Mal hü mal hot(t)?
Ich war das erste Mal bei Colette.
Sie wohnte in einem Zwei-Zimmer-Appartement in Kreuzberg im flotten Bergmannkiez. Als ich ihre Wohnung betrat, war ich sofort hingerissen vom gemütlichen und extravaganten Ambiente: viele schöne Ölbilder an den Wänden, klassische Stehlampen, abstrakte Skulpturen, volle Bücherregale, ein echter, funktionierender Plattenspieler, samtbezogene, rote Couch und passende Sessel im Barockstil, ein Kristallkronleuchter, der mit seinem warmen Licht das Wohnzimmer bis in alle Ecken erleuchtete, dicke Wollteppiche in beiden Zimmern und auch im Flur, ein angenehmer Geruch in der Luft, der an gebeiztes Holz erinnerte … oder Zimt …
Auch Colettes Küche war - im Gegensatz zu meiner lieblosen und kargen - heimelig und einladend, duftete nach allen möglichen Gewürzen und Aromen und war mit einer kleinen Essecke, bestehend aus einem kleinen, quadratischen Tischchen und zwei Stühlen aus dunklem Massivholz, schlicht und trotzdem stilvoll eingerichtet. Auf der Fensterbank standen kleine, buntbemalte Pflanzentöpfe, in denen sie Kräuter zog, und außerdem noch eine schwarze Stahlvase mit einem frischen Strauß roter Rosen. Als sie meinen fragenden Blick sah, verriet sie mir, dass sie die Rosen von einem Verehrer aus dem Haus hatte … Nein, sie würde sich »niescht« für ihn interessieren, nein, er sei leider »absolüt und undertprozent niescht« ihr Typ.
In ihrem Schlafzimmer herrschte das absolute Chaos: bunte Stoffrollen, herumliegende Stoffreste, drei Schneiderbüsten, dicht behängte Kleiderstangen, Nähtisch mit Maschine und diversen Utensilien und ein riesiger Kleiderschrank, den sie öffnete, um mir stolz ihre vielen selbstgeschneiderten Klamotten zu zeigen.
»Die hast alle du entworfen und genäht?«, fragte ich voller Bewunderung.
»Mhm, iest mein Obby …«, antwortete sie lächelnd.
Ich war wirklich begeistert von ihrem besonderen Talent. »Wusste ich gar nicht. Schönes Hobby, Colette, wirklich, ich wünschte, ich könnte so was auch, aber ich bin da absolut unfähig. Ich kann kaum einen Knopf annähen.«
Sie schob die Kleider auf ihrem Bett beiseite, setzte sich auf den Rand und schlug die Beine übereinander. »Ach was, das kann man lernen, Vallrie.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Ne, glaub mir, ich nicht.«
Skeptisch musterte sie mich ein Weilchen und sagte schließlich. »Oh oh, du ast aberr niescht viel Vertrauen in diesch, rischtisch? Das müssen wir unbedingt ändern!«
Ich hob die Augenbrauen und nickte. »Na ja, vielleicht ist das so, ich weiß nicht, kann schon sein … Ach Colette, ich glaube, also, ich glaube, ich steh mir ganz oft selbst im Weg.«
Später tranken wir ein Glas Beaujolais in ihrer Küche. Colette erzählte, dass ihre Familie aus der Bretagne stammte und irgendwann nach Paris umgesiedelt war. Sie schälte in einem ungeheuren Tempo Zwiebeln und Knoblauch, rieb sie in eine Pfanne mit Olivenöl und gab anschließend das in kleine, dünne Streifen geschnittene Hühnerbrustfilet dazu. Es sei ein Familienrezept, wie sie mir mit Stolz verriet.
Ich war froh, in ihrer Küche sitzen dürfen, ihr zuzuhören und mit ihr zu kochen, denn sonst wäre ich allein in meinen vier Wänden gewesen und hätte alle zwei Sekunden ungläubig und frustriert auf mein Handy gestarrt und meine Haare zerwühlt.
Gut, auch hier hatte ich das verfluchte Ding im Visier, aber Frust und Traurigkeit und vor allem die Sehnsucht nach Finn konnten mich nicht übermannen, solange Colette in meiner Nähe war und ich eine Aufgabe hatte: Ich musste Petersilie und Minzblätter kleinhacken …
Das Essen schmeckte fantastisch, trotzdem schien jeder Bissen in meinem Hals stecken bleiben zu wollen.
Colette entging nichts. Sie sah mich nachdenklich an, trank einen Schluck Wein und meinte: »Also, Vallrie, iesch muss jetzt sagen, dass du diesch zu viel fertisch machst.« Ich schwieg und wartete, denn sie wollte offensichtlich auf etwas hinaus.
»Wegen einem Maan solltest du niescht aussehen wie undert Jahre Rögen, eh!«
Ich musste schmunzeln. »Das heißt ‚Sieben Tage Regenwetter‘, Colette. Hundert Jahre sind doch etwas übertrieben.«
»Du siehst aberr so aus, meine Liebe.« Sie machte einen mitleidigen, aber auch etwas vorwurfsvollen Gesichtsausdruck.
»Gut, dann seh ich aus, wie ich mich fühle.«
»Und was willst du dagegen tun?«, fragte sie in einem herausfordernden Ton.
»Ich warte ab, bis er sich meldet«, entgegnete ich schwach.
»Hm.« Colettes Skepsis war überdeutlich. »Wenn du ihn sprechen willst, dann solltest du das tun, Vallrie, wo ist das Problemm?«
Ja, wo war eigentlich das Problem?
Aber intuitiv wusste ich, ich hatte ihn nicht zu bedrängen. Also keine verzweifelten Anrufe starten! Es war - verdammt - so schwierig!
Spät gegen Abend, als Colette und ich gemeinsam auf ihrer Couch unter einer Wolldecke kauerten, Cracker aßen, über dieses und jenes sprachen und uns währenddessen durch das TV-Programm zappten, meldete sich mein Handy so laut, wie ich es hatte einstellen können, und ich glaube, ich entging nur knapp einem Herzinfarkt. Mit zitternden Fingern griff ich danach und blickte voller ängstlicher Hoffnung, als würde mein zukünftiges Seelenheil von dem Anrufer abhängen, auf das Display.
