Abschiedsfeier von Patrick und Lenny

 

Am Freitag rief ich Natalie und Alice an, um beiden wegen der Abschiedsfeier Bescheid zu geben und beide sagten zu meiner Freude sofort zu. Natalie meinte, dass sie etwas später dazukommen würde, da sie vorher noch eine Verabredung habe. Alice wollte wissen, ob gutaussehende Single Männer anwesend sein würden, was ich leider nicht versprechen konnte, machte ihr aber Hoffnung, dass unter den fremden Gästen vielleicht etwas für sie dabei sein würde.

Ich sollte auch Colette Bescheid geben, da Patrick sie unbedingt mal kennenlernen wollte, nachdem er sich von mir zig Anekdoten über meine schrille Kollegin angehört hatte.

Colette war sofort Feuer und Flamme, hatte jedoch die mir unbegreifliche Idee, Sören mitzuschleppen, damit unser armer Eremit mal was erlebe. Ich war zugegeben mehr als überrascht. Letzten Endes war es aber ein ungewöhnlich netter Zug von ihr, ein sehr sozialer Zug sogar, wenn man bedenkt, dass Colette optisch unattraktiven Männern gegenüber ziemlich ignorant sein konnte, als hätten sie per se kein Recht auf ihre Aufmerksamkeit. Nach anfänglicher Skepsis hinsichtlich ihrer Motivation also - schließlich ging es um keinen geringeren als Sören, verdammt noch mal! - gefiel mir ihre Idee, zum Teil auch, weil ich zugegeben gespannt darauf war, wie unser Großstadtneurotiker sich in der stimmungsgeladenen Karaoke Bar von Kai und Samantha behaupten würde.

Ich hatte zusammen mit Patrick und ein paar anderen Freunden einige typische Abende dort miterlebt: Wessi-Touris, die sturzbesoffen versuchten, »Satisfaction« zu singen und wie Mick Jagger mit den Armen zu rudern, oder die feierfreudige türkische Geburtstagsgesellschaft, die sich nicht scheute, »Simarik« von ‚Tarkan‘ gleich dreimal abspielen zu lassen und jedes Mal den Song voller Inbrunst und neuer Interpretation zum Besten gab, außerdem noch der einsame Alleinausgeher mit dem Weinglas in der Hand, der »My Way« mehr sprach als sang, weil immer irgendein einsamer Alleinausgeher es mit »My Way« versuchte, und nicht zuletzt die jugendliche Truppe, die Titel von Rihanna oder Peter Fox durchaus unterhaltsam darzubieten wusste und schon allein unter sich eine Menge Geschrei und Gelächter verursachte.

Und das restliche Publikum, ja, das restliche Publikum amüsierte sich köstlich: mal schadenfroh, mal gerührt, mal begeistert grölend, trank und tanzte es auch mal auf den Tischen, bis irgendwann Kai und Samantha als schrilles Gesangsduo mit Perücken und passendem Outfit den letzten Song - meistens etwas aus den aktuellen Charts - anstimmten, sozusagen als humorige Einlage, aber in erster Linie als netten Hinweis darauf, dass der Laden bald schließen würde.

 

Freitagnacht schlief Finn - zu meinem Leidwesen - wieder bei Lenny, ohne mir den geringsten Einwand zu gestatten. Unser gemeinsames Spaghetti-Essen, das ich mit aller Liebe zubereitet hätte, musste somit gestrichen werden. Ich machte deswegen kein Drama, war aber schon ziemlich geknickt. Nein, ich hielt ihn besser nicht auf, auch wenn ich ihn am liebsten nur noch bei mir behalten hätte, denn jede Minute, die ich von ihm getrennt war, fiel mir mittlerweile immer schwerer, wurde geradezu unerträglich, fast so, als käme ich auf Entzug oder so … Ich weiß, wie bedenklich das klingt, aber so war es nun einmal.

Finn erklärte mir ausführlich, er müsse sich noch mit seinem Laptop beschäftigen, paar Programme installieren, die Systemsicherheit checken und diesen ganzen technischen Kram eben. Ich sah ihn nur bitter enttäuscht an, sagte nichts, war viel zu enttäuscht.

Wir machten aus, dass wir uns bei der Abschiedsfeier sehen würden, und ich beschloss, der Sehnsucht nach ihm die große Vorfreude auf den nächsten Abend entgegenzusetzen, was tatsächlich ein wenig half.

