und zuvorkommend, aber wenn sie dein Blut riechen, fressen sie dich.«
»Jetzt beruhig dich mal«, sagt Christian. Aber ich kann mich nicht beruhigen. Abdullah und Khalid haben dem Jungen ihre üblen Ideen schon in den Kopf gesetzt – ich kann sie wachsen hören.
Christian
Marcus hat für heute Abend ein Taxi ohne Fahrer gemietet. Er fährt mich zum Shukran Hotel, wir tragen die Anlage hinein.
»Du musst Rachel um neun beim Kaufmann abholen und mit ihr hierherkommen.«
»Warum?«
»Sie möchte es gern sehen.«
»Ist das eine gute Idee, Christian?«
»Weshalb sollte es keine gute Idee sein?«
»Ich frage nur, um zu erfahren, ob du dir sicher bist«, erwidert Marcus.
»Ob ich mir sicher bin, dass du sie abholen sollst?«
»Ja.«
»Ja, ich bin mir sicher«, erkläre ich, drehe mich um und gehe ins Hotel. Zum Teufel noch mal, warum muss er sich ständig einmischen. Und verflucht, was hat er gegen sie? Sie ist hübsch. Ich könnte sie selbst holen, aber es ist besser, ich bleibe hier und lasse die Leute sehen, wie ich die Disco aufbaue. Die Kunden sind neugierig, was ein weißer Mann so treibt – so etwas haben sie noch nie gesehen.
Die Musik läuft, das Licht ist gedämpft, Abdullah steht an der Tür, und die Kunden strömen herein. Rogarth ist auch hier, obwohl ich ihn eigentlich nicht darum gebeten habe, aber ich lasse ihn gratis hinein.
Marcus kommt mit Rachel. Ihr Haar – sie hat sich frisiert: Kleine knallschwarze Schmachtlocken glänzen auf ihrem Kopf. Sie sieht richtig gut aus: helle Sandalen mit Perlenstickerei auf dem Oberleder, ein langer Leinenrock, den sie umgenäht hat, damit er sich um ihre Schenkel und ihr Hinterteil schmiegt. Und eine weinrote Polyesterbluse, die ihre Taille betont; die Ärmel sind kurz und zeigen ihre fülligen Arme. Sie umarmt mich, genau wie im Liberty: Sie umschlingt meinen Hals und drückt sich an mich, heftig, aber kurz. Dann hat sie schon wieder losgelassen. Was bedeutet das?
»Möchtest du eine Cola? Ich bin gleich fertig.«
»Okay«, antwortet sie und setzt sich an einen Tisch. Ich bringe ihr eine Cola, beuge mich über sie und spreche ihr direkt ins Ohr, damit sie mich trotz der Musik hören kann: »Ich glaube, du schmeckst gut. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo du am besten schmeckst?«
Sie lacht, und ihre Brüste wippen, ich glaube, sie trägt keinen Büstenhalter – ihre Brüste trotzen dem Gesetz der Schwerkraft. Die beiden obersten Knöpfe ihrer Bluse stehen offen, man kann gerade noch den dunklen Spalt ihres Busens erkennen; der Stoff zwischen den Brüsten spannt sich in horizontalen Falten. Sogar in dem dunklen Lokal kann ich die Konturen ihrer Brustwarzen ahnen. Sie fährt sich mit der Hand über den Schritt.
»Hier schmeckt es am besten«, sagt sie und lacht lauter. Der dritte Knopf ihrer Bluse springt auf, sie muss die Hand heben, um ihn wieder zuzuknöpfen, während ich in die Dunkelheit zwischen ihren Kugeln blicke. Um den Knopf durch das Knopfloch zu führen, muss sie den Stoff über dem vorspringenden Gewicht zusammenziehen.
»Heute Abend gehst du also in die Disco«, sage ich zu Rachel. »Was glaubst du, würde deine Tante dazu sagen?«
»Meine Tante glaubt, ich bin beim Englischunterricht im KNCU-Gebäude.«
»Oh, ich kann dir gut beibringen, wie man’s auf Englisch macht.« Ich klatsche ihr auf die Schenkel, weil ich sie an meinen Handflächen spüren möchte.
»Also!«, ruft sie aus. »Tsk, du bist schlimm!« Aber gleichzeitig greift sie nach meiner Hand und hält sie auf ihrem warmen Schenkel fest, dessen Muskeln ich direkt unter der weichen Haut spüre. Ich bemerke Claire, die zur Tür hereinkommt und auf den Tisch zugeht.
»Hej, Claire«, begrüße ich sie. Marcus dreht sich auf dem Stuhl um. »Claire?«
»Hallo«, grüßt sie zurück. »Ich komme, um es mir anzusehen.«
»Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken«, sagt Marcus.
»Nein, ich will es mir nur ansehen«, erwidert Claire, dreht uns den Rücken zu und schaut sich im Lokal um.
»Tsk«, zischt Rachel gedämpft; vermutlich, weil Claire sie nicht begrüßt hat. Marcus sieht mich verwirrt an. Er steht auf und nimmt Claire mit zur Bar.
»Ich muss jetzt gehen«, erklärt Rachel.
»Schade, kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?«
»Aber dann schaff ich das letzte matatu nach Majengo nicht.«
»Wir bringen dich nach Hause.«
»Aber nicht zu spät«, sagt sie.
»Nein, bald«, verspreche ich. »Ich muss nur noch etwas bereden.« Ich gehe an die Bar. Claire spricht mit Rogarth bei den Plattenspielern.
»Was macht sie hier?«, will ich von Marcus wissen.
»Sie wollte es sich gern mal ansehen.«
»Nein. Sie würde viel lieber zu Hause sein. Sie weiß, dass es falsch ist, so schnell nach dem Begräbnis ihrer Tochter in der Stadt gesehen zu werden. Sie hat nicht einmal Rachel begrüßt, die an unserem Tisch sitzt. Erzähl’s mir, weshalb ist sie hier?«
Marcus seufzt. »Sie glaubt, ich wäre mit anderen Mädchen zusammen, wenn ich mit dir unterwegs bin.«
»Tsk. Gibt es eigentlich jemanden, der in diesem Land an etwas anderes als Sex denkt?«
»Nein«, entgegnet Marcus kopfschüttelnd. Und gleichzeitig versucht Claire, mir ihre Schwester schmackhaft zu machen. Marcus zuckt die Achseln, grinst resigniert.
»Scheiße, Mann, wieso kann sie Rachel nicht begrüßen?«, frage ich ihn.
»Ich weiß es nicht.«
»Natürlich weißt du’s.«
»Sie meint, Rachel sei ein schlimmes Mädchen.«
»Wie schlimm?«
»Claire sagt, Rachel ist mit vielen Männern zusammen gewesen.«
»Und ich habe mit vielen Frauen geschlafen«, erwidere ich wütend, obwohl es viel zu wenige waren. »Wir können nicht alle solche Heiligen sein wie Claire.«
»Nein.«
»Sie sollte nicht hier sein, mit dieser Tour, ich habe darauf einfach keinen Bock«, erkläre ich und gehe zurück zum Tisch. Rachel sieht nicht sonderlich glücklich aus.
»Ich würde jetzt gern nach Hause gehen«, sagt sie.
»Kümmer dich nicht um Claire. Sie ist eine Heilige.«
»Ja, aber ich muss jetzt nach Hause. Ich muss morgen früh zur Arbeit.«
»Okay«, sage ich und hole Marcus, der das geliehene Taxi fahren soll. Ich habe ein paar Bier getrunken, außerdem hat das Auto Lenkradschaltung, von der ich keine Ahnung habe. Wir gehen hinaus in die Dunkelheit, an die kühle Luft. Marcus schließt auf. Wir fahren Rachel heim nach Majengo.
Rachel. Sie ist in meinem Kopf, als ich erwache. In beiden Köpfen. Mein Schwanz ist steinhart. Ich habe von ihr geträumt. Jesus, sie ist so scharf. Toastbrot, Kaffee und Zigaretten.
»Marianne hat angerufen«, teilt Katriina mit. »Sie kommt am Nachmittag.«
»Okay.«
»Interessiert es dich nicht, wie es gelaufen ist?« Wie, gelaufen?
»Doch«, behaupte ich. »Wie ist es denn gelaufen?«
»So wie es scheint, kann sie Mitarbeiterin des Koordinators der UNO-Flüchtlingshilfe um die Großen Seen werden«, berichtet Katriina.
»Gut. Das ist genau, was sie wollte.«
»Was werdet ihr tun?«
»Tun?«
»Ja. Sie ist schließlich deine Freundin.«
»Sie war letztes Jahr mit mir zusammen«, erwidere ich. »Jetzt ist sie hier zu Besuch, und nun will sie weiterreisen. Sie macht, was sie macht.«
»Ich glaube kaum, dass sie das auch so sieht.«
»Nein, ist mir schon klar, aber genau genommen habe ich sie ja auch nicht eingeladen, hierherzukommen.«
»Ich habe dich auch nicht eingeladen«, sagt Katriina.