Nein, der Anruf kam nicht von Finn, sondern von Patrick, was - nach der ersten Sekunde der Erkenntnis und der darauf folgenden unermesslichen Enttäuschung, die sich brennend wie heißes Wasser über mich ergoss - natürlich auch Freude in mir auslöste und mich ein wenig tröstete. Ich sammelte mich schnell, schluckte und meldete mich so fröhlich klingend, wie es nur ging.
»Hey, Paddy, seid ihr gut angekommen?«
»Ja, heute Morgen gegen 06.00 Uhr Ortszeit, die sind hier fünf Stunden hinterher. Wir haben‘s jetzt … Moment, warte … Es ist genau 18 Uhr. Na, jedenfalls, sind wir jetzt im Hotel, und morgen kümmern wir uns um die Motorräder. Wir sind irgendwie total zerschossen, aber Lenny will unbedingt noch einen Streifzug unternehmen. Werd es ihm ausreden. Wie geht‘s dir?«
»Mir geht‘s super, bin gerade bei Colette, wir machen so einen Girlie-Abend. Wir haben toll gekocht, oder besser gesagt, Colette hat toll gekocht, sie hat‘s echt drauf!«
»Lenny sagt schöne Grüße. Ich meld mich wieder, wenn wir unterwegs sind.«
Colette gab mir per Handzeichen zu verstehen, dass ich die beiden auch in ihrem Namen grüßen sollte. »Okay, Gruß zurück … und auch von Colette, sie macht mir grade Zeichen deswegen«, sagte ich.
»Tschau, Valerie, ich ruf wieder an.«
»Okay.« Ich drückte auf Anruf Ende und nahm erstmal tief Luft, wischte mir über die Stirn und legte das Handy weg. Colette sah mich lächelnd an. »Ihr abt würklisch eine tolle Freundschaft, Vallrie!«, sagte sie und ich nickte zustimmend. Das war wohl wahr. Immerhin. Das konnte mir niemand nehmen!
Ich schlief bei Colette. Am nächsten Morgen konnte ich ausgiebig duschen, mir - auf ihre ausdrückliche Bitte hin - Klamotten ausborgen und mit einer gut gelaunten Colette - sie versicherte mir, dass sie morgens immer bei bester Laune und aufgedreht sei - Croissants mit Marmelade und Kaffee einverleiben.
Auf dem Weg zur Arbeit nahm Colette mir auf eine raffiniert liebenswerte Art das Versprechen ab, am Abend - komme, was wolle - bei Finn anzurufen, sollte er sich bis dahin nicht bei mir gemeldet haben. Vielleicht versprach ich es auch deshalb, weil ich genau wusste, dass ich einen weiteren Tag ohne Kontakt nicht würde aushalten können. Ich glaubte, was auch immer passieren würde, alles würde besser sein, als dieser elende Zustand der Ungewissheit.
So kam ich, mit einer hoffnungsvollen Entscheidung, ganz gut durch meine Schicht.
Es war heute viel mehr los als sonst, weil ganze Schulklassen kamen, um sich am Kinotag ‚Avatar‘ anzusehen, der immer noch sehr erfolgreich lief.
Mein Handy blieb so stumm und bewegungslos, dass ich es zweimal aus meiner Gesäßtasche zog, um zu checken, ob es auch an war und mit dem Empfang und dem Akku alles stimmte. Ich machte sogar einen Testanruf bei meinen Eltern und erfuhr von meiner Mutter, dass Natalie sie am Sonntag besucht und von unserem »tollen Abend im ‚MikroManiac‘« erzählt habe. Sie, Natalie, sei sehr froh, dass wir uns wiedergesehen hätten, und habe sehr lieb über mich und meinen neuen Freund gesprochen. Er sei doch jetzt mein neuer Freund, oder etwa nicht?
Nachdem sie die Frage rausgehauen hatte, wartete sie stillschweigend - sicher zum Platzen neugierig - auf meinen Kommentar. Zuerst wollte ich nicht darauf eingehen, hielt es dann doch für klüger, ihr die gewünschte Info zu geben und sagte, dass ich den Abend und das Treffen mit Natalie auch schön fand. »Und ja, Mama, er ist mein neuer Freund.«
Hoffentlich!
Ich hörte sie lächeln. »Oh, weißt du, Valerie, ich freue mich sehr, dein Papa auch. Finn ist wirklich ein sehr netter junger Mann … mit viel Charme und so gut aussehend.« Ich lauschte geduldig, denn, wie ich sie kannte, würde sie auf irgendeine Art Ermahnung zum Schluss nicht verzichten können. Und die kam auch prompt: »Trotzdem, du passt schön auf dich auf, ja, du weißt schon, was ich meine!«
Der Groschen fiel erst einige Sekunden später. »Oh, ah ja, na klar, Mama, also echt. Ich bin erwachsen, mach dir mal keine Gedanken, ich kann mich schon gut schützen, versprochen.«
Es war schon mein zweites Versprechen an diesem Tag. Ich sollte wirklich etwas sparsamer mit meinen Versprechen sein, dachte ich, so ganz nebenbei.
Auf dem Heimweg wuchs meine innere Anspannung rapide an, denn ich wusste, der Zeitpunkt, an dem ich meinen gewagten Entschluss würde in die Tat umsetzen und die Initiative ergreifen müssen, kam immer näher.
Und als ich zuhause in meiner kalten Küche saß und mein Handy lang genug angestarrt und erfolglos beschworen hatte, nahm ich es endlich in die Hand, atmete mehrere Male ganz tief ein und aus und tat, was ich glaubte, nicht lassen zu können: Ich drückte auf die Kurzwahltaste, auf der ich Finns Nummer gespeichert hatte.
Ich war so entsetzlich aufgewühlt, dass ich am liebsten einen Rückzieher gemacht hätte, aber ich wusste, ich musste da durch, war am Ende meiner Kräfte und kein Widerstand war mehr möglich, war so am Ende, dass es mich nicht mehr kümmerte, was mein Handeln für Konsequenzen haben würde, Hauptsache, ich hatte wieder Kontakt zu ihm. Ich brauchte es so dringend, als hinge mein Seelenheil davon ab, wenn ich nicht …
Jedes einzelne Fragment meines Selbst, alles in mir drin hungerte unnachgiebig nach seiner Nähe, und ich dachte voller ehrfürchtiger Einsicht: So ist das also! So ist das also, wenn man jemanden abgöttisch liebt.
