Das erste Wiedersehen

 

Patrick und ich wachten am nächsten Morgen, einem Sonntag, fast zeitgleich gegen 11.00 Uhr auf. Ich hätte ihm gerne von dem verrückten Traum erzählt, den ich geträumt hatte, aber weil Finn darin vorgekommen war, und weil es überhaupt ein völlig unsinniger Traum gewesen war, ließ ich es doch lieber sein.

Wir zogen uns schnell an - ich brauchte ein paar Minuten länger, da ich noch ein wenig Make-up auftrug - und fuhren mit einem gewaltigen Hunger los. Unterwegs kauften wir noch zwei Flaschen Sekt und knusprige Croissants.

 

Lenny war wie üblich bei bester Laune und total überdreht, als er uns die Tür öffnete. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißen Lettern auf einem roten Grund, der wie ein riesiger Klecks aussah, ‚The Black Sheep‘ geschrieben stand: seine aktuelle Lieblingsband, für die er als Streetteamer freiwillig stundenlang in der Kälte herumstand und mit missionarischem Einsatz Flyer verteilte, und … auf die er nichts, aber auch gar nichts, kommen ließ. Seine dunkelblonde Sturmfrisur - das Unwetter musste sehr heftig von hinten gekommen sein - umrahmte auf eine äußerst anarchische Weise sein jungenhaftes Gesicht. Seine Haut war wie immer makellos glatt und rosig wie ein Babypopo.

Lenny war, anders als Patrick, generell weder besonders kopflastig noch besonders ambitioniert und sah auch ganz anders aus, als hätte er komplett andere Eltern. Wäre da nicht witzigerweise dasselbe Muttermal auf exakt derselben Stelle wie bei Patrick - ein sanduhrförmiger brauner Fleck in der Größe einer Erdnuss auf dem rechten Schulterblatt - würde man ihnen ihre geschwisterliche Verwandtschaft nie im Leben abkaufen.

»Ey, Klasse, ihr habt Sekt mitgebracht, kommt rein!«, rief er hellauf begeistert und viel zu schrill. »Finn wollte nämlich gerade losgehen und ein paar Flaschen besorgen.«

»Braucht er wohl nicht mehr«, sagte Patrick und hielt ihm den Sekt vor die Nase. »Es sei denn, zwei Flaschen reichen nicht?«

»Doch, doch, reicht schon, reicht schon, wir sind ja nur zu viert. Wollen schließlich brunchen und nicht uns besaufen, hehe«, rief er, während er mit den Flaschen in die Küche verschwand, von wo aus sich der Duft aufgebackener Baguettes in der restlichen Wohnung ausbreitete.

Lennys Wohnung bestand neben einer gut ausgestatteten kleinen Küche und einem Badezimmer mit Wanne und Duschkabine - wegen Letzterem beneidete ich ihn sehr - aus zwei großen Zimmern, die nebeneinanderlagen, und einem schönen Südostbalkon, das sich im hinteren - in Lennys - Zimmer befand. Er musste keinen Cent Miete für seine komfortable Bleibe bezahlen, die idealerweise seinen Eltern gehörte.

Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass Patrick und Lenny zusammenziehen, aber Patrick hatte sich in der Riesenwohnung von Kai und Samantha einquartiert, da er sich dort als zukünftiger Innenarchitekt regelrecht austoben durfte, und so war Lenny dann allein - mit seinen tausend Pflanzen wohlgemerkt - in die elterliche Eigentumswohnung gezogen.

Wenn man Lennys Wohnung betrat, wurde man von allen Tönen der Farbe Grün eingelullt wie von Liebesgeflüster.

 

Patrick schritt voraus und peilte das hintere Zimmer an, während ich reichlich nervös hinter ihm her dackelte.

Gleich sehe ich ihn, war der einzige Gedanke, der verheißungsvoll und einschüchternd zugleich in meinem Kopf umherrotierte … gleich sehe ich ihn … gleich sehe ich ihn … gleich sehe ich ihn …

 

Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und hatte einen Haufen CDs vor sich liegen, die er einzeln mit kritischem Blick inspizierte. Als wir das Zimmer betraten, hob er kurz den Kopf, begrüßte uns mit einem knappen Kopfnicken und einem verschlafenen »Hi«, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und fragte: »Habt ihr `ne Idee, was jetzt die passende Musik wäre?«

Wie süß verpennt er aussah! Die Haare am Hinterkopf waren total zerzaust und standen etwas ab, wie bei Johnny Depp in dem Film »Arizona Dream«, in seinem Mundwinkel steckte eine nicht angezündete Zigarette, als wäre sie ein beabsichtigtes Accessoire. Er trug ein knallrotes T-Shirt und so eine Art Armee-Hose mit hundert Taschen überall.