Samstagmorgen, nachdem ich zwei Tassen Kaffee hinunter gekippt und geduscht hatte, tat ich etwas, was ich samstags sehr ungern tue: Ich ging shoppen, gönnte mir seit Ewigkeiten mal wieder schöne Unterwäsche, kaufte ein hübsches, kurzes Oberteil, das bordeauxrot und enganliegend war und am Rücken wie ein Mieder zusammengebunden wurde, und dazu eine knallenge, schwarze Röhrenjeans, in der sich mein Po gut gestützt und proper anfühlte - immerhin - denn mein Spiegelbild konnte ich nicht so recht beurteilen und ließ es auch lieber sein.

Mein Outfit für den Abend stand damit fest.

 

Die kompromisslos aufgebrezelte Colette holte mich gegen halb neun mit ihrem sehr alten, unfassbar zitronengelben Citroën - sie liebte diesen Wagen - und einem sichtlich angespannten, aber gutgelaunten Sören auf dem Rücksitz ab. Auf die Frage, ob sie denn nicht vorhabe zu trinken, antwortete sie nur, sie werde den Wagen selbstverständlich stehen lassen, da solle ich mir keine Gedanken machen, wir könnten dann alle mit dem Nachtbus oder der U-Bahn nach Hause fahren.

Okay, gebongt.

Unterwegs fiel Sören auf, dass er sein Geld zuhause vergessen hatte: ob wir nicht noch mal zu seiner Bude zurück könnten? Er würde schnell hochrennen und sein Portemonnaie holen. Die Idee war kompletter Bockmist, also lieh ihm Colette einen Fünfziger, den er zufrieden und mit vielen nervigen Dankesbekundungen an sich nahm. Ich ließ beide bei der Gelegenheit wissen, dass sie wahrscheinlich nicht einen Cent würden ausgeben müssen.

Die Nacht war extrem kalt, und ab und zu schneite es einige schwerfällige, dicke Flocken, aber so richtig wollte der Schneefall noch nicht einsetzen. Da die Heizung des Citroëns seinen Geist aufgegeben hatte, mussten wir uns mit guten Gedanken warmhalten, was mir persönlich, angesichts meines baldigen Treffens mit Finn, kaum schwerfiel. Verrückterweise kam es mir wie eine Ewigkeit vor, seit wir uns gesehen hatten.

 

Kai und Samanthas Karaoke Bar heißt ‚MikroManiac‘ und zeichnet sich durch einige sehr exklusive Merkmale gegenüber anderen Karaoke Läden aus: Hier gibt es die größte Auswahl an internationalen Songs aus allen Jahrzehnten von 1950 bis in die heutige Zeit hinein, die Getränke sind wesentlich günstiger als woanders, die Tonanlage ist erstklassig, und man sitzt auf kleinen runden Hockern um kleine runde Tische herum. Der Vorteil dieser Sitzart ist, dass man viel öfter aufsteht und tanzt, oder zur Bühne stapft und ein Liedchen trällert, da man sich aus Mangel an Bequemlichkeit nicht festsitzen kann.

Kai und Samantha stehen immer zu zweit hinter der Theke und mixen die tollsten Drinks, und zwei oder drei asiatische Bedienungen in bunten Manga Outfits - kein Scherz! - rennen fleißig herum und nehmen Bestellungen entgegen.

 

Die Parkplatzsuche verlangte Konzentration und kostete Nerven, besonders Colettes, die zwischen ihren spontanen Gesangseinlagen über den Verkehr fluchte und schimpfte wie Berliner Taxifahrer im Stau. So war es auch kaum auszuhalten, dass Sören völlig unbehelligt und ohne Unterlass über seine Ex-Freundin plauderte, die ihn vor zwei Jahren nach einer dreijährigen Beziehung in einer Nacht und Nebel Aktion verlassen habe. Er sei gerade von seiner Schicht im Kino heimgekommen, als er sie beim Packen vorfand, habe sie höflichst um eine Erklärung gebeten, und sie habe gesagt, dass es schon wieder bezeichnend für ihn sei, nicht zu wissen, warum sie nun ginge. Er habe sich dann seinem Schicksal ergeben und sie ziehen lassen. Es sei ihm wohl nicht gegeben, Frauen zu verstehen. Colette und ich nickten an dieser Stelle heftig zustimmend.