Ich hörte ein Freizeichen, hoffte sehr, dass mein Herz nicht anschwellen und aus meinem Brustkorb herausplatzen würde, hoffte, dass ich die richtigen Worte finden würde … hoffte so vieles …
»Hel… Hallo, Valerie!?«
Ich schluckte aufgeschreckt. Es war seine Stimme. Wasser für eine Verdurstende … »Ja, ich bin‘s … ähm, ich … ich wollte dich nicht stören, bitte sag‘s mir, falls ich störe, aber … ich muss dich sprechen, Finn.«
Stille.
Nicht einen einzigen Ton konnte ich vernehmen, als wäre er gar nicht dran … Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis er wieder etwas sagte: »Du störst nicht. Worüber wolltest du mit mir reden?«
Er klang so kühl und sachlich. Oh, bitte nicht … Mein Magen begann bereits, sich zu verkrampfen. Aber ich durfte mich nicht irritieren lassen … nein, jetzt nicht irritieren lassen …
Denk an all die schönen Momente, die wir hatten …
Ich musste fest daran glauben, dass ich ihm etwas bedeutete … »Ich wollte wissen, ob du … wann du … ob … ähm … Bist du fertig mit deinem Text? Diesem Artikel, den du schreiben wolltest … diese Dämmerlicht Sache? Ich mein, falls ja, dann könnten wir uns doch treffen, wenn du Lust hast?«
Ich wartete nervös auf seine Antwort.
»Bin ich«, sagte er tonlos. Dann nach einer kurzen Pause: »Willst du herkommen?«
Er betonte die Sätze wie ein berufsmüder Beamter, und trotzdem wäre ich vor Freude fast vom Stuhl gefallen.
»Oh, okay. Soll ich … wann soll ich kommen? Wann wäre es dir recht?«
Oh ja, wie demütig ich klang und mich fühlte, und wie wenig es mich scherte, will ich lieber nicht weiter ausführen.
Er sagte: »Komm, wann du willst.« Und überglücklich antwortete ich, dass ich so in einer Stunde da sein würde, und ob ich was zu trinken mitbringen solle?
»Nein«, sagte er daraufhin,.
»Okay, also, bis dann, Finn«
»Ja, bis dann:«
Ich drückte mein Handy an die Brust und starrte ungläubig in die Luft. Es war, als wäre ich nach einem nicht enden wollenden freien Fall nun doch noch im Sicherheitsnetz gelandet, purzelte darin herum, immer noch ohne Gleichgewicht, immer noch ohne festen Boden unter den Füßen, aber wenigstens fiel ich nicht mehr …
Ich stand vor Lennys Haus und fragte mich, wann ich jemals in meinem Leben so unsicher, so eingeschüchtert, so aufgeregt und so schrecklich sehnsüchtig nach etwas gewesen war wie in diesem furchtbaren Moment. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, was kein Wunder war, schließlich hatte ich etwas Ähnliches noch nie erlebt.
Mein Atem ging schnell. Ich sah ihn sehr deutlich vor meinem Gesicht kondensieren. Die Nacht war pechschwarz: kein Mond, keine Sterne, keine Sternschnuppe - nirgends - für einen einzigen geheimen Wunsch … und so bitterkalt. Bestimmt waren es Minusgrade. Sie drangen eisig und rücksichtslos unter meine Haut. Ich brauchte ganz dringend Wärme …
Ich drückte auf die Klingel … The point of no return … Mein Puls begann zu rasen, mein Mund auszutrocknen, und das verhasste innere Zittern setzte ein. Ein lauter Summton ließ mich reflexartig die Tür aufdrücken. Ich nahm die Treppe, Stufe für Stufe, langsam, atmete, hoffte, atmete …
Als ich vor der Wohnungstür stand, öffnete sie sich, noch bevor ich den Finger zur Klingel geführt hatte.
Seine Augen waren gerötet, die Haare strähnig. Er trug ein schwarzes Hemd, das halb in seiner Jeans steckte und halb heraushing.
»Komm rein«, sagte er mit einem knappen Lächeln, ging einen Schritt zur Seite und schob die Tür weiter auf.
»Hi, Finn.«
Nervös bis unter die Zehennägel trat ich ein. Er schloss die Wohnungstür zu, nahm mir Mütze und Schal ab, damit ich meine Jacke ausziehen konnte, gab mir anschließend einen schnellen Kuss auf die Wange und sagte: »Hi.«
Er hatte den berühmten Drei-Tage-Bart, dessen Stoppeln schon unangenehm piksten.
Tja, einen Kuss auf die Wange zu bekommen, war … einfach nur ganz schrecklich, entsetzlich, furchtbar … und kaum hilfreich gegen mein inneres Zittern … Wie würde dieses durch mich und meine Verzweiflung erzwungene Wiedersehen weitergehen? Wie würde ich es meistern?
Oder er?
Ich folgte ihm bis ins Zimmer, in das ihn Lenny fürsorglich einquartiert hatte, trat nur zögerlich ein, als würde ich verbotenes Terrain betreten und sah mich unsicher um. Er hatte für eine angenehm warme Raumtemperatur gesorgt, allerdings schien er kein Freund von Ordnung und Sauberkeit mehr zu sein.
Die Aschenbecher waren randvoll, leere Bierflaschen standen auf dem Fenstersims, sein Bett war nicht gemacht, eine Jeans und ein gelbes T-Shirt lagen wie hingeschmissen auf dem Boden und die türkisblauen Chucks lagen daneben, nur wenig entfernt vom kleinen Beistelltisch, neben der … oh, oje … was …??
»Bevor du einen Schreck kriegst …«, sagte er plötzlich mit einem schuldvollen Blick und jagte mir erst recht einen ein. »Die Elisabeth … nein … Elsbeth hieß die … Diese Elsbeth-Pflanze ist, wie du siehst, futsch. Okay, ich bin gleich wieder da.«
Er lief eilig aus dem Zimmer.