Patrick setzte sich gleich neben ihn, musste aber vorher eine mächtige Yucca-Palme aus dem Weg schieben. »Was gibt es denn im Angebot, lass mal sehen«, sagte er und begann ebenfalls, in dem CD Haufen zu wühlen.

Ich, im Kampf gegen meine lästige Nervosität, die mir wieder in sämtliche Glieder gefahren war, floh zu Lenny in die Küche und bot ihm meine Hilfe an.

Der Sekt musste geöffnet werden und das Baguette geschnitten - na also. Ich griff mir ein Brotmesser und holte eins der zwei Baguettes aus dem Ofen hervor, um es schön langsam in ordentliche Scheibchen zu schneiden. Meine psychische Verfassung erinnerte mich ein wenig an die Führerscheinprüfung vor zwei Jahren: eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung und Angst.

Lenny hatte garantiert Anweisungen von Patrick bekommen, bloß nichts bezüglich der Silvesternacht und der Knutscherei zwischen Finn und mir zu erwähnen. Um mir die Anspannung zu nehmen, erzählte er ein paar beknackte Chuck Norris Witze, quasselte ununterbrochen, während er eine üppige Käseplatte mit Salatblättern und schwarzen Oliven dekorierte, schilderte seinen gestrigen Supermarkt Einkauf, der »wie jeden Samstagvormittag sehr stressig« gewesen sei und wie die Omas sich an der Kasse wieder vorgedrängelt hätten. Außerdem wolle er sich einen »neuen Klamottenstil« zulegen, habe den »langweiligen Jeanslook« satt.

Ich war überrascht und amüsiert auch, konnte mir Lenny in anderen Sachen außer verwaschenen Jeans und ausgeleierten Pullis oder bunten T-Shirts mit Aufdruck gar nicht vorstellen.

»Und wie soll dein neuer Look aussehen, Lenny?«, fragte ich ernsthaft neugierig.

»Wie der von Jason Statham in dem Film ‚Der Transporter‘!«, antwortete er und checkte mit einem prüfenden Seitenblick meine Reaktion. Ich hob ratlos die Schultern und machte große fragende Augen.

»Ist nicht dein Ernst, dass du den nicht kennst?«

Lenny hielt inne, starrte zu mir rüber und schien für einen Moment ernsthaft fassungslos über meine Unkenntnis.

Ich kam einfach nicht drauf, wer gemeint war. »Der Name sagt mir grad nichts …«, gab ich zu. »Vielleicht beschreibst du einfach mal seinen tollen Style?«

»Jason Statham sagt dir nichts? Ich dachte, du bist hier der Filmfreak?« Er steckte sich eine Olive in den Mund und spuckte den Kern in die Spüle.

Ich war so froh, mich mit Lenny unterhalten zu können, dass ich ihm dafür am liebsten um den Hals gefallen wäre. Entspannter als noch vor wenigen Minuten machte ich mich an die erste Sektflasche. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, beim Öffnen besonders vorsichtig vorzugehen und auf Gags zu verzichten. Vor nicht all zu langer Zeit hatte ich mit einem Sektverschlussgeschoss einer Freundin beinah das rechte Auge ausgeschossen. Sie kam mit einem farbenprächtigen Veilchen davon und meldete sich lange nicht mehr bei mir. Als Entschuldigung kaufte ich ihr eine ‚Best of CD‘ von Michael Jackson, was sie dann endlich versöhnlich stimmte.

»In ‚Der Transporter‘ trägt Statham immer tolle Anzüge und Hemden. Er sieht richtig cool aus damit, wie der klassische James Bond, wie ein Mann von Welt eben, stilvoll und selbstbewusst.«

Lenny lugte unter seinen blonden Fransen gespannt hervor, als warte er auf eine Antwort. Ich knallte den Korken und füllte die Gläser, bevor der Sekt aus der Flasche schäumen konnte.

»Äh … ja, hört sich gut an, Lenny. Ich könnte mir vorstellen, dass du in schicken Anzügen eine richtig gute Figur machst, und außerdem wirkst du, egal was du anhast, sowieso immer authentisch, weißt du das?«

Es war absolut ernst gemeint. Ich nickte ihm deshalb nachdrücklich zu.