Sören unterbreitete gewagte Theorien darüber, dass seine Ex wohl nie gewusst habe, was sie eigentlich wolle. Dafür wusste sie scheinbar sehr gut, was sie nicht wollte, dachte ich mir im Stillen und mit viel Respekt für diese Frau, die es mit ihm immerhin versucht hatte, schielte daraufhin kurz nach hinten, wo Sören hinter dem Fahrersitz zusammengekauert und der Kälte trotzend dasaß und an seinen Ekzemen im Gesicht pulte, lächelte ihn angestrengt an, weil ich immer wegen meiner stichelnden Gedanken ein latent schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte, und sah wieder nach vorn.

Colette rollte mit den Augen und machte tiefe, unmissverständliche Seufzer, wie nur sie es kann, und warf mir immer wieder einen theatralisch genervten Seitenblick zu, und ich gab ihr mit liebevollem Ausdruck meiner gesamten Körpersprache zu verstehen, dass sie es schließlich gewesen war, die uns Sören unnötigerweise aufgehalst hatte.

Aber, nun ja, wir würden uns wegen ihm und seinen Ekzemen den Spaß nicht verderben lassen! Das stand fest! Also grinsten wir uns wieder verständnisvoll zu, und ich drehte einfach das Autoradio richtig LAUUUUUT, so dass unser - vermutlich aus einer dramatischen Selbstunsicherheit heraus - endlos plappernder Sozialfall übertönt und zwangsläufig zum Schweigen gebracht wurde, denn, hey, genug war genug. Außerdem konnten wir uns auf diese Weise stimmungsmäßig schon mal auf die bevorstehenden Stunden in der Karaoke Hölle einstellen.

Gemeinsam jaulten wir zu »Supermassive Black Hole« von ‚Muse‘ mit. Ja, auch Sören war voll dabei, allerdings klatschte er dabei peinlich in die Hände, als hörte er Volksmusik oder einen Schunkelschlager … Was soll man dazu sagen? Uncool bis auf die Knochen …

Und endlich fanden wir auch einen Parkplatz.

Ab diesem Moment schlug mein Herz wieder schneller, polterte aufgeregt in meiner Brust herum wie ein gefangenes Tier in einer zu kleinen Box, und im Bauch hatte ich dieses flatterige Gefühl, weil ich wusste, in wenigen Minuten würde ich Finn wieder ganz nah sein können.

Heute Abend sollte jeder mitkriegen, dass wir so richtig zusammen waren … Finn Flanagan und ich.

Es schneite nicht mehr, aber die eisige Kälte kroch uns schneller in die Knochen, als uns lieb war. Wir mussten circa zehn Minuten schnellen Schrittes marschieren, bevor wir das ‚MikroManiac‘ erreichten. Unterwegs rauchten Colette und ich noch eine hektische ‚Der Abend geht jetzt richtig los‘- Zigarette. Sören, diesmal in der Rolle des Oberschulmeisters, tadelte uns deswegen ganz vehement. Bei solcher Kälte, meinte er, würde Rauchen die Lungen besonders schlimm schädigen und bla bla bla ... Doch laut lachend und mit übertrieben mitleidigen Klimperaugenaufschlägen erstickten wir seine Bedenken im Keim. Es war schon irgendwie gemein, wie wir mit ihm umgingen, und ich fragte mich gelegentlich, ob Colette ihn zum Quälen mitgenommen hatte. Sie steckte mich jedenfalls mit ihrer dubiosen, zweideutigen Art ihm gegenüber immer wieder an, und das war nicht unbedingt gut …

Als wir endlich vor dem Laden standen und auf Einlass warteten, hatte ich bereits beschlossen, von nun an netter zu Sören zu sein und mir keine Spitzen mehr zu erlauben. Zumindest wollte ich mich nicht mehr über ihn lustig machen, auch wenn es mir schwerfallen würde, aber der arme Kerl sollte auch seinen Spaß haben, wenigstens heute Abend.