Ungläubig stand ich vor den abgeknickten, zerrissenen, scheinbar wie mutwillig beschädigten Blättern der ehemals schönen, stolzen Elsbeth. Ihr großer Terracotta Topf war samt Untersetzer mehrfach zerbrochen, die Scherben ragten hier und da aus dem Haufen Blumenerde heraus, die sich dunkel und krümelig auf dem Boden verteilt hatte. Voller Sorge checkte ich gleich die übrigen Pflanzen, konnte aber zum Glück feststellen, dass es ihnen gut ging und sie prima aussahen.
Finn kam mit zwei dicken Gläsern, die er zwischen den Fingern einer Hand hielt und einer halbvollen Flasche Whiskey zurück. Er sah mich kaum an, kickte mit dem Fuß die Decke von der Matratze und setzte sich.
Ich stand immer noch wie versteinert vor dem grünen Pflanzenschlamassel, entdeckte das Namenskärtchen, das verdreckt und verschmiert auf dem Boden lag, hob es auf, wischte es an meinem Hosenbein ein wenig sauber und legte es auf den kleinen Beistelltisch.
Ich sah ihn bestürzt an.
»Val, komm«, sagte er und deutete mir mit einer herwinkenden Geste, dass ich mich zu ihm setzen sollte.
»Gönnen wir uns einen Schluck echten irischen Whiskey, okay?«
Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber, wie auch immer …
Ja, ich wollte neben ihm sitzen, wollte ihn berühren, wollte, dass er mir sagte, was zwischen uns war oder nicht war, und warum ich ihn so sehr vermissen musste, bis ich es kaum noch aushalten konnte, und warum ich nur noch Wangenküsse bekam und er so ungepflegt aussah und was Lennys Pflanze widerfahren war …?
»Wenn es dich interessiert, erzähl ich‘s dir … das mit der Pflanze«, sagte er, als hätte er meinen letzten Gedanken erraten.
Ich setzte mich neben ihn.
Er hielt mir mit einem schiefen Lächeln ein Glas Whiskey hin. Widerstandslos nahm ich es ihm ab.
Wenn ich das alles austrinke, bin ich im Nullkommanix betrunken, dachte ich ernsthaft besorgt.
Er hob sein Glas und sagte etwas verhalten. »Cheers, Babe.«
»Cheers«, entgegnete ich, lächelte ihn zaghaft an, konnte einfach nicht anders … Ich durfte wieder in diese Augen blicken, hatte endlich, was ich wollte und ganz offensichtlich brauchte.
Wir stießen vorsichtig unsere Gläser gegeneinander und tranken einen Schluck. Na ja, ich trank einen kleinen winzigen Schluck, verzog unweigerlich das Gesicht, während Finn sein Glas in einem Zug fast halbleer trank.
»Okay, also, ich denke mal, du würdest mir nicht glauben, wenn ich erzähle, dass ich … gestolpert und gegen die Pflanze gefallen bin und dabei auch der Topf zu Bruch gegangen ist, stimmt‘s?«
Ich überlegte schnell und kam zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich betrunken gewesen sein musste, als es passierte, auch wenn es seltsam schien, dass die Pflanze wie zerhackt aussah, aber darüber wollte ich mir nicht weiter den Kopf zerbrechen.
»Doch, ich glaube dir«, sagte ich.
Er sah mich überrascht an, die Augenbrauen weit hochgezogen: »Ist nicht wahr, jetzt?«
»Doch, ich mein, du warst betrunken, nehme ich an.« Ich hoffte, dass er mir diese Spekulation nicht übel nahm. Finn schüttelte stumm den Kopf und trank daraufhin sein Glas auf ex.
»Du bist so gutgläubig, Val«, sagte er mit einem leicht schwammigen Blick.
»Wieso sagst du das?«, entgegnete ich verunsichert. Es war nicht unbedingt verständlich, warum er mich »gutgläubig« fand.
Er schenkte sich grübelnd Whiskey nach, legte den Kopf schief und behauptete: »Weil du irgendwie so unkritisch bist.«
Jetzt fing ich an, mich unwohl zu fühlen, obwohl es mich immer noch nach seiner Nähe zog, als wäre er ein überstarker Magnet.
»Warum hast du mich angerufen?«, wollte er auf einmal wissen.
Was sollte ich sagen, außer der Wahrheit? »Ich musste dich sehen«, antwortete ich leise, von meinen guten Gefühlen für ihn ermutigt. »Ich hab dich verdammt vermisst, Finn«
Er sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, als würde er mir kein Wort glauben. »Und weshalb?«
Seine seltsamen Fragen waren irritierend und auch verletzend. Wie konnte er mich fragen, weshalb ich ihn vermisst hatte. Es ergab keinen Sinn.
»Finn …«, setzte ich wieder an. »Ich hab dich vermisst, weil ich … weil ich in dich verliebt bin und dachte, wir seien zusammen, deshalb!« Ich sah ihn vollkommen hilflos und eingeschüchtert an. Sein misstrauischer Gesichtsausdruck wollte einfach nicht verschwinden und drohte mir damit den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
»Du sagst also, du liebst mich, und dann rufst du erst nach zweieinhalb Tagen bei mir an. Findest du, das klingt nach jemandem, der voller Liebe und Sehnsucht ist, Val? Sag mal ganz ehrlich, ha?«
Meine Irritation wuchs mit jedem Wort, das über seine Lippen kam. Ich konnte mit seiner Logik nicht viel anfangen. Irgendwie hatte er alles verdreht, oder etwa nicht? Ich war völlig durcheinander. So stimmte die ganze Geschichte doch gar nicht.
»Aber …« Ich versuchte, in meinem Kopf einen sinnvollen Satz zu formulieren. »Ich dachte, du willst nicht, dass ich dich anrufe.«
Er sah mich irritiert an. »Habe ich so etwas gesagt?«
Ich musste gestehen: »Nein … nicht direkt …«
»Also nein!«
»Du hast aber gesagt, dass du mich anrufen wirst.«
Er kniff ungehalten die Augen zusammen. »Und habe ich auch gesagt, dass du mich nicht anrufen darfst, oder habe ich gerade eine Lücke in meinem Gedächtnis? Hilf mir auf die Sprünge, Valerie, habe ich gesagt, du darfst mich nicht anrufen?«
Was für ein bescheuertes Hin und Her!