»Wirklich?«

»Mhm, wirklich, wirklich.«

Ich liebte Lenny, nicht bloß weil er Patricks süßer, kleiner Bruder war. Lenny war einfach die Liebenswürdigkeit in Person, im Herzen immer ein bisschen Kind geblieben, unendlich gesellig, aufgeschlossen, ständig wegen irgendeiner Sache total aus dem Häuschen, völlig unbescholten, herzlich und offen für alles und jeden. Und wie Finn schon richtig erkannt hatte, auch spontan und sehr großzügig in jeglicher Art.

Patrick machte sich manchmal ein wenig Sorgen über Lennys Naivität. »Kennst du den Spruch ‚Wer offen für alles ist, kann nicht ganz dicht sein‘!?«, fragte er dann mit einer tiefen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen.

Ich hoffte, dass Lenny immer so gutmütig und unverdorben bleiben würde, obwohl ich wusste, dass das Wunschdenken war. Niemand bleibt ewig unverdorben, oder? Einer der Lieblingssprüche meiner Oma hatte gelautet: »Kein Mensch erreicht das Ende seines Lebens mit einer weißen Weste, meine Liebe«. Aber Lennys Weste würde ganz sicher weißer bleiben als die der anderen.

»Okay, jetzt muss nur noch die Gurke geschnitten werden.« Lenny öffnete den bombastisch großen Kühlschrank und holte eine pralle, dunkelgrüne Salatgurke hervor.

»Mach ich«, rief ich sofort und nahm sie ihm schnell aus der Hand.

Für ein paar Sekunden stand er arbeitslos da und überlegte. »Gut, dann trag ich die Sachen schon mal rein«, sagte er und verschwand mit der Käseplatte aus der Küche.

Durch die halb geöffnete Tür konnte ich Finns und Patricks Stimmen hören. Ich lauschte angestrengt, konnte aber rein gar nichts verstehen. Lenny kam zurück und nahm diesmal den Brotkorb und die Kaffeetassen mit.

Ich hatte die blöde Salatgurke in dünne Scheibchen geschnitten und diese auf einem großen runden Teller drapiert, hatte mich nicht beeilt, aber nun war ich auch damit durch und mein Mund trocknete völlig aus. Das Tablett mit den Sektgläsern würde ich bestimmt nicht ins Zimmer tragen, nicht mit diesem Zittern in meinen Gliedern, sonst hätte ich noch irgendeine Katastrophe verursacht.

Ich stand da wie eine bleierne Statue, unfähig in irgendeine Richtung einen Schritt zu tun. Was jetzt, fragte ich mich, unsicher bis in die Haarspitzen … Was mach ich jetzt?

Und natürlich genau in diesem unsäglichen Augenblick trat Finn in die Küche. Sofort spürte ich, wie meine Ohren rot anliefen, und hoffte, dass mein Gesichtsausdruck nichts über mein inneres Dilemma verriet.

Finn sah mich flüchtig an und ließ dann den Blick durch die Küche schweifen. Die Hände hatte er in die Gesäßtaschen geschoben, fast so, als wäre er auch ein wenig verlegen. Dann fragte er, ob er etwas reintragen könne. Ich deutete fix auf die Sektgläser und sagte: »Das Tablett da.« Meine Stimme klang viel zu hoch und hastig dazu, so dass ich schnell wieder den Mund hielt.

Finn nahm wortlos das Tablett vom runden Holztisch, der in der Mitte der Küche stand, und trug es mit bedachten Schritten hinaus.

Ich sah ihm betreten hinterher., allerdings nicht ohne seine ansehnliche Hinteransicht zu registrieren.

Mir wurde schlagartig bewusst, wie bescheuert es gewesen war, den Sekt schon in der Küche in die Gläser zu füllen, und dass außerdem meine Erwiderung auf seine Frage irgendwie völlig daneben war. Hoffentlich hatte er es nicht auch so empfunden.

Ich nahm schließlich den Gurkenteller und all meinen Mut zusammen und ging endlich zu den anderen ins Zimmer.

Patrick war gerade dabei, eine CD einzulegen. »Yes! Mr Ole Blue Eyes!«, trällerte er grinsend.

Lenny protestierte laut. »Nein, Mann, nicht dein Ernst, oder!?« Er zeigte mit dem ausgestreckten Daumen nach unten. »Den kann ich echt nicht ab!«

»Was hast du Lenny? Der Mann ist ein Klassiker und passt doch perfekt zu Sekt und Käse! Sag du es ihm, Finn.«

Finn schüttelte den Kopf. »No, nein, nein, wegen mir nicht, ich bin da, glaube ich, auf Lennys Seite.«

Ich stellte den Teller auf dem Tisch ab und setzte mich vorsichtig in eins der vier - im Design sehr bizarr anmutenden - Siebzigerjahre Sessel, die Lenny mit Sicherheit aus einem der vielen Retromöbelgeschäfte in der Hauptstraße ergattert hatte. Finn saß mir gegenüber und schaukelte in seinem eiförmigen, einbeinigen Sessel ein wenig vor und zurück. Zwischen uns stand ein massiver Glastisch, auf dem das äußerst vielversprechende Brunchbüffet gedeckt war.