»Ich kann gern verschwinden, wenn du es nicht ertragen kannst, dass ich in der Dienstbotenwohnung wohne.«
»Nein, nein, ich meine nur … Ich finde, du solltest mit Marianne reden. Ich müsst euch darüber unterhalten, was ihr tut.«
»Ja«, sage ich.
»Sie hat sicher nicht damit gerechnet, dass du mehrere Freundinnen hast«, meint Katriina. Ich hebe die Arme.
»Ganz ehrlich«, entgegne ich und lasse die Arme wieder fallen. Ich finde, sie hat sich überhaupt nicht einzumischen, aber um Ärger zu vermeiden, drehe ich mich um und gehe zur Dienstbotenwohnung.
Katriina bricht mit den Mädchen auf. Zwei Stunden später fährt ein Taxi die Einfahrt hinauf. Marianne, die in einer Tour von süßen, kleinen Flüchtlingskindern redet, von der Beschaffung von Decken und Zelten, von der Ungerechtigkeit … ja, eigentlich der gesamten westlichen Welt. Ich nicke, ohne zuzuhören. Bis ihr zwischenzeitlich der Stoff ausgeht.
»Ich komme nicht mit«, teile ich ihr mit.
»Na ja, dann sehen wir uns, wenn ich freihabe.«
»Wenn du die Welt retten willst, hast du niemals frei.«
»Christian, du brauchst dich nicht wie ein Arschloch aufzuführen«, sagt Marianne. Ich müsste ihr erklären, dass ihr Schuldgefühl, weiß zu sein, ein wenig deplatziert ist. Aber ich will nicht. Ich will nur, dass sie abreist. In diesem Moment taucht Rachel in der Einfahrt auf.
»Hej«, grüßt sie.
»Hej«, grüße ich zurück. »Möchtest du eine Cola?«
»Ja, danke.«
»Wieso kommt sie hierher? Schick sie weg«, fordert Marianne.
»Das kann man nicht. Es wäre eine Beleidigung. Und falsch.« Ich gehe in die Küche, um eine Cola zu holen, und bringe sie Rachel auf die Veranda. Marianne hat sich eine Zigarette angezündet und wandert in kleinen Kreisen über den Rasen, die Arme vor der Brust gekreuzt, sie starrt auf die Erde. Ich zünde mir ebenfalls eine Zigarette an.
»Warte einfach hier«, bitte ich Rachel, die mich mit einem leeren Blick ansieht. Sie ist Afrikanerin. Ja, sie wird warten. Sie geht nicht. Den Unannehmlichkeiten des Lebens begegnet man möglichst mit stoischer Ruhe und all der Gleichgültigkeit, zu der man fähig ist. Ich gehe hinunter auf den Rasen.
»Und jetzt?«, frage ich Marianne, die sich umdreht und mich anschreit: »Sie kommt hierher, weil sie dich haben will! Dich mir ausspannen will! Und du gibst ihr auch noch eine Cola!«
»Ja, mir ist klar, dass sie das will. Und du willst in ein Flüchtlingslager.«
»Hättest du es denn gern so?«, fragt Marianne, den Tränen nahe, glaube ich.
»Im Augenblick scheint es eine gute Idee zu sein, denn du bist ja doch nur ständig am Meckern.« Sie schluchzt.
»Aber du bist mit mir zusammen«, heult sie.
»Bin ich? Du verschwindest nach England, um als Au-pair zu arbeiten, und ich fliege hier runter. Und plötzlich erscheinst du, und wir sollen ausziehen und Hand in Hand die Welt retten. Das ist nicht mein Plan. Ich habe dich nicht eingeladen.« Ich starre sie an. Sie starrt mich an und zeigt dann auf Rachel auf der Veranda.
»Die soll gehen. Sie soll nicht hier sein, wenn … Sag es ihr. Dass sie gehen soll.«
»Sie soll zu Fuß nach Hause gehen, nicht wahr? Das willst du doch. Ich soll ihr nicht anbieten, sie nach Hause zu fahren, oder?«
»Nein, das sollst du nicht.«
»Wir sollen gut sein, Christian. Wir müssen ein Zeichen setzen«, äffe ich sie nach. »Aber du bist nicht sehr nett zu Negern. Du bist nur darauf aus … dich selbst zu finden, oder wie immer das heißen mag.«
»Und du willst sie nur ficken!«
Ich drehe mich um und rufe Rachel auf Swahili zu: »Komm, ich fahr dich nach Hause.« Ich starte das Motorrad, Rachel steigt hinten auf. Ich fahre durch die Innenstadt in Richtung Majengo und setze sie ab.
»Bis bald«, verabschiede ich mich, drehe und fahre zurück zu diesem ganzen Mist. Marianne ist fort. Katriina sitzt auf der Veranda.
»Was hast du zu ihr gesagt?«, fragt sie mich vorwurfsvoll.
»Wo ist sie?«
»Sie wollte nicht mehr bleiben. Ich habe sie zum YMCA gefahren. Du musst hinfahren und mit ihr reden.«
»Okay«, sage ich und werfe mich wieder aufs Motorrad. Zumindest ist sie aus meinem Bett verschwunden. Im YMCA rede ich mit dem Mädchen an der Rezeption. Frage, in welchem Zimmer das weiße Mädchen wohnt. Das darf sie mir nicht sagen. Ich bezahle, bekomme die Zimmernummer, gehe hinauf und klopfe.
»What?«, ruft Marianne.
»Ich bin’s«, sage ich.
»Geh weg! Ich will nicht mit dir reden.«
»Scheiße. Womit hast du gerechnet? Wir haben uns anderthalb Jahre nicht gesehen, und dann kommst du hierher und erklärst, ich soll in einem fucking Flüchtlingslager arbeiten. Nein, natürlich will ich das nicht.« Ich lehne an der Tür und rede.
»Du willst nur deine kleine Nutte ficken.« Es klingt, als stünde sie ein Stück von der Tür entfernt.
»Ich habe sie nicht gefickt. Und sie ist auch keine Hure. Sie ist ein Mädchen.«
»Ist sie gut im Bett, deine kleine schwarze Sambo?« Es ist einfach absurd.
»Ja«, sage ich. »Viel besser als du. Nicht so egozentrisch.«
»Erzählt sie dir, dass du einen großen weißen Schwanz hast?«
»Nein. Aber ich werde ihre menschlichen Qualitäten vierzehn Tage nicht mehr loben, wenn sie ihn nicht in den Mund nimmt.« Ich hoffe zumindest, dass es passiert, denn es ist mir nicht gelungen, Marianne dazu zu bewegen – sie liegt nur wie eine tote Scholle im Bett, und ich muss mir den Rest überlegen.
»Wie schön für dich, ein kleines Negerlein zu haben, das von dir abhängig ist.«
»Sie geht arbeiten«, entgegne ich und will noch mehr sagen, aber es gibt keinen Grund. Ich ziehe mich leise von der Tür zurück. Ich glaube, Marianne sagt irgendetwas. Ich trete wieder an die Tür.
»Marianne. Du erinnerst mich an meine Mutter, diese Art, du … du bist so zielgerichtet und … scheißegoistisch, wenn du mich so durch den Dreck ziehst. Du ähnelst ihr.« Ich habe ihr von meinen Eltern erzählt und hoffe, ich treffe sie damit.
»Ich bin fertig mit dir.«
»Genauso«, sage ich. »Wenn irgendetwas nicht funktioniert, lass es hinter dir und find was Besseres.« Ich gehe. Besaufe mich in einer Bar.
Am nächsten Tag fahre ich zu Roots Rock und schlendere zum Kaufmann, um Rachel zu begrüßen. Das Mädchen, das am Kühlschrank sitzt, ruft in den Laden hinein: »Rachel, Rachel, dein mzungu ist hier!« Sie kommt heraus und strahlt. Ich nehme ihre Hand und ziehe sie ein paar Meter vom Eingang des Ladens weg.
»Sie ist fort«, sage ich. »Das andere Mädchen.«
»Ist sie gefahren?«
»Ja.«
»Du musst mitkommen und dir mein neues Zimmer ansehen«, sagt sie. Ihre bloße Nähe erregt mich.
»Klar. Wann hast du frei?«
»Um neun.«
Um halb neun tauche ich auf. »Hast du Hunger?« Rachel zuckt die Achseln. »Hast du schon gegessen?«, frage ich nach.
»Ein bisschen«, sagt sie.