Ich war inzwischen bis aufs Mark verunsichert, weil ich absolut nicht begriff, worauf er eigentlich hinauswollte und vor allen Dingen, was ihn überhaupt so aufbrachte.
Stritten wir etwa? Aber worüber eigentlich?
»Vielleicht war alles ein Missverständnis, Finn«, versuchte ich einzulenken. Ich wollte, dass wir nett zueinander waren. Ich hatte ihn so sehr vermisst. Ich wollte ihn umarmen, küssen, seine Wärme spüren, all das, und nichts davon schien gerade möglich.
»Missverständnis? Hm? Trotzdem, Valerie, wenn du, wie du sagst, mich lieben würdest, hättest du dich anders verhalten. Du hättest noch am Sonntagabend angerufen, und wir hätten uns sehen können. Ich weiß nicht, wie ich dir glauben soll, verstehst du? Du handelst nicht sehr glaubwürdig.«
Auf einmal war ich den Tränen nahe.
Ich spürte, wie meine Augen leicht zu brennen begannen, das tun sie immer, bevor es losgeht. Ich durfte auf gar keinen Fall weinen. Wie würde das denn aussehen? Als wäre ich wirklich schuldig im Sinne der Anklage, dabei war ich reinen Gewissens. Er sah alles verquer, hatte keine Ahnung, wie ich gelitten hatte. Wie konnte er überhaupt … diese Zweifel … woher kamen die bloß?
»Finn, bitte, du kannst mir glauben. Ich habe dich ganz furchtbar vermisst, wie ich noch nie zuvor jemanden vermisst habe. Ich dachte wirklich, ich soll dich in Ruhe lassen, damit du arbeiten kannst. Aber heute habe ich es nicht mehr ausgehalten und musste dich einfach sehen. Bitte, das ist die ganze Wahrheit. Was kann ich denn tun, um dich zu überzeugen, sag es mir doch einfach?«
Er seufzte und griff nach einer Packung Zigaretten.
»Trink den Whiskey«, sagte er und klang beinah ein bisschen freundlich. »Ist wirklich gutes Zeug, war ziemlich teuer.«
Er zog eine Kippe aus der Schachtel und bot mir auch eine an. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich wollte auch nichts ablehnen. Wie das alles zusammenpassen sollte, war mir schleierhaft, aber in der Hoffnung, dass er von seinem merkwürdigen Trip wieder runterkam, machte ich einfach alles mit. Ich nahm einige Schlucke von meinem Drink, schüttelte mich und spürte sofort, wie mir innerlich wärmer wurde und die Gedanken sich ein wenig leichter anfühlten. Whiskey kannte bei mir offensichtlich eine Abkürzung direkt ins Hirn.
»Morgen werde ich losziehen und haargenau die gleiche Pflanze besorgen, und wenn ich die ganze Stadt abklappern muss, das ist wohl klar. Es tut mir auch wirklich leid, was ich mit ihr angerichtet habe.« Er sah mich traurig an, zog an seiner Kippe und senkte den Blick.
»Du warst das?«, fragte ich erschrocken.
Er nickte schuldbewusst, nahm plötzlich meine Hand, drückte meine Finger auf und führte sie an seine Wange. So hielt er einen Moment inne.
»Ja«, sagte er schließlich und ließ meine Hand wieder los. »Weil ich nichts mehr von dir gehört habe, war ich enttäuscht und … auch sauer und musste in dem Augenblick einen Weg finden, diese ganzen miesen Gefühle rauszulassen … und da musste die arme Pflanze daran glauben. Es tut mir sehr leid für sie und überhaupt, aber … Ich dachte eben, dass du mir etwas vormachst.«
Ich war erschüttert, doch gleichzeitig horchte ich hoffnungsvoll auf, hatte er doch indirekt, auf sehr merkwürdige Weise, erklärt, dass er mich brauchte … und wollte …
Das war es doch, was diese Worte zu bedeuten hatten?
Ich trank tapfer die letzten Schlucke aus meinem Glas und stellte es sicherheitshalber weg, da ich mich bereits ausreichend erhitzt fühlte, und ich wollte mich gewiss nicht betrinken, nicht heute Abend, wo es so kompliziert geworden war.
Er drückte seine Kippe aus, nahm mir meine aus der Hand, drückte diese ebenfalls aus und wandte sich daraufhin mir zu. Vorsichtig beugte er sich ein wenig vor und küsste mich.
»Liebst du mich wirklich?«, fragte er leise.
Ich lächelte und nickte. »Wirklich«, sagte ich, überglücklich, dass sich die Wogen zu glätten schienen und er wieder zärtlich war.
»Ich dich auch«, sagte er mit ernstem Blick.
Mein Herz blieb fast stehen.
Dann nahm er meinen Kopf zwischen seine Hände und gab mir einen langen, leidenschaftlichen Kuss. Ich umfasste seine Taille und wir ließen uns auf das Bett fallen. Mit unseren Armen und Beinen waren wir ständig in Bewegung und umeinander gewickelt … Ich schob sein Hemd hoch, um seine Haut fühlen zu können. Ich war so hungrig nach ihm, dass ich mich beinah schämte …
Ich weiß nicht, wie beschreibt man so etwas? Ich spürte neben der immensen Erregung auch eine wohltuende, innere Ruhe, die durch meine Adern zu fließen begann, und zart wie ein Windhauch meine Seele streichelte.
Er lag jetzt auf mir, stützte sich nur leicht auf den Unterarmen ab. Seine Haare fielen mir ins Gesicht, vergeblich versuchte er sie hinter seine Ohren zu klemmen und lächelte schief. »Valerie, du und ich das könnte klappen«, flüsterte er. »Es fühlt sich nach Schicksal an, oder, nenn es, wie du willst, Babe, egal …«
Er gab mir einen Kuss und streichelte ein paar Locken aus meiner Stirn. »My Gal! Ist es für dich auch so? Spürst du auch, dass wir zusammengehören, hm, sag es mir, Val, sag, dass du es ernst meinst!«
Seine Augen leuchteten dicht vor meinem Gesicht. Ich nickte, war überwältigt, ganz sicher, mein Glücksgefühl war überirdisch, und dennoch: Wie aus einem tiefen, vergessenen Winkel meines Unterbewusstsein drang unerwartet eine innere Stimme zu mir durch, die behauptete, dass er aus irgendeinem Grund mir und unserer Beziehung einfach nicht traute.