Patrick legte die Sinatra CD kopfschüttelnd beiseite und griff nach einer anderen. »Na gut, wie wäre es denn mit … ‚Atomic Swing‘, hm? Let‘s go European, okay?«

Lenny bekundete diesmal mit dem Daumen nach oben sein Einverständnis. »Ist cool. Geh ich voll mit, Bro.«

Ich nickte ebenfalls zustimmend.

Patrick sah Finn fragend an. »Was sagst du?«

»Kenn ich nicht, aber mach ruhig«, antwortete der, klang dabei fast ein bisschen gleichgültig.

Lenny zog die beiden freien Sessel näher an den Tisch heran und ließ sich leichtsinnigerweise zu heftig in eines davon reinplumpsen, so dass sich das Bein des Sessels mit einem laut quietschenden Geräusch verbog. Er schimpfte und fluchte lachend. Finn und ich grinsten uns im selben Moment verhalten an, und ‚Atomic Swing‘ legten mit »Panicburgh City« los, als hätten sie ein Stichwort erhalten.

Patrick setzte sich voller Sorge, ihm könnte das Gleiche wie Lenny widerfahren, nur ganz langsam in den vierten Sessel und sah dabei so komisch aus, dass wir alle laut lachen mussten.

Und endlich konnten wir mit dem Brunch beginnen.

Wir stießen feierlich mit dem Sekt an, wobei ich den Blickkontakt zu Finn vermied, um bloß nicht zu aufdringlich zu erscheinen oder zu verraten, wie es in mir drin aussah.

Es war verflixt, ich konnte doch nicht so tun, als wäre nichts geschehen, als hätte ich einen Blackout und könnte ihm ganz unvoreingenommen begegnen, und vor allem, als hätte mir sein Verhalten danach nicht zugesetzt, denn das hatte es … und wie …

Im Normalfall, unter anderen, weniger befangenen Umständen, hätte ich durchaus ein wenig mit Blicken flirten können, aber daran war hier beim besten Willen nicht zu denken. Irgendwo ganz tief in mir drin ahnte ich auch warum: Es war meine ureigene Begabung, mich vom festen, sicheren Boden der Realität, der reinen Fakten und Tatsachen gleichwohl zu enthusiastisch abzuheben, und in den irrationalen Gefühlshöhen mir die Dinge in unsinnig knalligen Farben vorzustellen, höllisch verzerrt und so himmlisch tragisch, so tragisch schön … romantische Überfunktion durch wilde Antizipation … Man könnte es auch als naives, verzweifeltes Wunschdenken bezeichnen, was mich zur personifizierten Verkrampfung werden ließ ...

Mit anderen Worten, ich wusste, dass es Wunschdenken war, zu glauben, wir könnten zusammenkommen …

Und ich wusste in Grunde genommen so wenig über ihn …

Doch, das, was ich glaubte zu wissen, erschien mir so überaus attraktiv, dass es mich perfekt einzulullen vermochte, was Finn wiederum nicht wusste, falls er überhaupt irgendetwas von meinem bemitleidenswerten Zustand mitbekam.

Er trank heißen Kaffee, ohne zu pusten! Sogar das imponierte mir. Ein wahrer Mann pustet seinen Kaffee nicht erst lauwarm, bevor er ihn trinkt, dachte ich in meinem Schmachtwahn! Dann fuhr er sich durch seine wundervollen Haare. Ich begann mich zu fragen, ob er diese Geste in so einem verrückten, amerikanischen Workshop gelernt hatte: ‚Wie man sich durch das Haupthaar fährt und dabei total sexy aussieht‘, ein Wochenendseminar für nur fünfhundert Dollar und einer Geldzurückgarantie.

Patrick erzählte mit tiefer Dozentenstimme und sarkastischem Unterton von seinen irrwitzigen Erlebnissen während einer Neuseeland Rucksack Tour vor drei Jahren. Er hatte eine Liebschaft mit einer jungen Maori angefangen, die in einem Bierlokal arbeitete, und wäre beinah durch ihre wild entschlossene Großfamilie mit ihr verheiratet worden. Die Story war einfach immer wieder zum Totlachen.