Die Bar war bereits gerammelt voll, was für eine Samstagnacht bei Kai und Samantha durchaus normal war. Gerade sang ein langhaariger Typ mit einer weißen Marineuniformjacke, die komplett aufgeknöpft war und Einblick auf sein rotes, weit ausgeschnittenes Muscle-Shirt und seine muskulöse Brust bot, aus voller Kehle »Bad Romance« von ‚Lady Gaga‘ und traf nicht einen einzigen Ton. Trotzdem feuerte ihn das Publikum kräftig an, so dass er auch noch eine bizarre, roboterhafte Tanzeinlage hinlegte, die für noch mehr Jubel und Geschrei sorgte. Colette klatschte sofort extrovertiert laut in die Hände, Pfiff auf zwei Fingern und schrie in Richtung Bühne »Yeah, Baby, gib alles«, während der Typ nun völlig abging und das Publikum in vollem Einklang »Ra…ra…rambam…bara…« oder so ähnlich mitsang.

Die allgemeine Stimmung war also schon bestens.

Wir wussten, dass Patrick und die anderen im hinteren, rechten Bereich, nahe zur Bühne, sein würden, so hatten wir es mit ihm abgesprochen. Also bahnten wir uns den Weg durch die Tische und das Stehpublikum, das mehr herumhüpfte und zappelte, als zu stehen, und entdeckten zuallererst Lenny, der auf einem Hocker balancierte, seine Bierflasche in die Luft gestreckt hielt und mit vollem Einsatz und reichlich laut mitgrölte, anders konnte man es nicht ausdrücken. Er trug ein kurzärmeliges weißes Hemd und eine schmale rote Krawatte zu Hosen im Schottenmuster. Wow! Ich hatte ihn noch nie in einem solch extravaganten Outfit gesehen, scheinbar machte er gerade eine modische Experimentierphase durch.

Patrick, seine Freundin Louise und Alice saßen um einen Tisch herum, unterhielten sich ausgelassen, was man deutlich an ihrer Mimik und den zuckenden Lippen erkennen konnte, bis sie unsere Ankunft bemerkten und uns laut zu sich her winkten …

Aufgeregt scannte ich blitzschnell die gesamte Szenerie und fand leider keinen Finn … nirgends. Entweder konnte ich ihn nicht entdecken, weil er vielleicht gerade auf der Toilette war, oder er war noch gar nicht gekommen. Ich hoffte, dass Letzteres nicht der Fall sein würde.

Eine Schwermut legte sich sofort auf meine Brust und ich musste tief durchatmen.

»Er ist noch nicht da«, flüsterte mir Patrick während unserer Umarmung gleich ins Ohr, vermutlich um mir weiteres verzweifeltes Suchen und Fragen zu ersparen. Ich nickte schwach, ohne mir meine schwere Enttäuschung anmerken zu lassen, lächelte tapfer und begrüßte mit ganzer Hingabe die adrette Louise und anschließend meine alte Freundin Alice, die trotz ihrer Körpermasse wie ein Flummi aufsprang, mich mit ihren kräftigen Armen fest an ihre Brust presste und mit mir auf der Stelle laut jauchzend auf und ab hüpfte. Sie fühlte sich mächtig voluminös, warm und weich an, als würde ich gegen ein aufgewärmtes Riesenkissen gedrückt werden, was irgendwie ein schönes, kuscheliges Gefühl war.

Ich stellte allen die unverwechselbare Colette und den schüchtern dreinblickenden Überraschungsgast Sören vor und verschwand kurz darauf auf der stark frequentierten Damentoilette, um mich zu sammeln … um … meinen in nutzlose Einzelteile zerfallenen Optimismus irgendwie wieder zusammenzusetzen und mich hoffnungsvoll, statt deprimiert zu fühlen.

Ich wusch mir die Hände, checkte meine akkurat geschminkten Augen - mein Lidstrich war an diesem Abend nach zwei missglückten Anläufen durchaus perfekt gelungen - und ließ mich per innerer Stimme wissen, dass Finn sicher bald kommen würde und ich wieder guten Mutes zurück zu den anderen gehen sollte.

 

Lenny sprang inzwischen auf der Bühne herum und trug allen Ernstes »Bulletproof« von ‚La Roux‘ vor. Klasse, haha! Wir lachten uns krank und klatschten ganz laut Beifall. Für einen kurzen Moment war ich von meinen trüben Gedanken um Finns Abwesenheit abgelenkt, was gut tat, und Colette versorgte mich mit einem grellgrün leuchtenden Drink, der nach Chemie und trotzdem eigenartig prickelnd wie Bowle schmeckte. Statt mir preiszugeben, was sie mir da in die Hand gedrückt hatte, gab sie mir mit einem gebieterischen Zwinkern zu verstehen, dass ich ihn zügig austrinken sollte.