Wir liebten uns in dieser Nacht durch alle Stellungen, hörten lange Musik, nahmen uns immerhin vor, künftig weniger zu rauchen und zu trinken, redeten viel, wenn auch nicht über wirklich wichtige Dinge, wie zum Beispiel unsere komische Krise, die nun restlos überwunden schien.
Mein nächster Arbeitstag würde höllisch werden, so what, dachte ich nur … Für gemeinsame Stunden mit Finn war ich inzwischen zu jedem Opfer bereit … Er musste doch sehen, wie sehr ich ihn liebte, er brauchte nicht zu zweifeln. Mitten in der Nacht hatte ich eine Eingebung.
»Finn, lass uns zusammenziehen, bis Lenny wieder da ist …?«, sagte ich spontan.
Seine Grübchen tauchten auf. »Möchtest du das wirklich?«
»Ja, sehr sogar.«
Ich halte es keine Sekunde mehr ohne dich aus. Ich verlier den Verstand …
»Du meinst, du willst mit Sack und Pack hierher ziehen?«
»Ich hab eh nicht viel ‚Sack und Pack‘!«, lachte ich.
»Okay, ich … ja, ich finde, das ist eine gute Idee.« Er fuhr sich schmunzelnd durch die Haare und gab mir einen innigen Kuss.
»Lenny wird sowieso nichts dagegen haben, im Gegenteil, der freut sich, weil er denkt, dass ich mich dann um seine Pflanzen und seinen geliebten Haushalt mit kümmere«, sagte ich enthusiastisch.
»Hm, kann ich mir gut vorstellen«, stimmte Finn mir zu.
»Dann pack ich morgen nach der Arbeit meine Tasche und komme zu dir. Wir kochen was Schönes und sind richtig zusammen.«
»Bist du sicher, dass du mich täglich ertragen kannst?«, fragte er allen Ernstes.
Ich musste laut loslachen, Scherzkeks, gab ihm einen Kuss auf den Mund und meinte dann: »Nein, bin ich nicht!«
»Wirklich?« Er machte ein erschrockenes Gesicht, als würde er unseren ironischen Wortwechsel für bare Münze nehmen, aber das konnte ja nur gespielt sein, und selbstverständlich fiel ich nicht darauf herein, nein, nein, nein … auch, wenn ich kurz unsicher wurde.
Bevor wir gegen 04.00 Uhr - so spät! - einschliefen, fragte ich ihn noch nach dem Artikel, an dem er gearbeitet hatte. Er sagte, er fände, der Artikel sei uninspiriert und langweilig geworden, und er habe wieder gemerkt, dass er zurzeit zu keiner qualitativ guten Arbeit fähig sei, wahrscheinlich müsse er sich einfach noch eine Weile Auszeit gönnen und paar wichtige Ereignisse aus seiner Vergangenheit aufarbeiten …
Ohne nachzubohren, bestärkte ich ihn darin, dass er das sicher schaffen werde und sich keinen Druck machen solle. Daraufhin verriet er mir, dass er den Artikel bereits an die Redaktion von ‚God‘s Creation‘ gesendet habe, er sei doch sehr gut angekommen und in der nächsten Ausgabe würde er gedruckt werden.
»Oh, na siehst du! Ist doch toll!«, sagte ich fassungslos, und schon wieder musste ich feststellen, dass er scheinbar keine Gabe besaß, sich selbst oder sein Können auch nur annähernd den Tatsachen entsprechend einzuschätzen.
Als ich nach einem wunderschönen Erwachen und einem kleinen Katerfrühstück mit Finn - er war mit mir aufgestanden! - in einem geisterhaften Zustand zur Arbeit eilte, stand ich wie unter Strom. Ich trug immer noch die Klamotten vom Vortag, meine Augenringe waren dunkellila, von meiner Schminke war rein gar nichts mehr übrig und meine Gesichtszüge waren angespannt durch den Schlafmangel, der wie ein schwerer Bleiklotz an mir hing …
Dennoch, meine Laune war trotz meiner physischen Angeschlagenheit besser denn je! Ich fühlte mich durch und durch euphorisch und voller Zuversicht, und weit und breit gab es kein Problem, womit ich nicht hätte mit Links fertig werden können.
Bevor ich das Kino erreichte, erhielt ich eine SMS. Aufgeregt und viel zu hektisch kramte ich mein Handy hervor, das sofort aus meiner Hand flutschte, konnte es aber mit einer slapstickartigen Jongliernummer noch rechtzeitig auffangen und sah schnell nach:
Hi wollte bescheid geben dass wir freitagabend im huxleys spielen hast richtig gelesen im huxleys yesss es geht aufwärts heißen chasing bullit gig geht 22 uhr los hinterlege zwei freitickets hoffe sehr dass du kommst würd mich riesig freuen tom
Meine Güte, warum benutzt der Mann keine Satzzeichen, war das Erste, was ich dachte, dann: Im Huxleys! Nicht schlecht, was Tom Nowak anscheinend so auf die Beine stellt. Und schließlich: Ich sollte ihm den Gefallen tun und hingehen. Ich frag Finn, ob er Lust hat!
Ich hatte die Idee, je unverfänglicher ich mit Tom umging, desto eher würde Finn ihn nicht als Konkurrenz, sondern als erstklassigen Musiker sehen und anerkennen. Außerdem war ich ziemlich gespannt auf Toms neue Band. Ich hoffte also sehr, Finn würde zustimmen.
Sören hatte zu meiner Verwunderung ein blaues ‚Avatar‘- Promotion-T-Shirt an, das ihm viel zu groß war, und ließ mich gleich mit verärgerter Miene wissen, dass das ganze Team angewiesen sei, heute und morgen mit diesen bescheuerten T-Shirts rumzulaufen, und Colette sei gerade im Dienstzimmer und würde sich umziehen.