Finn schmunzelte und erzählte daraufhin von einem unbedarften Trip in die Wüste von Arizona, der spontan von seiner damaligen Clique an seinem achtzehnten Geburtstag organisiert worden war.

Lenny schoss gleich die typische Frage ab, die jedem amerikanischen Wüstengänger gestellt wird: »Und … habt ihr dabei Drogen genommen?«

Ich stopfte mir ein Stück Baguette in den Mund und blinzelte neugierig zu Finn rüber.

»Mhm, haben wir«, antwortete er ehrlich. »Wir haben alle was genommen, alles, was wir dabei hatten. Papers und Pilze. Es war sehr interessant für … für unser Bewusstsein … und auch ziemlich aufregend, wie die Realität sich langsam anderen Regeln unterzog, als wäre man in eine magische Welt eingetreten, also am Anfang jedenfalls, da ging es mehr um Farben, alles wurde bunter und greller, der Sand erst gelb und dann blutrot, der Himmel ein Wahnsinnsblau, unsere Klamotten wirkten wie schrill Clownskostüme, aber dann, also … dann schlug plötzlich die Stimmung um, und alles wurde schleichend ziemlich seltsam, die Atmosphäre zwischen allen wurde irgendwie unheimlich, als wären wir uns alle fremd. Jeder sah nur noch bizarre Gestalten und Fratzen, und zum Schluss wurde es richtig eklig … Wir haben uns gegenseitig angebrüllt, einer hat geheult, eins der Mädchen hat die ganze Zeit geglaubt, riesige Sandwürmer würden uns gleich auffressen, und schließlich haben wir uns alle übergeben! Wir haben uns die Seele aus dem Leib gekotzt, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Wir haben alle gezittert, obwohl es heiß war. Ich glaube ... nein, ich bin mir eigentlich sicher, wir hatten großes Glück, dass keinem was Schlimmeres passiert ist.«

Er schob sich gelassen ein Stück Brot in den Mund, als hätte er gerade vom Wetter gesprochen.

»Puh, krasse Geschichte, Mann. Da hattet ihr aber `ne komische Dynamik in eurer Gruppe«, sagte Lenny sichtlich mitgenommen.

Patrick und ich nickten stumm.

»Drogen sind halt echter Hirnpfusch …«, ließ Patrick kurz darauf verlauten. Und wir alle stimmten ihm nickend zu.

»Ich fand meine Trips auch sehr schräg, aber nicht so wie bei dir, Finn«, fuhr Lenny aufgeregt fort. »Wir hatten nämlich richtig Spaß, haben die ganze Zeit nur abgelacht und uns gegenseitig ‚wie abgefahren, Alter, wie abgefahren‘ zugerufen, die ganze Zeit, wie `ne kaputte Schallplatte! Ein Kumpel hat stundenlang einen Baum umarmt und vor Rührseligkeit gelacht und geheult, echt, beides gleichzeitig. Trotzdem, noch mal würd ich‘s nicht mehr machen, also im Hirn rumpfuschen, wie mein schlauer Bruder schon bemerkt hat … ist nicht wirklich witzig. Die Storys über Leute, die von ihren Horrortrips nicht mehr runterkamen, reichen mir.«

Er schüttelte heftig den Kopf, um seiner Rede ordentlich Nachdruck zu verleihen.

Patrick, der fürsorgliche ältere Bruder, sah ihn pflichtgemäß streng an: »Wann hast du mal Trips ausprobiert, Lenny?«

Lenny grinste ein wenig, zwang sich dann zu einem ernsteren Gesichtsausdruck, was ihm nicht wirklich gelang.

»Hey chill, Bro, ja, war nur ein einziges Mal, da war ich mit ein paar Jungs aus meiner Klasse im Tiergarten … Wir haben alle was genommen, nur, um zu sehen, wie es so wirkt, mehr nicht, und das war‘s dann auch, ist ne Ewigkeit her, ehrlich!«

Finn hob die Mundwinkel, sein Blick aber schien distanziert, als wären seine Gedanken woanders hingedriftet. Es war schwer zu sagen, was er von der allgemeinen Unterhaltung hielt.