Eine Stunde später hatte ich bereits drei solcher Killer-Drinks getrunken, zwei grauenvoll unmotivierte Gesangsauftritte hinter mich gebracht - einen mit einer aufgedrehten Colette und einen mit der sentimentalen Alice - hatte mit Patrick so was Ähnliches wie Twist getanzt, während Louise und Lenny den Klassiker »Rock around the Clock« sangen und war schließlich in der Toilettenkabine, nachdem ich meinem Blasendrang widerwillig nachgegeben hatte, einem spontanen Weinkrampf erlegen, weil, tja, weil ich nun fast sicher war, dass Finn nicht mehr kommen würde und dieser Gedanke mich zusammenstauchte wie Tritte mit Springerstiefeln.

Nach zwei Tequila Runden an unserem fröhlichen Tisch zog ich kurzerhand, ohne groß nachzudenken, mein Handy aus der Tasche und wählte Finns Nummer … Eine monotone Frauenstimme meldete sich und behauptete unsensibel und gleichgültig, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei … Ich ließ mich zu mehreren unschönen Ausdrücken hinreißen und beendete die Verbindung.

Eine weitere Stunde später war Sören völlig von der Rolle und aufgekratzt wie ein Kapuzineräffchen auf Speed, weil er von Colette, Louise und Alice behandelt wurde, als sei er einigermaßen gesellschaftsfähig und ein durchaus liebenswerter Kerl, dabei hatten sie ihn sich nur erträglich getrunken. Sören selber hatte stundenlang an einem Tomatensaft genippt, in dem garantiert kein Alkohol war und kritisch auf die Geschehnisse um sich herum gestarrt, bis ihn der Übermut packte und er schließlich auch auf die Bühne schlurfte und den ersten Hit von den ‚Fantastischen Vier‘ - »Die da« - vorzutragen versuchte. Er sah dabei durch seine steife Haltung so grotesk fehlplatziert aus und sang so unwirklich falsch und unrhythmisch, dass das ansonsten sehr tolerante Publikum kurzzeitig in ein betretenes Schweigen verfiel und ungläubig und staunend Sörens einzigartig peinlichen Auftritt bis zum Ende verfolgte. Ich hockte derweil auf einem der unbequemen Hocker und ließ mich von einer sehr mitteilungsbedürftigen Alice zutexten, verstand aber weder akustisch noch inhaltlich auch nur ein einziges Wort, was mir absolut nichts ausmachte, da meine Gedanken sowieso ständig woanders hindrifteten.

Kurz nach Mitternacht erreichte die Stimmung im Laden - ganz im Gegensatz zu meiner eigenen - ihren Höhepunkt, als die jugendliche Truppe gemeinsam »Seven Nation Army« von den ‚White Stripes‘ sang und so ziemlich jeder, der sich im ‚MikroManiac‘ befand, mindestens maximal beschwipst war und eine Menge Krach machte.

Lenny, den ich eine Weile schon nicht mehr auf dem Schirm gehabt hatte, tauchte irgendwann aus dem Trubel wieder auf, krallte sich an meinen Schultern fest und schrie mir ins Ohr: »HEY, VALERIE! SCHAU MAL … WEER … DAAA … KO…OMMT ... HAHA« und tauchte sofort wieder ab, bevor ich ihm etwas entgegnen konnte. Mein Herz reagierte auf seine Ansage mit einem so heftigen Salto, dass ich innerlich zusammenzuckte, während ich mit aufgerissenen Augen hoffnungsvoll in Richtung Ausgang spähte und angestrengt versuchte, in der dichten Menge fremder Gesichter das eine bekannte Gesicht zu entdecken, auf das ich die ganze Zeit voller Ungeduld wartete.

Tatsächlich entdeckte ich ein mir sehr bekanntes und auch attraktives Gesicht: Es gehörte allerdings meiner Schwester Natalie, die hüftschwingend und glitzernd auf uns zugestakst kam und mich gleich mit den Worten »Valerie, was machst du denn für eine Schnute?« begrüßte.

Oh je, was machte ich denn für ein Gesicht?

Doch im nächsten Augenblick ging der unverwechselbare Beat vom »Roadhouse Blues« von den ‚Doors‘ los und mich ergriff die plötzliche Paranoia, dass zu allem Übel auch noch Tom Nowak aus irgendeinem dunklen Winkel hervorspringen könnte.