»Frag Colette, wo deins ist«, sagte er mürrisch. »Ich glaub, sie hat‘s mit reingenommen.«
»Okay, danke«, antwortete ich fröhlich und erntete einen verdrossenen Seitenblick, von dem ich mich nicht beirren ließ.
Colette und ich hatten im Gegensatz zu Sören ganz knappe T-Shirts und mutmaßten, dass dieser Umstand von der Geschäftsführung pure Absicht sein musste. Wir standen vor einem Standspiegel, begutachteten unsere auffällig hervorgewölbten Brüste und lachten uns krank darüber, dass wir aussahen wie Kellnerinnen in einem amerikanischen Diner.
»Okay, voila, très chic … Iesch ab absolüt nix dagegen, Vallrie. Und du?«
»Ach was, ist schon cool. Nur Sören sieht total affig aus. Sein T-Shirt ist mindestens zwei Nummern zu groß«, sagte ich. Colette grinste. »Ja, die aben nur ganz groß oderr ganz klein, merkwürdisch niescht?«
Sie verstummte plötzlich und starrte mir kritisch ins Gesicht. »Vallrie!«
Ich verstand nicht. »Was? Was schaust du mich so an?«
»Cherie, sag mal, was iest mit dir passiert? Du siehst schrecklisch aus, Vallrie. Du ast schlimme schwarze Ringe unter deinen Augen. Und kein Make-up? Und guck mal dein Aar, wie Vögelnnest.«
Ich prustete los. »Colette! Das heißt nicht Vögelnnest, obwohl das zugegeben zum Schießen komisch klingt. Es heißt nur … Vogelnest.«
Sie sah mich ungerührt an. »Ast du geört, was iesch gesagt abe, Vallrie?«
»Mhm« Ich grinste heimlichtuerisch. »Ich hab nicht viel geschlafen … Na ja, ich war bei Finn …«
Später erzählte ich ihr, dass ich zu ihm ziehen würde, was sie untypischerweise kaum kommentierte. Sie sah mich nur nachdenklich an, machte einen Schmollmund und meinte: »Auptsache, du bist glücklisch, Vallrie.«
Na, das war ich …
Nach der Arbeit gingen Colette und ich gemeinsam zur U-Bahn. Colettes Wagen war an diesem Morgen nicht angesprungen und nun musste sie wie ich und tausende andere bedauernswerte Kreaturen die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.
Ich erzählte ihr von Toms Gig mit neuer Band im Huxleys am kommenden Freitagabend, und dass ich sehr gern hingehen würde, falls Finn auch Lust hätte, woraufhin Colette mich völlig entgeistert und fast schon anklagend ansah und meinte: »Iesch öre wohl niescht rischtisch, Vallrie! Sagst du gerade, du gehst da nur ien, wenn dein Fien es auch will und sonst niescht? Brauchst du Monsieurs Erlaubnis, wenn du ohne ihn iengehst?«
Aus ihren Augen schossen Blitze, und ich fragte mich irritiert, worüber sie sich denn so aufregte.
»Nein, es geht doch nicht um seine Erlaubnis, Colette!«, erklärte ich verdutzt. »Was denkst du nur, dass ich mir von irgendjemandem etwas verbieten lassen würde? Niemals! Ich will aber nicht, dass Finn sich gekränkt fühlt oder enttäuscht ist, wenn ich ohne ihn trotzdem hingehe. Ist doch ganz simpel.«
Sie sah mich weiterhin äußerst kritisch an. »Du ast eben gesagt, du würdest sehr gern zu diesem Tom Gig, gehen, stimmt‘s? Aber ohne Fien willst du niescht, weil err könnte … was? Verletzt und ärgerlisch sein? Aber warum sollte err, hm? Weil du etwas tust, worauf du Lüst ast und err niescht? Non non, Cherie, das klingt für Colette nach Macho Maan oder ein bisschen durschgeknallt, verstehst du!! Beides iest niescht gut.«
Ich musste lachen, die Diskussion war absurd. »Jetzt hör aber auf«, sagte ich und legte meinen Arm um ihre Schulter. »Finn ist ein ganz normaler Typ und wie alle Männer etwas komisch, wenn ein anderer Typ … äh, wir sprechen hier übrigens über Tom Nowak … Kennst du den zufällig?«
Sie hob das Kinn. »Pff, nein, na und?«
»Tom ist, na ja … also, viele Frauen würden ihn als unheimlich scharf bezeichnen …«
»Oh, wirklisch? Warum kenne iesch ihn niescht?«, grinste sie nun mit groß aufgerissenen Augen.
Ich lachte. »Du kannst nicht jeden Typen kennen, Colette! Jedenfalls, verstehst du, Finn hatte schon das Vergnügen mit Tom, und außerdem gibt‘s da noch eine problematische Kleinigkeit, aber die ist jetzt nicht so wichtig, also, ich will einfach nicht, dass da Missverständnisse aufkommen.«
»Vallrie, iesch abe kein Verständnis, niescht ein bisschen, das sage iesch dir ganz ehrlisch. Okay, dann offentlisch sagt err ‚ja‘ und vielleischt komme iesch auch, eh?«
Sie zwinkerte mir vielsagend zu. Ich stieß sie im Spaß mit dem Unterarm an. Wir verabschiedeten uns mit einer innigen Umarmung
So langsam wird Colette zu einer echten Freundin, dachte ich erfreut.
Daheim ging ich gleich unter die Dusche, schminkte mir die Augenränder weg, fummelte verzweifelt an meinen Haaren herum, stürzte meinen Kleiderschrank in ein Chaos, packte eine Sporttasche mit meinen Lieblingsklamotten voll, dachte auch an ein paar meiner Lieblings-CDs, setzte mich kurz in meine kalte Küche, rauchte grübelnd eine Zigarette, fragte mich, was ich eigentlich tat, wusste keine Antwort und machte mich auf den Weg zu Finn, ohne den ich mich scheinbar nicht mehr gut fühlen konnte.
Diesmal kam er die Treppen herunter geeilt und nahm mir sofort die Tasche ab. Seine Haare waren noch feucht, die Wangen gerötet, die Lippen dunkelrot, und wie er duftete! Er trug ausgeblichene Jeans und ein graues T-Shirt mit einem gezeichneten Elefantenkopf auf der Brust, strahlte über das ganze Gesicht und schien sich über meinen Einzug unheimlich zu freuen.