»Möchtest du etwas essen?«
»Nur, wenn du auch etwas isst.«
»Okay.« Wir fahren zum YMCA-Kreisel und über die Uru Road zur Gadaffi Bar. Ich bestelle Fleisch und gegrillte grüne Bananen. Ein Bier für mich. Rachel möchte Cola. Wir sprechen kaum miteinander, während wir auf die Getränke warten.
»Rachel, ich bin kein reicher Mann.«
»Es ist nicht wichtig, ob du reich bist. Ich mag dich. Nicht wegen des Geldes.«
»Aber …«, fange ich an. »Verstehst du, ich will hier leben. Hier in Moshi, Tansania. Ich gehe nicht nach Europa zurück.« Jetzt ist es heraus. Und warum erzähle ich den ganzen Mist? Das ist doch nur Scheiß, den Marcus mir eingepflanzt hat. Rachel wirkt unbekümmert. Sie beugt den Oberkörper vor, hebt die Schultern und legt die Unterarme zwischen ihre Knie – der dunkle Spalt zwischen ihren Brüsten. Ich glaube, sie weiß, dass sie ihn mir zeigt. Ihre Stimme ist leise, sie schaut auf die Erde.
»Europa ist gut, denn man hat gute Krankenhäuser und Schulen für alle«, sagt sie. »Das ist gut. Aber wenn du hier in Tansania bist, ist es auch gut. Ich habe kein Interesse an vielen Autos oder solchen Sachen.«
»Was interessiert dich?«
»Ich möchte zur Schule gehen und mehr Englisch lernen. Dann kann ich eine bessere Arbeit in einer Boutique oder einer Bar mit ordentlichen Leuten bekommen und komme besser in der Welt zurecht.« Rachel blickt mich jetzt direkt an, ihre Stimme ist fest, ein breites Lächeln leuchtet in ihrem Gesicht. Ich glaube, sie weiß nicht genau, was ich will. Aber sie zweifelt nicht an sich selbst.
»Ich möchte nur nicht, dass du glaubst, ich wäre sehr reich, nur weil ich weiß bin«, sage ich, eigentlich eher, um dieses Thema abzuschließen. Rachel sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Sie schlingt das Essen hinunter und sagt: »Reich ist nicht wichtig. Hauptsache, es ist genug da, damit ein Mensch leben kann wie ein Mensch und nicht wie ein Hund.«
»Ist die Freundin, mit der du dir das Zimmer teilst, nett?«
»Salama?«, fragt Rachel. »Ja, sie ist okay.«
Ich würde sie gern fragen, ob Salama zu Hause ist, aber ich bin still. Wir fahren. Deutlich spüre ich ihre Brüste an meinem Rücken. Sie umarmt mich von hinten. Ich spüre den Druck und die Nachgiebigkeit ihrer Oberarme. Die Erregung lässt mich schnell fahren.
»Fahr langsam!«, bittet sie und lacht.
Sie ruft mir zu, welchen Weg ich nehmen muss, und schon bald halten wir vor Türen, die nach einer Dienstbotenunterkunft aussehen. Rachel begrüßt lächelnd ein paar Frauen, die vor einem der Nachbarhäuser in der Hocke sitzen und plaudern. Ich ziehe die Kette durch die Räder des Motorrads und den Rahmen, bevor ich die Enden mit einem Vorhängeschloss zusammenschließe.
Sie steht in der Tür. »Komm«, sagt sie. »Willkommen.« Und tritt zur Seite. Ich gehe hinein. Sie schiebt die Tür zu. Die Freundin ist nicht da – wer weiß, ob es abgesprochen ist? Über der Tür ist ein Fenster. Kein Glas, ein Moskitonetz, Stäbe und ein feinmaschiges Gitter, damit man nicht den Arm hineinstecken kann. Die Fensterläden aus Holz sind mit einem Schiebeschloss gesichert. Unter dem Fenster stehen zwei wacklige Holzstühle an einem kleinen Esstisch, der mit einem Strauß Plastikblumen mit Blütenblättern aus verstärktem Nylon geschmückt ist, daneben eine Petroleumlampe, falls der Strom ausfällt, sowie ein Transistorradio, dessen Antenne abgebrochen und durch ein weißes Kabel ersetzt ist, das sich durch die Stäbe des Fensters windet. Ein mit Kunststoff laminierter Couchtisch mit gehäkelten Tischservietten zwischen den Betten. Am Ende des einen Betts ein Kleiderschrank an der Wand und eine Reihe von Holzregalen auf Backsteinsockeln neben der Eingangstür. Für den Hausrat. Ein Topf, eine Pfanne und ein Kohlebecken stehen gescheuert unter dem Fußende des Bettes. Von der Decke hängt eine Glühbirne mit einem umgedrehten Papierkorb als Lampenschirm. Er ist mit großen Öffnungen geflochten, das Licht fällt heraus und wirft ein geometrisches Muster auf die Wände. Glücklicherweise gibt es eine Decke, so dass man nicht jedes Geräusch aus dem Nachbarzimmer hört. Bilder einer Frauenzeitschrift aus dem Westen sind direkt an die Wände geklebt. Ich lege einen Arm um Rachel.
»Sehr hübsch.«
»Willst du eine Limonade?«, fragt sie und entschlüpft mir, holt eine Cola vom Boden des Schranks, öffnet sie für mich und schenkt mir ein Glas ein, das sie zusammen mit der halb leeren Flasche und einem verbeulten Aluminiumaschenbecher auf den Couchtisch stellt.
Ich bedanke mich und setze mich auf eines der Betten. Die Cola muss sie gestern im Kiosk geholt haben, vielleicht hat sie sich die Flasche geliehen – ich glaube nicht, dass sie Flaschen zum Umtauschen hat.
»Ich brauche ein Bad«, sagt sie und holt eine kanga aus dem Kleiderschrank. Ich sehe ihr zu. Sie lacht. »Du musst hinausgehen«, sagt sie und zeigt auf die Tür. Sie will sich ausziehen und die kanga umlegen, bevor sie zum Waschraum geht, der am Ende des Gebäudes liegt.
»Okay, ich warte draußen.« Ich lächele ihr zu, während ich vor die Tür gehe. Ich zünde mir eine Zigarette an. Die beiden Frauen auf der Straße sehen ein einziges Mal zu mir herüber, dann ignorieren sie mich.
Rachel öffnet die Tür einen Spalt.
»Alles in Ordnung«, sagt sie von innen, ich gehe wieder hinein. Sie hält eine Hand auf dem Türgriff, mit der anderen drückt sie sich ein Handtuch vor die Brust – bereit zum Bad. Ich habe die Hand ebenfalls auf der Tür und stehe vor ihr; wenn sie hinauswill, muss sie an mir vorbei. Man kann sie von außen nicht sehen. Sie blickt zu mir auf. Ich lege meinen freien Arm um sie, ganz unten an ihrem Rücken; durch den dünnen Stoff spüre ich den kräftigen Muskel ihrer Hinterbacke an meiner Hand. Ich beuge mich vor, wobei ich sie an mich heranziehe. Sie lehnt sich ein wenig zurück, aber ohne die Füße zu bewegen. Ich küsse ihren Mund, sauge ihre volle Unterlippe ein, während ich widerstandslos ihre Hand von der Tür ziehe. Sie fällt zu, wir sind von außen unsichtbar. Unsere Zungen begegnen sich, rau, warm, weich und feucht. Zwischen unseren Oberkörpern liegt ihre Hand mit dem Handtuch. Sie reißt ihren Mund los. »Ah-ahhh«, sagt sie kopfschüttelnd. »Ich muss ins Bad.« Meine Hand auf der Rundung ihrer kräftigen Hinterbacke.
»Ich will dich.«
»Ja, aber du musst warten.« Ich greife nach ihrem Handtuch, ziehe es ihr aus der Hand und werfe es aufs Bett. Schaue auf sie herab. Ihre strotzenden Brüste unter dem Stoff. Der Knoten, mit dem sie das kanga verknotet hat. Mitten zwischen den beiden dunklen Weltkugeln.
»Du bist sehr hübsch.« Ich küsse sie noch einmal. Meine Hand fasst um eine ihrer festen Brüste. Durch den Stoff drücke ich ihre Brustwarze – groß ist sie zwischen meinen Fingern – und ziehe Rachel an mich, damit sie durch die Hose hindurch spürt, wie hart ich bin. Sie streckt ihre Hand aus und löscht das Licht.