Wie die meisten sah ich spontan zur Bühne und dank der mir gebotenen Überraschung hyperventilierte ich sofort.

Finn!

Er hatte das Mikrofon mit beiden Händen umfasst und sang:

 

»Leave your eyes on the road, your hand upon the wheel.

Leave your eyes on the road your hand upon the wheel.

Going to the Roadhouse, going to have a real … a good time …«

 

Ganz unmerklich hatte sich Patrick mit einem breiten Grinsen an meine Seite gestellt, stupste mich paar Mal mit dem Ellbogen an, klatschte enthusiastisch in die Hände und ließ mich spüren, dass er erleichtert war und sich für mich freute.

»SINGEN KANN ER AUCH NOCH!«, brüllte er mir in die Seite. Ich nickte heftig, weil es absolut stimmte und ich so außer mir war, dass ich nicht sprechen konnte. Patrick packte meine Hand und zog mich hinter sich durch die Menge bis vor die Bühne.

Finns Version vom »Roadhouse Blues« war geradezu sensationell, was keineswegs nur meine voreingenommene, verblendete Meinung war, sondern anhand der überschwänglichen Publikumsreaktion unmissverständlich bestätigt wurde.

Trotz seiner konzentrierten Show entdeckte er mich sofort und winkte mir knapp zu. Ich stand steif und regungslos da und starrte ihn voller Bewunderung mit offenem Mund an, als wäre er ein heißbegehrter Popstar. Er lächelte sein Killerlächeln, kam mit schleichenden Schritten singend auf mich zu und beugte sich von der leicht erhöhten Bühne zu mir herunter:

 

»… You gotta roll roll roll, you gotta THRILL MY SOUL … alright!«

 

Er sah mir dabei so eindringlich in die Augen, dass mir heiß und kalt wurde und ich nur noch von dem Wunsch beseelt war, mich mit Stahlketten für immer an ihn zu fesseln, so dass uns nichts und niemand würde je wieder trennen können. Mit einer auffordernden Geste streckte er mir die Hand entgegen, die ich sofort bereitwillig ergriff, und zog mich mit einem kräftigen Ruck auf die Bühne hoch.

Alle Zuschauer, die in der unmittelbaren Nähe herumstanden, klatschten freudig in die Hände, pfiffen und schrien und amüsierten sich offensichtlich bestens über uns beide.

Ich musste ununterbrochen grinsen, weil ich endlich bekam, was ich schmerzlich vermisst hatte, und Finn legte den Arm um meine Schultern, drückte mir einen heißen Kuss auf die Wange und sang den Song zu Ende.

Ich weiß noch, wie ich dachte, Jim Morrison wäre bestimmt stolz auf ihn gewesen, und prompt fielen mir Metin, der Möchtegern Morrison von ‚TurkTrash‘ und Tom, der hochtalentiert war, ein, und wie die beiden einfach nicht miteinander auskamen, obwohl sie doch das Gleiche wollten. Kaum gedacht purzelten diese Gedanken schon wieder aus meinem Kopf, und ich blickte nur noch verträumt in das schöne Gesicht meines neuen Freundes und hoffte, dass jeder, der uns sah, mitkriegte, wie verliebt wir waren.

Alle unsere Getränke in dieser Nacht gingen auf Patricks und Lennys Konto, und wir ließen es uns gut gehen. Die von Patrick zum dritten oder vierten Mal angekündigte Schlussrunde schien nicht enden zu wollen, und sogar Natalie, die sich sonst bei Alkohol eher zurückhielt - »Ist alles Zellgift, Valerie!« - trank mit. Sie hatte, wie sie munter erzählte, einen anstrengenden Tag hinter sich: hatte ein umfangreiches Referat schriftlich ausgearbeitet, ihre Wohnung endlich mal wieder durchgesaugt, Lebensmittel für die nächste Woche eingekauft, ihr gesundes Bio-Menü gekocht, am Abend eine todlangweilige Verabredung mit einem »ultraspießigen Kommilitonen« überstanden, bei der es um eine gemeinschaftliche PowerPoint-Präsentation zum Thema ‚Posttraumatisches Belastungssyndrom‘ gegangen war. Doch jetzt war sie hier und dankbar für die ausgelassene Party, die sie mit uns allen mitfeiern konnte, und freute sich über unser Wiedersehen, wie sie immer wieder beteuerte.