Und diesmal landete sein Begrüßungskuss gezielt auf meinem Mund. Sofort wurden meine Wangen heiß und erröteten ganz sicher …
Die ganze Wohnung strahlte wie in einem Werbespot für Universalreiniger. Er hatte jede Ecke und jeden Winkel sauber gemacht und picobello aufgeräumt. Sämtliche Spuren seines Attentats von neulich waren beseitigt, und er hatte, wie angekündigt, eine neue Pflanze besorgt, die der abgemurksten Elsbeth wirklich sehr ähnlich sah. Lenny würde ihm hoffentlich verzeihen. Ach, er würde es ganz sicher!
Er nahm meine Hand und führte mich in die Küche, wo er mit dem Kochen bereits begonnen hatte, drückte mich sanft auf einen Stuhl, stellte mir eiskalte Cola mit Zitronenscheibchen hin und machte mir wie beiläufig ein unglaubliches Kompliment, das ich so noch von keinem Menschen gehört hatte.
»Val, du gibst mir das Gefühl, als hätte ich den Jackpot geknackt!«, sagte er, funkelte dabei kurz zu mir rüber, zeigte seine Grübchen und widmete sich wieder der Gemüsepfanne, während ich ihn sprachlos anschmachtete.
»Oh …«, war alles, was ich herausbekam.
Beim Essen redete Finn wie ein Wasserfall, wechselte allerdings auffällig abrupt die Themen. Irgendwann kamen wir mal wieder auf seine Mutter zu sprechen - er hatte ihre Ehrgeizigkeit mehrfach fast vorwurfsvoll erwähnt - und ich fragte bei der Gelegenheit, ob er sie denn schon kontaktiert hätte. Er senkte den Kopf und verneinte. Er werde es aber noch tun, meinte er etwas betreten, auf die paar Tage früher oder später käme es auch nicht an.
Ich wusste, meine etwas heikle Frage, ob er Lust hätte, mit mir zusammen zu Toms Auftritt zu gehen und ihn mal spielen zu sehen und - vor allem - zu hören, musste ich zu einem strategisch günstigen Zeitpunkt stellen und der erschien mir kurz nach dem Sex gegeben …
Ich dachte, ich plappere einfach locker los, nackt, warm und verschwitzt an seinen Körper gepresst, während er eine Zigarette rauchte, und dann würde ich schon sehen, was er davon hielt.
»Finn, der Bekannte von mir, den wir beim Mexikaner getroffen haben … Tom Nowak! Ich hatte dir doch erzählt, dass er ein richtig guter Musiker ist …«, fing ich an und beobachtete aufmerksam seine Mimik. Mein Gott, dachte ich voller maßloser Bewunderung für sein Gesicht, wenn er sich jetzt mit meinen Augen sehen könnte …
Er blickte mich interessiert an, streichelte dabei wie unmerklich mit den Fingern meinen Arm rauf und runter und schien sich pudelwohl zu fühlen. »Und?«
»Also, der hat eine neue Band und spielt im Huxleys. Du weißt doch, da warst du mit Lenny beim ‚Sunrise Avenue‘- und ‚The Black Sheep‘-Gig …« Ich sah ihn hoffnungsvoll an, ob er vielleicht zu den Stichworten etwas sagen wollte, aber er schwieg, seine Mimik weiterhin entspannt, der Blick offen, warm und zärtlich.
»Der Gig ist am Freitagabend. Samstag hab ich frei, wie wär‘s also, wenn wir zusammen hingehen?«
Nachdem ich das Ganze einigermaßen unverkrampft, wie ich fand, herausgebracht hatte, begann mein Herz plötzlich laut zu hämmern, und ich spürte eine starke innere Anspannung.
Wovor hatte ich so einen Bammel? Dass er ‚Nein‘ sagen und sich über meine Frage ärgern würde? Oder, dass ich dann Toms Gig verpassen würde? Ich wurde langsam unruhig, weil Finn immer noch nichts geantwortet hatte.
»Hey? Was ist denn nun? Gehen wir hin?«
Er setzte sich auf, drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus und verschränkte die Arme vor der nackten Brust. Sein Blick hatte nun etwas Ernstes, als müsste er sehr stark die Vor- und Nachteile abwegen.
Ich setzte mich ebenfalls auf, zog die Bettdecke über meine Brüste, damit ich nicht frieren musste, und lächelte ihn hoffnungsvoll an.
»Was ist, was geht dir durch den Kopf?«, fragte ich schließlich.
Er schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand. »Möchtest du da unbedingt hin?«
Wollte ich da unbedingt hin? Ich brauchte wirklich nicht zu überlegen. Natürlich wollte ich, ja ganz sicher, aber nicht um jeden Preis, oder? Ich war neugierig auf Toms neue Band. Ich wollte Tom auch demonstrieren, dass zwischen ihm und mir außer der üblichen entfernten Freundschaft nichts lief, ich ihn jedoch als Musiker sehr schätzte. Außerdem wollte ich, dass Finn bei dem Thema Tom Nowak entspannt blieb.
»Es wäre schon schön. Ich bin einfach gespannt, weil Tom bei seiner vorherigen Band ‚TurkTrash‘ etwa drei, vier Jahre gespielt hat und man sich ihn in einer anderen Band schwer vorstellen kann«, sagte ich.
Finn öffnete die Augen und starrte an die Decke.
»Von mir aus, Valerie. Wenn du hin willst, können wir hingehen, ich habe nichts dagegen, auch wenn du das vielleicht befürchtet hast.«
Es schien klar, was er meinte. Er wollte mir sagen, dass Tom für ihn kein Problem darstellte. Offenbar hatte ich mir unnötig viele Sorgen gemacht.
»Cool!« Ich drückte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. »Dann gehen wir also hin!«
Sein Arm legte sich schwer und beschützend um meine Schulter. Er rutschte etwas tiefer, um auf derselben Höhe mit mir zu sein. »Alles, was du willst, Babe«, nuschelte er in mein Haar. »Hauptsache, du weißt, zu wem du gehörst.« Daraufhin küsste er mich, und ich hörte mit dem Denken auf.
Alles war gut und besser …