Ich dachte mir, dass es sicher besser wäre, das Thema zu wechseln und deutete auf Lennys cooles ‚The Black Sheep‘ T-Shirt. »Was machen denn deine Schäfchen, Lenny? Gibt‘s denn bald mal wieder ein Konzert?«

Lenny schüttelte den Kopf. »Leider, nein, vorerst nicht …«, sagte er seufzend. »Die Bassistin hat irgendein Problem mit ihrer Hand, hat sich beim letzten Berlin Gig im November schon voll gequält, die Arme. Das weiß ich, weil ich hautnah dabei war und Finn übrigens auch.«

Oh! Ich nutzte die gute Gelegenheit und sprach Finn darauf an. »Finn, du warst auch auf dem Gig?«

Er sah überrascht auf, als hätte er der Unterhaltung nicht wirklich gefolgt, hielt kurz inne und nickte schließlich. »Hm, tja, ich wollte vor allem ‚Sunrise Avenue‘ sehen und mal das Huxleys kennenlernen«, sagte er mit einem neckischen Blick zu Lenny. »Aber diese Mädchenband war auch nicht schlecht.«

»Nicht schlecht?« Lenny deutete mit beiden Zeigefingern auf Finn und machte auf empört. »Die waren klasse, gib‘s schon zu, Finn.« Er ruderte mit den Armen in der Luft. »Du hast abgedanced, als wärst du high, Mann.«

Finn klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sah etwas verlegen in die Runde. »Schon möglich«, gab er kleinlaut zu.

»Dafür bekam er im Anschluss von zwei süßen Mädels ein Küsschen auf die Wange«, lachte Lenny. »HEY, FINN, jetzt erzähl doch mal ein bisschen!«

Finn sah Lenny kopfschüttelnd an, doch der grinste nur schelmisch.

»Schrei doch nicht so! Außerdem kann ich mich nicht mehr erinnern ...«

Hm? Gehörte ich vielleicht auch zu den Geschichten, an die er sich nicht mehr erinnerte?

Patrick kicherte völlig vergnügt vor sich hin, während er in ein Croissant biss. Doch ich war mir nicht unbedingt sicher, ob ich mehr von der Geschichte hören wollte.

»Komm schon, kannst du sehr wohl, wenn du dich ein wenig anstrengst?«, insistierte Lenny, vor Begeisterung schon knallrot im Gesicht.

»Ich weiß nicht mehr, ehrlich, es ging viel zu schnell.« Finn ließ sich nicht aus der Reserve locken.

»Hm, okay«, seufzte Lenny laut. »Aber ich weiß noch alles ganz genau!«, er klatschte einmal in die Hände. »Jedenfalls, als der mega-super-geile ‚Black Sheep‘ Gig zu Ende war, gab es schallenden Applaus und Jubelgeschrei ohne Ende, das Publikum hat echt `ne Wahnsinnsstimmung gemacht, alle waren Hammer drauf … Ich seh mich also nach Finn um, schau in die Richtung, wo er zuletzt stand, seh bloß lauter lange Haare herumfliegen und entdecke ihn zwischen zwei wildfremden Mädchen, die sich ihn regelrecht gekrallt haben, diese Biester, und ihn abknutschen und anschließend laut kichernd in der Menge verschwinden. Tss, völlig gaga … Wieso passiert mir so was eigentlich nicht?«

Patrick lachte laut. »Wow, nicht schlecht.«

Ich lachte angestrengt mit, auch wenn ich diese Bilder in meinem Kopf hasste …

»Wollt ihr mal die CD von den ‚Black Sheep‘ hören?« Lenny sprang von seinem quietschenden, schiefen Sessel auf, bevor irgendeiner überhaupt geantwortet hatte, und kramte in dem CD Haufen herum, fand sehr schnell, was er suchte und machte den Jungs von ‚Atomic Swing‘ ein rabiates Ende.

»‚Not Part of the Deal‘ heißt die, hört mal gut hin, die ist so abgefahren gut gemischt!«

Patrick schmunzelte und goss allen Kaffee nach.

»Ich hab dann im Anschluss an den Gig Flyer verteilt wie ein Wahnsinniger, bestimmt tausend, und dachte, ich heb noch ab, so gut, wie ich drauf war, stimmt‘s Finn?«

Finn schlürfte seinen Kaffee und nickte zustimmend.

Seine Wangen waren gerötet, und er vermied den Blickkontakt mit mir. Das konnte ich mir nicht einbilden!

 

Ich aß und trank ohne Pause und ohne richtig mitzukriegen, wie was schmeckte, da ich auf diese Weise nicht viel zu reden brauchte. Ich fühlte mich leider nicht besonders wohl, auch wenn wir alle scheinbar nett beieinandersaßen, Lenny ohne Punkt und Komma redete, Finn ab und zu sogar mal richtig lachte und Patrick rundum zufrieden aussah.

Mir war mit jeder Minute, als würde mein Gehirn austrocknen und mein Herz stünde vor einem Infarkt. Der Sekt hatte mich kein Stück entspannt. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich sagen sollte, befürchtete außerdem, aufgrund des festgewachsenen gigantischen Kloßes in meinem Hals, mich nie mehr vernünftig artikulieren zu können.