»Okay«, sagt sie, jetzt mit flinken Fingern an meiner Hose. Sie zieht die Gürtelschnalle auf, öffnet den Knopf, zieht den Reißverschluss herunter. Ich zerre am kanga, um den Knoten zu lösen; der Stoff schmiegt sich an ihre Haut, bis ich ihren Körper davon befreien kann – er fällt zu Boden. Es ist nicht vollkommen dunkel, Licht fällt von der Veranda durch das Rechteck mit dem Moskitonetz und den Stäben über der Tür. Ich rieche den trockenen Schweiß unter ihren Armen; es erregt mich, als ich mit meinem Mund ihren Hals herabgleite, eine Brustwarze zwischen meine Lippen nehme und daran sauge. Salzgeschmack, ich ahne die schwarz gekräuselte Matte über der Rundung zwischen ihren Beinen. Ihre Hand ist in meiner Hose, hinter den Boxershorts, fasst an mein Glied. Sie hockt sich hin, zieht mir die Hose mit der anderen Hand zu Boden, sieht mir dabei in die Augen, lächelt und leckt meinen Schwanz mit langen, gleichmäßigen Zügen, zieht die Vorhaut ganz zurück, nimmt die Eichel in den Mund. Die ganze Zeit den Blick auf mich geheftet. Eine rosa genoppte Zunge an meiner knallroten Eichel; dicke violette Lippen am weißen Schaft meines Schwanzes. Sie bläst mich bis zum Erguss, schluckt meinen Samen, leckt meinen Schwanz sauber, wobei sie mir sanft die Hoden drückt, erhebt sich langsam, lächelnd.
Ich danke ihr. Diese kleine Müdigkeit; alles in mir kommt ein wenig zur Ruhe. Ich steige aus der Hose, die mir noch immer um die Knöchel hängt, streife die Turnschuhe ab.
»Warte«, sage ich. Drücke sie aufs Bett, während ich eine Hand zwischen ihre kräftigen Schenkel gleiten lasse; spüre das feuchte Weiche, den borstigen Haarwuchs; hocke mich vor sie, der kräftige und reife Duft ihres Geschlechts.
Ich halte einen Schenkel so fest, dass sich die Finger ins Fleisch bohren, und hebe ihr anderes Bein, bis ich sie erreichen kann. Lasse die Zunge über die Innenseite des Schenkels bis zur Möse gleiten.
»Mhm«, stöhnt sie. Ich streichele sie. Lutsche, lecke, sauge, ihre Hände ziehen meinen Kopf an ihr Geschlecht, kleine Laute. Schnell und rhythmisch stößt sie ihren Unterleib an mein Gesicht. Wilder Geschmack. Gekräuseltes Haar kratzt an meinen nassen Lippen. Innen ist sie rosa. Ich schlucke. Haare an meiner Zunge. Greife nach ihren Hinterbacken, um zu stabilisieren. Finde die Klitoris wieder, nehme sie zwischen die Zähne, meine Zunge klatscht dagegen. Mein Schwanz ist wieder so hart, dass er schmerzt. Führe eine Hand ihre Schamlippen entlang und befeuchte ihren Anus – sauge ihre Möse, während ich den Ringmuskel massiere und einen Finger einführe. Sie stöhnt auf. Das Bein, auf dem sie sich abstützt, beginnt zu zittern. »Mach es mir, jetzt«, sagt sie und richtet sich unvermittelt auf – ich kann gerade noch meinen Finger herausziehen. Sie kriecht auf dem Bett ein Stück zurück, die Muskeln spielen in ihren Schenkeln, die Brüste wippen, bis sie auf dem Rücken liegt und mich auf sich zieht, meinen Körper zwischen ihre gespreizten Beine. Ihre Möse schimmert dunkel glänzend im trüben Lichtschein, dann bin ich über ihr. Was bedeutet es schon, dass ich bei ihr liege – wenn ich erst einmal in ihr bin? Was erwartet mich auf der anderen Seite? Erwartet sie, dass … meine Rolle – wie sieht sie aus? »Du darfst keinen Lärm machen«, flüstert sie. Mein Schwanz zielt zu tief und stößt durch die Spalte zwischen ihren Hinterbacken auf das Betttuch, aber sofort ist ihre Hand da und führt ihn in das Feuchtweiche – so heiß. Das Weiche ist … fast zu viel. So weit kann ich noch denken. Und dann krampft sie sich zusammen. Umschließt mich mit den Innenwänden ihrer Möse. Ihre Hand an meiner Schwanzwurzel, dann an den Hoden, die andere um meinen Nacken, unterdrücktes Stöhnen, guttural, die Fingernägel auf meinem Rücken, sie umklammert meine Hinterbacken, bohrt ihre Finger hinein – hart. Das Wippen der Brüste auf ihrem Oberkörper – plastisch. Wir finden den Rhythmus. Ein Schweißfilm überzieht uns, unsere Bäuche gleiten gegeneinander, während ich in sie hineinstoße. Es hört nicht auf. Es tut weh. Milchsäure steigt mir in die Beine. Stoßen. Bis es kommt. In Wellen. Und ich stoße mir den Weg durch die Schmerzen, ein Verkrampfen der Eingeweide, die Explosion. Ich mache einen Buckel, damit ich an ihren Brustwarzen saugen kann, Beischlafgeruch hängt in der Luft, Haut an Haut, glatt vor Schweiß, sie zieht meinen Kopf zu sich, saugt an meinem Mund, wir sind am ganzen Körper nass. Die Zähne stoßen zusammen. Stöhnen. Ich spüre deutlich, wie sich der letzte Rest durch die Samenstränge bewegt, sich vorschiebt, aus mir heraus, in sie hinein.
»Wunderbar«, sage ich. »Rachel, du bist sehr hübsch«, sage ich noch einmal. »Ich will dich haben, jeden Tag«, sage ich. Sie lächelt breit.
»Mein mzungu«, sagt sie. »Er macht Spektakel.« Und so liegen wir, eng umschlungen, der Schweißfilm trocknet nach und nach auf unseren Körpern, sie knabbert an meinem Ohrläppchen. Und niemand kann uns sehen, aber wir sind jetzt zusammen. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Ein Moskito saugt Blut an meinem Bein; ich lasse ihn sitzen, zuvor hat er an ihr gesaugt. So wie ich. Ich freue mich. Dass sie auf mir sitzen wird und ich ihre Brüste tanzen sehen kann. Dass ich ihr mit der Hand unter den Rock fassen kann, zwischen ihre Beine, das Höschen zur Seite schiebe und es ihr mit dem Finger besorge, im Dunklen, nachts an einem Auto auf dem Parkplatz einer Diskothek.
Ich hätte ein Kondom verwenden müssen. Sie wird nicht schwanger. Hoffe ich. Ich lasse die Hand über Rachels Hinterbacken gleiten; obwohl sie halb über mir liegt, zerfließt ihr Hintern nicht wie bei einem weißen Mädchen. Rund und weich und fest zugleich.
Ein Geräusch an der Tür. Rachel fährt zusammen.
»Rachel?«, ruft eine Mädchenstimme.
»Warte einen Moment!«, ruft Rachel zurück. »Das ist Salama, der das Zimmer gehört.« Hastig steht sie auf, wirft sich die kanga um und greift nach ihrem Handtuch. Dann sieht sie mich an. »Zieh dich an«, sagt sie und öffnet die Tür einen Spalt. Ich sehe, wie ein Paar Mädchenaugen mich über Rachels Kopf hinweg ansehen, als sie sich aus der Tür drückt.
»Also!«, ruft Salama. »Eeehhh.« Sie lacht vor der geschlossenen Tür. Rachel lacht auch. Ich höre, wie sie schnell und leise miteinander sprechen und wieder lachen. Ich stehe auf und sehe mich in dem dunklen Zimmer nach meinen Sachen um. Ich würde ihr am liebsten ins Bad folgen, aber das geht nicht. Jetzt werden die Frauen draußen mich ansehen, wenn ich gehe. Wir waren lange im Haus, bevor Rachel wieder herausgekommen ist, um ins Bad zu gehen. Ich ziehe mich an. Fühle Schuld. Aber wieso? Schuld woran? Das ist … Rassismus. Sie ist ein Mädchen, ich bin ein Junge. Legosteine – die Farben sind gleichgültig.
Ich bin angezogen. Ziehe den Bettbezug glatt. Rauche eine Zigarette. Sie schmeckt fabelhaft. Rachel kommt zurück. Sie scheint ein wenig hektisch zu sein.
»Du musst jetzt gehen«, sagt sie. »Salama muss schlafen.«
»Wann sehen wir uns wieder?«
»Du kommst zum Kaufmann. Dann.«
Und ich fahre durch die kühle Luft und schreie, so laut ich kann, als ich aus Majengo zum YMCA-Kreisel dröhne, weiter. Ich fahre nach Hause. Halte vor der Dienstbotenwohnung. Will nur ruhig dasitzen, Zigaretten rauchen und über die Ereignisse des Abends nachdenken, sie in meinem Kopf noch einmal ablaufen lassen.
»Christian?«, ruft Katriina von der Veranda.
»Ja?«
»Komm mal her.«
»Warum?«
»Komm schon«, sagt sie. Ich stehe auf. Gehe über den Rasen. Marianne sitzt auf der Veranda. Katriina verschwindet im Haus. Ich gehe die Stufen hinauf, bleibe vor ihr stehen und schaue sie an, ohne etwas zu sagen. Was will sie?
»Wir müssen reden, Christian.«
»Wieso?«
»Wir können doch nicht … auf diese Weise auseinandergehen.«
»Dann müssen wir im YMCA reden«, sage ich.
»Warum dort?«, fragt Marianne mit dünner Stimme. Ich weise mit einer Kopfbewegung in Richtung Haus und Wohnzimmer. »Okay.« Sie folgt mir, ohne ein Wort zu sagen, zum Motorrad. Ich fahre zum YMCA, schließe das Motorrad ab, folge ihr zu ihrem Zimmer, sie schließt die Tür auf und tritt ein. Ich bleibe an der Tür stehen.
»Wir wollen unterschiedliche Dinge«, sage ich. »Es gibt keinen Grund, noch mehr zu reden. Mach’s gut.« Sie sieht mich an.
»Ebenfalls«, sagt sie.
Ich gehe.
»Was ist heute Abend, wenn du Feierabend hast?«, frage ich Rachel vor dem Kaufmannsladen. »Ich kann dich abholen?« Sie schaut sich nervös um. Vielleicht wird der Chef sauer, wenn sie sich während der Arbeitszeit mit mir unterhält.
»Dann könnten wir zu dir gehen«, schlägt sie vor.
»Das ist nicht so gut. Die Dame des Hauses ist sauer auf mich.« Katriina. Nicht ein Wort hat sie mit mir geredet, seit Marianne gegangen ist.
»Zu mir können wir nicht«, erklärt Rachel. »Salama wohnt auch dort, und die Nachbarn erzählen hässliche Dinge über mich, nachdem du da warst – der Vermieter könnte auf die Idee kommen, uns rauszuschmeißen.«
»Okay. Ich überlege mir bis morgen Abend etwas.«
»Morgen kann ich nicht. Ich muss arbeiten.«
»Aber der Kaufmann macht um neun zu?«
»Ich habe eine neue Arbeit in einem Restaurant, als Kellnerin. Da ist erst um elf Schluss.«
»Und hinterher, wenn du nach Hause gekommen bist?«
»Ich muss am nächsten Morgen um sieben arbeiten.«
»Ich werde mich nach einer eigenen Wohnung umsehen.«
»Ja«, lächelt Rachel. »Ich hoffe, du findest schnell eine.«
»Wieso brauchst du eine neue Arbeit?«
»Sonst kann ich den Englischunterricht nicht bezahlen«, antwortet sie. Der Kaufmann erlaubt ihr, jeden Nachmittag von zwei bis vier freizunehmen; sie will sich zu einem Englischkurs anmelden, der im KNCU-Gebäude stattfindet. Aber erst muss sie das Geld beschaffen. Wenn sie tagsüber und abends arbeitet, werde ich sie überhaupt nicht mehr sehen.
Am Abend fahren wir zum New Castle Hotel an der Mawenzi Road und setzen uns auf die Dachterrasse. Wir bestellen Hühnchen mit Fritten und Cola. Blicken über die Stadt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Rauche eine Zigarette nach der anderen.
»Rachel«, beginne ich. »Ich möchte dich gern häufiger sehen … länger, okay? Ich versuche, eine eigene Wohnung zu finden, ein kleines Haus, aber das ist schwer. Aber ich dachte … wenn ich deinen Englischkurs bezahle, dann müsstest du doch nicht auch noch abends arbeiten.«
»Aber man muss für ein halbes Jahr im Voraus bezahlen, bevor man anfangen kann«, erwidert Rachel.
»Das ist kein Problem. Ich hab’s dabei.« Ich gebe ihr einen Umschlag mit dem Geld. Sie lächelt.
»Danke, Christian«, sagt sie und faltet den Umschlag zusammen, ohne hineinzusehen. Steckt ihn in die Tasche.
»Fährst du mich jetzt nach Hause?« Wir haben keinen Ort, an dem wir zusammen sein könnten. Es gibt keinen Grund, weiter darüber zu reden. Ich muss das Problem lösen. Ich fahre sie heim. Sie steigt an der Straße ab. Ich umarme sie und will sie küssen. »Du sollst hier kein Spektakel machen, Christian. Die Nachbarn reden sehr hässlich über mich, wenn sie das sehen.«
»Okay«, sage ich. »Wir sehen uns.« Ich gebe Gas, fahre. Verdammte Scheiße!
Auf dem Fußweg vor dem Kaufmannsladen flüstert sie mir zu: »Christian, ich habe morgen den ganzen Tag frei. Wir können heute Abend etwas unternehmen.«
»Willst du ins Liberty? Oder ins Moshi Hotel?«
»Nein, nicht in die Stadt. Nur du und ich. Zusammen. Wir könnten ein bisschen Spektakel machen.«
»Ja! Aber wo? Ist Salama zu Hause?«
»Wir können nicht zu mir.«
»Ich weiß. Wir gehen zu mir.«
»Okay. Hol mich um halb neun ab.«
Ich mache es. Wir gehen ins Uhuru Hostel und essen etwas, bevor wir zur Dienstbotenwohnung fahren. Der Strom ist ausgefallen. Rachel zündet eine Kerze und einen Moskito-Schutz an.
»Zieh dich aus und leg dich aufs Bett«, sagt sie. Ich gehorche. Sie kommt an die Bettkante. Zieht sich in dem flackernden Licht nackt aus. »Du musst ganz still liegen«, flüstert sie und streichelt mich, küsst mich am ganzen Körper. Fabelhaft. Bebende, kitzelnde Erregung, ausgedehnt, schmerzhaft – sie holt mich ständig zurück, bis es endlich passiert.
Am nächsten Morgen gehe ich hinüber zum Haupthaus, um ein Tablett mit Frühstück zu holen. Issa bügelt. Er grüßt, spricht aber nicht mit mir, bietet keine Hilfe an. Er ist so taub, dass er uns nicht gehört haben kann, aber ich denke, der Wachmann ist die ganze Nacht wach gewesen. Während ich Wasser koche und Mangos aufschneide, kommt Solja in die Küche. Auf dem Tablett stehen bereits zwei Gläser mit Juice und zwei Kaffeetassen.
»Hast du Gäste?«, fragt sie.
»Geht dich gar nichts an«, grinse ich.
»Ja, ja«, antwortet sie und verschwindet. Ich gehe mit dem Tablett hinunter. Wir sitzen im Schatten auf der Veranda der Dienstbotenwohnung. Katriina kommt um die Ecke. Sie ist blass.
»Ich will sie hier nicht haben«, erklärt sie auf Schwedisch.
»Das hast du nicht zu bestimmen«, erwidere ich.
»Doch, das habe ich. Es ist mein Haus.«
»Soweit ich weiß, ist es mein Vater, der die Miete bezahlt.«
»Glaubst du, dein Vater ist der Ansicht, dass du dich herumtreiben sollst mit diesen … Du kannst die Mädchen nicht einfach so benutzen«, sagt Katriina. Ihre Stimme zittert. Ich sehe Rachel an. Ihr Gesichtsausdruck ist leer.
»Benutzen? Sie ist meine Freundin.«
»Ja, im Augenblick. Aber was ist, wenn du das Land verlässt und sie zurücklässt?«
»Ich gehe nicht weg«, erwidere ich.
»Du verdienst doch kein Geld mit diesem Disco-Mist. Du wirst gehen.«
»Wo ist dein Problem?«, will ich wissen.
»Pass auf, Christian. Man kann sich die Finger schmutzig machen, wenn man im Dreck wühlt«, sagt Katriina böse.
»Und was ist mit deinen Händen, Katriina? Sind die vollkommen sauber?« Sie ist getroffen. Ihr Blick flackert. Ihre Hände sind nicht sauber.
»Tsk«, schnalzt sie und geht.
Ich liege auf dem Bett, rauche Zigaretten – und erwarte die weitere Entwicklung. Sie kommt, als Solja an der Tür klopft.
»Du sollst ins Haus kommen.«
»Wieso?«
»Einfach so«, meint sie. Ich gehe hinauf. Katriina sitzt im Wohnzimmer.
»Du sollst deinen Vater anrufen.«.
»Und was wird er mir erzählen?«, erkundige ich mich, denn offensichtlich hat sie das arrangiert.