Zum Glück waren Patrick und Lenny absolute Quasseltassen, Finn wiederum redete nur, wenn die beiden gerade mal nichts sagten. Ich ließ ihre Stimmen bloß noch meine Gehörgänge durchstreifen, ohne dabei vom Inhalt des Gesagten etwas mitzukriegen.

 

Es war mir ein Rätsel! Er war mir ein Rätsel!

Hatten wir wirklich rumgeknutscht wie zwei liebeshungrige Teenager? Oder hatte ich mir in meinem von Alkohol umnebelten Hirn die ganze Geschichte nur eingebildet? Vielleicht hatte es nicht mal eine Silvesterparty gegeben! Meiner Fantasie war fast alles zuzutrauen. Welches Jahr hatten wir noch mal? Haha

Meine Gedanken flüchteten immer weiter vom aktuellen Geschehen um mich herum. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich laut heulend im Regen stehen, eine herzzerreißende Szene, in der ich mir ganz ungehemmt die Seele aus dem Leib schrie: »WOLLTEST DU MICH NUR VERARSCHEN, DU GEMEINER UNMENSCH?«

Ich blinzelte kurz zu Finn, um mich zu vergewissern, dass er wirklich existierte und keine Gedanken lesen konnte. Er kaute auf einer Olive herum und fingerte den Kern aus seinem Mund. Ich schaute schnell wieder weg.

»Was machen wir heute Abend?«, fragte Patrick in die Runde. »Du hast doch morgen noch frei, Valerie, oder nicht?«

Ich nickte stumm.

»Ins ‚High End‘?«, schlug Lenny vor.

Patrick runzelte die Stirn. »Wer spielt denn?«

»Keinen Blassen, aber ich kann im Programmheft nachschauen ...«

 

Großer Gott! Ich musste dringend auf die Toilette und verschnaufen.

 

Lenny hatte sein Badezimmer komplett in Dunkelviolett gestrichen. Im Spiegel über dem Waschbecken sah ich aus wie ein verzweifelter Alien: bläulich, mit tiefen Augenringen und einem Ausdruck um die Augen, als wäre ich auf dem falschen Planeten gelandet.

Wahrscheinlich sah ich für meine Mutter immer so aus.

»Du musst dich mal ein bisschen mehr um dein Aussehen kümmern, Valerie, du hast doch eigentlich so ein hübsches Gesicht!« Und jedes Mal ärgerte ich mich über ihren Spruch, statt ihn einfach zu ignorieren, und mein Vater war meist derselben Meinung. Sie waren ein unschlagbares Team, beide Orthopäden mit gemeinsamer, ziemlich gut laufender Praxis und dem dazugehörigen Lifestyle: Villa im Grünen, zwei Sportwagen, Tennisclub-Mitgliedschaft, Sonnenbräune und Privatmasseur. Morgen, Montag, würde ich sie besuchen, weil sie noch die ganze Woche frei hatten und ich echte Sehnsucht nach ihrer Nähe verspürte. Hinter ihrer todsicheren, gnadenlosen Kritik bezüglich meiner nicht vorhandenen Zukunftspläne und überhaupt würde ich wieder stur elterliche Liebe und Besorgnis vermuten und mich glücklich schätzen. Ach ja, an dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass ich eine zwei Jahre ältere Schwester habe - Natalie - die nur dann bei unseren Eltern aufschlägt, wenn sie ihren ‚Vorzeigetochterbonusscheck‘ abholen will …

Als ich zurückkehrte, stand Finn gerade auf, um seine Zigaretten zu holen. Ich setzte mich und fragte, ob sie sich wegen heute Abend schon entschieden hätten.

»Wir wollen ins ‚High End‘« sagte Lenny.

»Wer spielt …?«, wollte ich wissen. Ich versuchte normal zu klingen, klang aber deprimiert.

»Eine Rockband aus Hamburg, heißen … Paddy, wie heißen die noch mal? »

»‚Rawhead Ruby‘«, antwortete Patrick, »was übersetzt wohl ‚Rohkopf Ruby, heißt, hahaha.« Er lachte über seine unsinnige Übersetzung, während er in einem Stadtmagazin herumblätterte.

Finn setzte sich wieder und steckte sich eine Zigarette an. Ich zuckte zusammen, als er mich plötzlich ansprach. »Kommst du auch?« Ich starrte in seine unergründliche Miene.