»Dass du hier nicht mehr wohnen kannst.«
»Soll ich bis heute Abend draußen sein?«
»Im Laufe der nächsten Wochen.«
»Ich verschwinde so schnell wie möglich.«
»Gut«, sagt Katriina. Solja ist in ihr Zimmer gegangen. Ich rede leise, damit sie mich nicht hört: »Ich bin nicht Jonas, Katriina.« Ihr Kopf zuckt herum, sie starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Verschwinde«, zischt sie. »Ich will dich in diesem Haus nicht mehr sehen – nicht ein einziges Mal!« Ich gehe. Kurz darauf kommt Solja zu mir, um eine Zigarette zu schnorren. Sie sieht mich merkwürdig an, als wollte sie etwas sagen. Aber sie sagt nichts. Ob sie sich wohl an den Land Cruiser auf dem Feldweg in der Dunkelheit erinnert, der geschaukelt hat, obwohl der Motor abgestellt war?
Rachel sitzt vor Roots Rock, als ich am Vormittag dort auftauche. Sie sieht verstört aus.
»Was ist los?«
»Ein großes Problem«, antwortet sie und schlägt die Hand vors Gesicht, schüttelt den Kopf und atmet in kurzen Stößen. Ich lege den Arm um sie.
»Was ist passiert?« Sie weint. Ich ziehe sie in den Laden, damit die Leute auf der Straße sie nicht anstarren. »Marcus, kannst du uns mal allein lassen?« Er steht auf und geht hinaus. Stück für Stück entreiße ich ihr die Geschichte. Sie schuldet irgendwelchen Typen Geld. Als ihr älterer Bruder in Arusha starb und sie nach Moshi kam, haben sie ihr geholfen. Sie haben ihr Geld geliehen, damit sie leben konnte, bis sie Arbeit fand. Jetzt wollen sie es zurückhaben. Es entspricht ein paar Monatslöhnen. Sie hat ihnen bereits das Geld gegeben, das sie von mir für den Englischkurs bekommen hat. Ich bin mir bei der Sache nicht sicher. Ist das Bauernfängerei? Aber … ich gebe ihr einfach Geld, ich will nicht misstrauisch sein.
»Ich muss jetzt zur Arbeit gehen«, sagt sie.
»Sehen wir uns heute Abend?«
»Ich muss im Restaurant arbeiten.« Sie geht. Marcus erhebt sich von dem Stuhl, auf dem er vor der Tür sitzt, und kommt herein. Vielleicht konnte er uns hören.
»Dieses Mädchen hält dich total zum Narren.«
»Das geht dich gar nichts an.«
»Tsk«, antwortet er. Ich würde ihm gern eine knallen. Ich fahre. Bis zur alten Karanga Bridge. Schiebe das Motorrad zwischen das Gebüsch auf der Böschung und setze mich unter einen Baum in den Schatten. Zünde mir eine Zigarette an. Ich hatte gedacht, Rachel wollte den Job aufgeben, damit wir abends zusammen sein können; deshalb habe ich ihr doch das Geld für den Englischunterricht gegeben. Aber … mir ist es schon klar. Das hier ist Tansania: Wenn ich mir eine Wohnung besorge und sie einziehen lasse, bin ich der Mann und bestimme, aber im Augenblick bin ich eigentlich nur ein Bursche, mit dem sie herumalbert. Ich habe noch nicht geliefert, also habe ich keine Macht.
Am späten Nachmittag fahre ich zu Roots Rock, um mit Marcus zu reden. Wir müssen etwas tun, um das Geschäft zu beleben. Aber er hat den Laden bereits geschlossen. Ich kaufe mir eine Limonade in der Stereo Bar und setze mich an die Straße. Dann sehe ich Rachel. Sie steht vor dem Kaufmannsladen in einem khakifarbenen Rock, der sich um ihre runden Schenkel schmiegt, und einem violetten Tank-Top aus Kunststoff, das stramm an ihrem Oberkörper sitzt, so dass die Brustwarzen sogar aus dieser Entfernung sichtbar sind. Ich gehe zu ihr.
»Du sollst jetzt nicht hier sein«, sagt sie und schaut sich nervös um.
»Warum nicht?«
»Mein Chef kommt mich abholen. Wenn er dich sieht, wird er sauer.«
»Warum sollte er sauer werden?« Rachel seufzt und schaut mich an.
»Wenn er sieht, dass ich mit einem mzungu zusammen bin, glaubt er, ich würde bald meinen Job aufgeben. Und dann würde er sich nicht die Mühe machen, mir beizubringen, die Wirtin eines Restaurants zu sein.«
»Aber er ist okay zu dir?«, frage ich sie.
»Er ist ein Vetter aus der Familie. Er versucht nur zu helfen. Du musst jetzt gehen.«
»Wir sehen uns morgen.« Ich verabschiede mich und gehe zurück an die Tische vor der Stereo Bar. Ich warte. Irgendwann kommt ein ganz neuer Toyota Corolla und hält vor dem Kaufmannsladen. Rachel springt hinein, und sie fahren davon. Wenn er ein Vetter der Familie ist und sich ein Auto leisten kann, dann müsste Rachel bei seiner Familie leben – das ist der Brauch in Tansania, wenn ein junges Mädchen aus dem Dorf in die Großstadt kommt. Aber die afrikanischen Bräuche gelten nicht mehr viel, zu viele arme Verwandte kommen in die Stadt. Sie müssen selbst zurechtkommen.
Ich fahre zu Marcus, um mit ihm über unsere Geschäfte zu reden. Wir brauchen mehr Arbeit. Claire begrüßt mich an der Haustür, wie es sich gehört. Sie ist sehr abgemagert seit dem Tod des Babys.
»Marcus hat noch etwas zu besorgen, aber er kommt gleich«, sagt sie. Aber sie fragt nicht, ob ich Kaffee möchte oder wie es mit Katriina und den Kindern läuft. Sehr unhöflich. Aber okay, sie hat gerade ein Kind verloren. Die Sonne sticht mir in die Augen, also gehe ich ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa. Sie sitzt am Esstisch und schreibt in ein Aufsatzheft, erklärt mir, sie würde an der Abrechnung des Kiosks arbeiten. Ich habe das Gefühl, dass ein Großteil der Einnahmen für Marcus’ Alkoholkonsum draufgeht.
»Wie läuft das Geschäft?«, erkundige ich mich.
»Nicht gut, vom Kiosk allein können wir nicht leben.« Ich weiß, sie will damit andeuten, dass wir Geld beiseitelegen, um die große Anlage hierherschaffen zu lassen. Aber das will ich nicht mit ihr diskutieren. Vielleicht kommt sie mir deshalb so feindselig vor. »Es ist nicht gut für dich, wenn du mit ihr eine Liebschaft hast«, sagt Claire.
»Mit wem?«
»Mit diesem Mädchen, das sagt, sie heiße Rachel.«
»Wieso ist es nicht gut für mich?«
»Es ist nicht gut für dich. Sie ist sehr schlimm.«
»Was meinst du mit ›schlimm‹?«
»Sie ist ein schlimmes Mädchen. Das habe ich gehört.«
»Ja, das verstehe ich, aber wie?«
»Sie benutzt verschiedene Namen.«
»Und?«
»Wenn sie mit einem Christen zusammen ist, benutzt sie den christlichen Namen Christine. Und wenn sie mit einem Moslem zusammen ist, heißt sie plötzlich Zaina.«
»Was versuchst du mir zu sagen?«
»Sie ist sehr schlimm.«
»Du glaubst, alle Menschen sind schlecht, wenn sie nicht so fromm sind wie du«, sage ich. Sie schüttelt den Kopf und steht auf.
»Das ist nicht gut für dich, du kannst sogar sterben«, erwidert sie und geht zum Kiosk. Bleibt dort. Endlich erscheint Marcus, und gleichzeitig kommt Claire wieder herein.
»Was für einen Mist erzählt deine Frau mir da?«
»Setzen wir uns auf die Veranda«, sagt er und gibt dem Hausmädchen Bescheid, ein paar Stühle auf die Veranda zu stellen. »Ich habe schon gestern versucht, es dir zu sagen«, beginnt er auf Englisch, damit Claire uns nicht versteht. »Claire redet mit den Leuten, in der Boutique und auch sonst in der Stadt. Die Leute sagen, das Mädchen heißt manchmal Rachel und an anderen Tagen Zaina, wenn sie mit einem Moslem zusammen ist. Und wenn der Mann Christ ist, heißt sie Christine.«
»Willst du damit sagen, dass sie eine Nutte ist?«
»Sie ist ein schlimmes Mädchen.«
»Du glaubst, alle anderen Mädchen außer der heiligen Claire sind Nutten, oder?«
»Claire hat sehr schlimme Geschichten über sie gehört. Es heißt, Rachel wäre nach Moshi gekommen, als ihr älterer Bruder in Arusha starb. Sie wohnte bei einer Tante und arbeitete als Kellnerin in einer Garküche, wo ein Leiter der Tanesco des Moshi Districts Gefallen an ihr fand. Er quartierte sie im KNCU Hotel über der Kibo Arcade in einem Zimmer mit Kühlschrank und Stereoanlage ein – seinen Sachen. Ihr wurde alles bezahlt: Aufenthalt, Mahlzeiten, Getränke, neue Kleider, gutes Taschengeld. Die Frau des Mannes war krank, deshalb hielt er sich Rachel. Aber er bezahlte nie das Bargeld, das er versprochen hatte, und nach zwei Monaten versuchte sie, sich mit der Stereoanlage aus dem Hotel zu schleichen. Allerdings wurde sie an der Rezeption angehalten, denn nicht sie bezahlte das Zimmer, und daher konnte es auch nicht ihre Anlage sein. Seither hat sie eine Menge anderer Männer durch ihre Arbeit als Kellnerin in der Garküche und im Kaufmannsladen kennengelernt. Und Claire behauptet, sie hätte mit ihnen geschlafen. Für Geld.«
»Das passt überhaupt nicht zusammen, Marcus. Wieso sollte sie dann arbeiten und in einer Kammer in Majengo wohnen? Du glaubst doch, alle sind Nutten. Du sagst, Claires Schwester sei eine Nutte. Und Claire glaubt, du würdest Nutten vögeln, wenn wir abends arbeiten. Und gleichzeitig möchte sie, dass ich mich in ihre Schwester verliebe, von der du ständig behauptest, sie sei eine Hure. Ich meine … Scheiße, was habt ihr denn nur im Kopf?«
»Dieses Mädchen versucht, einen guten Mann zu finden, der sie da rausholt. Darum muss sie beim Kaufmann arbeiten, damit der gute Mann sie sieht. Denn es sieht in den Augen eines guten Mannes hässlich aus, wenn sie sich in den Animierkneipen von Majengo rumtreibt.«
»Ich glaube dir kein Wort, Marcus. Du weißt nicht, wer sie ist. Was weißt du überhaupt?«
»Sie träumt vom guten Leben mit einem Mann«, erwidert er. »Am liebsten in Europa.«
Ich setze mich auf mein Motorrad, klappe den Kickstarter aus.
»Alle Frauen träumen von einem guten Leben mit einem Mann. Du bist es doch, der von Europa träumt«, sage ich und starte die Maschine. Fahre.
Marcus
DIE KUH UND DAS KALB
Ich bin jetzt Privatdetektiv. Ich stelle Nachforschungen über die kleine malaya an, die meinen weißen Jungen verhext hat. Zuerst rede ich mit Phantom, aber er verfolgt das Leben in der Stadt nicht mehr.
»Ich bin jetzt Family Man Phantom«, sagt er, denn er hat ein kleines Haus in Soweto gemietet. Die Einnahmen aus dem Valutahandel und der Schmuggelware müssen gut sein. Er hat sich ein Mädchen aus dem Dorf der Familie bei Ol Molog an der Nordseite des Kilimandscharo geholt und befruchtet. Phantom trägt noch immer Dreadlocks und sitzt den ganzen Tag in seinem kleinen Kiosk am Markt. »Aber bald bin ich weg«, sagt er.
»Wo willst du hin?«
»Tsk. Die Stadt ist zu einem Dreckhaufen geworden. Du kannst hier sogar sterben, nur weil ein anderer Mann deine Schuhe will. Ich werde nach Hause gehen, auf den Berg. Das Haus, das ich in Ol Molog baue, ist nächstes Jahr fertig.« Ja, wir werden allmählich alt. Ich bin zweiundzwanzig, und Phantom muss bald zehn Jahre älter sein als ich – wir können nicht ewig das Tempo durchhalten, das die Stadt fordert.
»Mit wem soll ich reden?«, frage ich ihn.
»Du kennst doch Big Man Ibrahim – er ist sehr interessiert an allen Damen.« Ja, Ibrahim, der mich auf seinen Pick-up gehoben hat, als das Blut wie ein Wasserhahn aus meinem Fuß lief. Jetzt ist er Karatelehrer im CCM-Gebäude und ein sehr teurer Bodyguard für mabwana makubwa. Ich suche ihn auf.
»Marcus«, sagt er. »Der Mann mit den zwei Beinen.« Ibrahim lacht. Nachdem er gelernt hat, nur mit seinen bloßen Händen zu töten, ist das Leben für ihn ein großer Spaß. Jede Sekunde wünscht er sich, dass jemand versucht, ihn zu schlagen, damit er sein Werkzeug benutzen kann. Ich frage ihn nach Rachel.
»Ja, chiki-chiki, sehr schöne titi«, sagt Ibrahim.
»Hast du mit diesen titi mal geredet?«
»Nein, nein, ich bezahle nicht für die Früchte, die ich esse.«
»Sie macht es für Geld?«
»Ich glaube, Alwyn macht Geschäfte mit ihr.«
»Verkauft er sie zum Pumpen?«
»Keine Ahnung. Aber wenn du sie nachts in der Stadt siehst, dann ist Alwyns Freund Tito immer in ihrer Nähe, damit du gar nicht erst versuchst, sie aufzugabeln.«
»Christian, der weiße Junge, ist total verhext von dem Mädchen.«
»Wirklich?«, sagt Ibrahim. »Weiß er, dass man auch das Kalb übernehmen muss, wenn man die Kuh besitzen will?«
»Hat sie ein Kind?«
»Ja, ja. Sie hat eine Tochter bekommen, nachdem Faizal sie gepumpt hat, aber jetzt ist das Kind weg.« Eeehhh – Faizal hat ein kleines Mädchen dick gemacht und so brutal getreten, dass sie davongelaufen ist, das wusste ich schon. Aber nicht, dass es sich um Rachel handelte, tsk. Das Kind lebt vermutlich bei ihrer Familie im Dorf, während sie versucht, für ihr Auskommen in der Stadt zu sorgen. Ibrahim grinst. »Der weiße Junge ist eine große Unterhaltung«, sagt er.
Christian
Ich ertrage Marcus nicht mehr – seinen ganzen Mist. Ich schlafe eine Nacht im YMCA, aber ich bin unruhig. Die Gedanken mahlen in meinem Kopf. Ich vermisse Rachel, aber sie ist auch … eigenartig. Vielleicht nicht eigenartig, sondern … Ich weiß einfach nicht, ob sie erwartet, dass ich sie auf Händen und Füßen trage, nur weil ich weiß bin? Und ich denke an die geile Art, wie sie geht – ein wenig träge, aber aufreizend. Und der Mist, den Claire erzählt hat, total unrealistisch. Aber ich kann mit Rachel nicht zusammen sein, weil sie die ganze Zeit arbeitet. Mist. Wieso sollte sie ständig arbeiten, wenn sie eine Hure ist? Dann hätte sie Geld. Sie ist arm. Sie trinkt nicht, sie raucht nicht und isst meist an ihrem Arbeitsplatz.
Am nächsten Morgen fahre ich zu Katriina, um zu sehen, ob ich Post bekommen habe, denn ich benutze ihr Postfach. Es gibt nichts.
Katriina schlägt vor, mit Göstas Frau zu reden. Im Augenblick arbeitet er bei einem SIDA-Projekt in Uganda, aber er hat sich ein großes Haus in Shanty Town gebaut, in dem seine Frau und ihre beiden Kinder wohnen. Ich rufe wieder und wieder in Uganda an, bis ich endlich eine Verbindung bekomme. Zum Glück ist Gösta entgegenkommend.
»Ich werde mit meiner Frau reden«, verspricht er und erzählt, dass das Haus ein kleines Gästehaus hat, das ein Stück vom Hauptgebäude entfernt auf dem Grundstück steht. Vielleicht kann ich es mieten. »Aber sie entscheidet so etwas. Fahr hin und rede mit ihr.«
Katriina erklärt mir, wo sie wohnen. Ich fahre am nächsten Tag hin. Gösta hat mit seiner Frau gesprochen, und sie nennt ihren Preis, der ein wenig hoch, aber akzeptabel ist. Anders schickt mir nach wie vor jeden Monat die Hälfte meiner Sozialhilfe in Form von Travellerschecks – eine direkte dänische Auslandshilfe. Es ist kein Problem.
In ein paar Wochen kann ich einziehen.
Das Shukran Hotel läuft freitags und samstags gut, aber es wirft nicht sehr viel Geld ab. Die Leute in Swahilitown sind arm, daher können wir keinen hohen Eintritt verlangen – niemand würde kommen. Wir brauchen mabwana makubwa, aber dazu braucht es einen großen Laden wie das Moshi Hotel oder das Liberty, und es ist die große Ausrüstung notwendig. Rogarth und Khalid sind inzwischen eine große Hilfe. Sie reden mit einer Menge Leute und beschaffen Jobs. Wir spielen bei Geburtstagen, Hochzeiten und Schulfesten auf dem Berg. Es läuft einigermaßen rund, da Marcus weiterhin Geld mit dem Kopieren von Kassetten im Roots Rock verdient. Aber ich verdiene nicht genug, um gut zu leben – es geht nur mithilfe des Geldes von der Stütze, das Anders mir schickt.