»Mal sehen«, sagte ich mit pochendem Herzen, dem Hort all meiner Hoffnungen auf seine Aufmerksamkeit.

»Mal sehen« war eine coole Antwort - oder auch nicht … nein, war‘s nicht ...

Ich kaute Gurkenscheibchen, eins nach dem anderen und tat, als hörte ich der Musik zu. Lenny begann einen Joint zu drehen, und Patrick massierte sich den Bauch und unterließ es, Lenny zu ermahnen.

Mein unbändiges Verlangen nach einer wie auch immer gearteten Romanze mit Finn brodelte trotz aller Aussichtslosigkeit in mir, dass ich glaubte, körperlich zu ihm zu fließen. Und er? Er blies Rauchringe in die Luft, als wäre er Mr Cool persönlich und vollkommen relaxed oder gleichgültig oder … keine Ahnung.

Ein Gurkenscheibchen rutschte unzerkaut in meine Speiseröhre und verursachte kurzzeitig panische Erstickungsangst. Ich hustete krampfhaft und versuchte mit hochrotem Kopf noch zu lächeln, als wäre mein Missgeschick nur halb so schlimm, wie es aussah. Schließlich schaffte ich es, das unheilvolle Gemüsestück mit aller Gewalt herunterzuschlucken, ohne zum Notfall zu werden. Ich wischte schnell meine Tränen weg und griff nach der Kaffeetasse, um nachzuspülen.

Patrick warf mir einen besorgten Blick zu.

Alles in Ordnung, deutete ich ihm mit einem kurzen Nicken. Wer‘s glaubt!, antworteten seine wachsamen Augen hinter den Brillengläsern. In Patricks Gesicht konnte ich fast jedes Gefühl, das er hatte, lesen. In diesem absurd schönen Blaugrün von Finns tiefen Augen hingegen war ich verloren wie in einer geheimnisvollen, fremdartigen Welt, war orientierungslos und blickte im wahrsten Sinne des Wortes einfach nicht durch …

 

»Ich kenn den Gitarristen von ‚Rawhead Ruby«, behauptete Patrick. Lenny hatte einen schönen langen Joint gebaut und zündete ihn gerade an. »Ach, echt?«

»Hm, hab ihn mal auf einer Record Release Party letztes Jahr getroffen. Lieber Kerl, pflegt seine Oma zuhause, stellt euch mal vor.«

Der Joint ging rum, sogar Patrick zog dran. Ich lehnte dankend ab, trank meinen Kaffee aus und entschied mich zu gehen, weil ich die Situation mit Finn nicht mehr ertragen konnte.

Ich fühlte mich, als hätte man mich geknebelt und in ein Eisloch geworfen.

Ich würde mich mental auf den Abend im ‚High End‘ vorbereiten müssen, vielleicht irgendwas mit meinem Aussehen machen, wieder ein wenig Hoffnung mobilisieren, einen Plan aushecken … Einen Plan! ...

Ich brauchte einen Plan!

Bei dem Gedanken, dass ich Finn gegenüber wahrscheinlich offensiver sein musste, wurde mir beinah übel. Aber ich musste etwas unternehmen, das war mir jetzt absolut klar, denn noch wollte ich meine Illusionen nicht aufgeben.

 

»Du willst schon gehen?« Patrick sah mich mit Dackelblick verständnislos an. Ich stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte ihn kurz. »Wir sehen uns doch heute Abend«, sagte ich laut und deutlich, damit es auch alle der anwesenden Herrschaften hören konnten.

»Ach, Valerie bleib doch noch«, rief Lenny von seinem Platz aus, und Finn schaute wieder so ernst drein, als ginge ihm irgendetwas ganz Abwegiges durch den Kopf. Zu gern wäre ich in ihn hineingekrochen, um herauszufinden, was es diesmal war.

Ich verabschiedete mich ohne viele Worte, machte mich auf den Weg nach Hause, war völlig durch den Wind, begann in meinem Kopf den Refrain von Aerosmiths schöner Schnulze zu singen ...

 

» I go crazy, crazy ... baby, I go crazy.

You turn it on ... then you‘re gone ...

Yeah, you drive me ...

crazy, crazy, crazy for you baby ...«

 

Unterwegs musste ich mir endlich eingestehen, dass ich wirklich und wahrhaftig in Finn verknallt war, wirklich und wahrhaftig, und dass offensichtlich irgendein ominöser X-Faktor zugeschlagen hatte. Denn es erschien mir doch ziemlich unverständlich, wie ich mich in so kurzer Zeit in einen Typen verlieben konnte, den ich kaum kannte und der sich mir gegenüber äußerst seltsam benahm …