Ich rufe Anders an. Er berichtet, dass alles glattgegangen ist. Er hat meine Anlage mit einem Spediteur nach Oslo geschickt, von dort soll sie mit einem kirchlichen Transport nach Moshi gebracht werden. Er hat in Norwegen angerufen, um sich zu vergewissern, dass sie dort angekommen ist.
»Und ich komme demnächst mal runter und besuche dich«, erklärt er.
»Ja, klar. Aber warte noch ein paar Monate, bis ich ein paar Sachen angeleiert habe. Im Moment habe ich auch gar keine richtige Wohnung. Aber sobald die Ausrüstung da ist, wird’s laufen.«
»Okay«, sagt Anders. »Aber spätestens Weihnachten.«
»Das ist ein Wort.« Es sind bis dahin noch über sechs Monate, das passt ausgezeichnet.
Ich fahre zum Büro der Pfingstkirche und frage den Norweger, ob er etwas von der Sendung gehört hat. Nein, noch nicht. Er verspricht, mir Bescheid zu geben.
Dann fahre ich zu Marcus’ Roots Rock, denn Khalid hat von einer Lagerhalle etwas außerhalb an der Uru Road erzählt, die leer steht. Vielleicht ist es eine Idee, die Halle zu mieten und dort eine Disco aufzuziehen.
»Ich werde den Besitzer ausfindig machen und morgen mit ihm reden«, verspricht Marcus.
»Okay, morgen. Dann komme ich morgen Abend vorbei, und du erzählst mir, was dabei herausgekommen ist.«
»Gut. Und wie läuft’s mit deiner Freundin?«
»Ziemlich gut, denke ich.«
»Habt ihr euch inzwischen kennengelernt?«
»Was meinst du?«
»Bist du mit mir einer Meinung, dass man ehrlich sein sollte? Wenn man befreundet ist und etwas gemeinsam hat, muss man sich die Wahrheit sagen, auch wenn die Wahrheit hart ist?«
»Ja, klingt vernünftig«, erwidere ich.
»Hat dieses Mädchen dir erzählt, dass sie zu Hause in ihrem Dorf eine kleine Tochter hat?«
Das Blut schießt mir ins Gesicht.
»Eine Tochter?«
»Ja, vor über einem Jahr hat sie Faizals Tochter hier in Moshi geboren.«
»Dem DJ vom Moshi Hotel?«
»Ja, sie haben geheiratet und alles. Aber Faizal hat sie rausgeschmissen, und jetzt lebt die Tochter bei ihrer Familie im Dorf«, erzählt Marcus.
»Wieso hat er sie rausgeschmissen?«
»Ich weiß es nicht, aber plötzlich höre ich von einem Freund auf der Straße, dass mein weißer Freund mit einem Mädchen herumläuft, die verheiratet ist und eine Tochter hat.«
»Aber sie ist doch nicht mehr mit Faizal zusammen.«
»Nein. Jetzt zieht sie mit dir herum, erzählt dir aber nicht einmal etwas von ihrem Kind. Das ist falsch. Vielleicht erzählt sie auch nichts von anderen Liebhabern.«
»Willst du damit sagen, sie hat andere?«
»Keine Ahnung. Aber du musst einsehen, dass dieses Mädchen dir nichts erzählt.«
Ich drehe mich um und verlasse den Laden – kalter Schweiß läuft mir über die Rippen. Verfluchter Mist, was treibt sie? Ich … ich bin verrückt nach ihr, aber sie erzählt mir nicht, was verdammt noch mal los ist. Ja, es ist hier normal, dass ein junges Mädchen ihr Kind von den Eltern aufziehen lässt, aber, fuck, jetzt sagt Marcus, Rachel wäre verheiratet. Mit Faizal. Und sie hat mir nichts davon erzählt. Das ist zu viel.
»Christian!« Rachel ruft am Kaufmannsladen nach mir, als ich auf die Straße trete. Ich ertrage ihren Anblick nicht. Mir stehen die Tränen in den Augen. Ich reagiere nicht. Setze mich auf mein Motorrad, trete den Kickstarter, fahre davon.
Marcus
VERRÜCKTE SCHICKSE
Eeehhh – Zeit für Schreierei. Fünf Sekunden, nachdem das Motorrad weggefahren ist, steht die Hure in meinem Laden.
»Was hast du zu ihm gesagt?«
»Tsk. Du versuchst, meinen Partner mit deiner wundersamen Pumperei zu verhexen, aber alles, was du ihm erzählst, sind Lügen. Du bist sogar verheiratet und hast ein Kind in deinem Dorf. Und ich höre alle Geschichten über dich und deine Pumperei für Geld im KNCU Hotel. Du bist ein dreckiges Flittchen. Eine totale malaya.«
»Das stimmt nicht. Das ist bloß übles Gerede.«
»Stimmt es nicht, dass du mit Faizal verheiratet bist und eine Tochter hast?«, frage ich und ziehe wie ein Richter die Augenbrauen hoch.
»Tsk. Faizal ist ein schlechter Mann, und meine Tochter ist bei meinem Vater, während ich in Moshi arbeite. Weshalb zerstörst du meine Chance mit Christian? Er mag mich.«
»Er ist von dir verhext worden«, sage ich. »Aber ich bin sein Freund, und darum ist es meine Aufgabe, ihm die Wahrheit zu erzählen, während du lügst. Die Leute erzählen mir, dass du eine Menge unsauberer Geschäfte mit Alwyn und dem verrückten Tito machst. Lass Christian in Ruhe.«
Ihr Körper bebt, so wütend ist diese Rachel. Sie steht in der Tür, starrt mich an, und dann spuckt sie – weit. Die Spucke landet direkt auf meinem Hemd. Dann ist sie weg. Verrückte Schickse.
Christian
Ich muss mit Rogarth reden. Ich fahre zum Industriequartier bei Majengo und hupe vor dem baufälligen Gebäude, in dem Rogarth sich mit drei anderen Burschen ein Zimmer teilt.
»Christian«, sagt er lächelnd, als er aus der Tür tritt – wir klatschen die Handflächen gegeneinander.
»Wir müssen uns unterhalten«, sage ich, ohne den Motor abzustellen. »Komm mit.«
»Okay.« Er holt sich seine Jacke und setzt sich hinter mich.
»Wo können wir hier in der Nähe ein Bier trinken?«
»In Majengo«, schlägt er vor und zeigt nach vorn.
Wir sitzen eine Weile da, ohne ein Wort zu sagen. Ich sehe Rogarth an, schaue mich um, zünde mir eine Zigarette an, nehme einen tiefen Zug.
»Marcus sagt, Rachel lebt auch so ein Leben«, beginne ich, während ich mir die malaya ansehe, die an den Tischen um uns herum sitzen.
»Rachel? Nein, sie ist nicht so«, behauptet Rogarth.
»Woher willst du das wissen?«
»Wieso sollte sie den ganzen Tag bei einem Kaufmann Limonade verkaufen, wenn sie nur ein Wochenende pumpen müsste und damit ihren ganzen Monatslohn verdient hätte?«
»Tja, das hab ich mir ja auch gedacht.«
»Dieser Marcus, tsk. Er redet von allen Menschen schlecht und sitzt selbst jeden Abend an der Bar und prahlt, dass er bald der Chef der größten Diskothek von Moshi sein wird.«
»Blödsinn. Einen Scheißdreck kann er ohne mich anfangen.«
»Das Wichtigste ist, den richtigen Ort zum Spielen zu finden, wenn die große Anlage da ist. Einen Ort, zu dem die Kunden strömen«, sagt Rogarth.
»Alwyns Anlage im Liberty ist so gut wie hinüber.«
»Ja, aber der Besitzer des Liberty ist ein Idiot. Er hält sich nie an ordentliche Absprachen.«
»Rachel hat eine kleine Tochter. Ich weiß es. Aber sie hat mir nichts davon erzählt.«
»Ja, sie hat eine Tochter«, bestätigt Rogarth. Er scheint nicht schockiert zu sein, dass sie ein Kind hat und ich es weiß. »Mit Faizal«, fügt er hinzu. »Aber ihre Tochter wohnt bei der Familie im Dorf, damit Rachel ihr eigenes Leben führen kann. Das ist normal. Es ist nicht ihre Schuld, dass Faizal unerträglich ist.«
»Wie alt ist die Tochter?«
»Halima«, sagt Rogarth. »Anderthalb, glaube ich.«
»Kannst du für mich etwas erledigen? Such einen guten Ort für eine große Diskothek – einen Platz, wo wir eine ordentliche Abmachung treffen können.«
»Ich werde ihn finden«, verspricht Rogarth.