Auch wenn es eine Abschiedsparty war, war es doch ein unbekümmerter Abschied, denn Patrick und Lenny würden nach einer bestimmten Zeit mit Koffern voller neuer, aufregender Erfahrungen und Erinnerungen nach Berlin zurückkehren und dann erstmal eine Wiedersehensparty veranstalten. Ich wusste, ich würde die beiden vermissen, vor allem Patrick, aber jetzt war ich nicht mehr allein, hatte jemanden an meiner Seite, hatte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder einen Freund … Alles war also nur halb so schlimm …

Natürlich hatte ich Natalie Finn vorgestellt, und sie hatten ein paar Höflichkeitsfloskeln miteinander ausgetauscht, mehr nicht. Ich hatte also keinen blassen Schimmer, was sie voneinander hielten, oder wie ihr erster Eindruck voneinander war, was mich brennend interessiert hätte. Na ja, mit etwas Geduld würde ich es sicher noch herausbekommen.

Von Alice bekam ich bei der erstbesten Gelegenheit wortreich und nicht gerade jugendfrei zu hören, dass sie Finn ausgesprochen »foxy« fand, ein Ausdruck, den sie im Internet aufgeschnappt hatte und der angeblich »ultraheiß« bedeutete.

Doch Colette ließ mich diesmal, zu meiner Verwunderung, mit einem ganz untypischen, erhobenen Zeigefinger wissen, dass er »zu schööön und zu perrfeekt« sei und mutmaßte, dass diese Kombination nichts als »fürchtbarre Problemme und vieeel Katastroph« bedeuten könne, aber auch »olala, mon dieu« sei, was man frei nach Gusto interpretieren durfte. »Ja«, erklärte ich ihr, »mon dieu« und »olala« seien genau die richtige Beschreibung für Finn und ignorierte den Rest.

Als ich irgendwann von Lenny und Colette, die sich im Laufe des Abends ganz offensichtlich immer besser verstanden - denn Colette saß zwischenzeitlich sogar mal auf Lennys Schoß und hatte dabei so was wie einen pubertären Lachflash - trotz vehementer Proteste meinerseits, mit auf die Bühne gezerrt wurde, bekam ich aus dem Augenwinkel noch mit, wie Patrick und Finn dicht beieinander standen. Mit merkwürdig ernsten Mienen unterhielten sie sich, als wären sie Geschäftsmänner, die einen Deal abschlossen. Finn nickte ständig und klopfte Patrick mehrmals auf die Schulter, als würde er ihn beruhigen oder vielleicht auch etwas beschwichtigen wollen, und Patrick gestikulierte, als müsste er damit seinen Worten mehr Ausdruck oder Glaubwürdigkeit verleihen. Schließlich schienen sie sich einig zu sein, prosteten sich mit ihren Bierflaschen zu und blickten zur Bühne.

Ich musste bei diesem komischen »Jungle Drum« Lied mitsingen, was ich nicht besonders gut konnte, aber ich gab mir Mühe, um Lenny und Colette nicht zu enttäuschen und vor versammelter Mannschaft endgültig dazustehen wie die völlige Gesangsnull. In den Textpausen suchten meine Augen sofort nach Finn, den ich mal in der einen, mal in der anderen Ecke ausfindig machen konnte, und der abwechselnd entspannt oder nachdenklich aussah. Er hielt seine Bierflasche an die Brust gedrückt und schaute allem Anschein nach mit einer gewissen Belustigung unserem Treiben auf der Bühne zu.

Als wir endlich fertig waren, gab es tobenden Applaus für unser Bemühen. Lenny und Colette rissen die Arme in die Höhe und die meinen gleich mit und verabschiedeten sich vom Publikum, als wären sie selbstverliebte Rockstars, die gerade nach einem Mega-Gig mehrere Zugaben gespielt hatten und nun mit wehenden Fahnen von der Bühne stolzierten.

Ich konnte nicht anders, als mir vor lauter Lachen den Bauch zu halten. Ich lief schnurstracks zu Finn, der mir sofort einen Arm um die Schultern legte, eine eindeutige Geste, als wollte er damit allen zeigen, dass ich ausschließlich nur zu ihm gehörte. Er lächelte mich schief an und gab mir einen zärtlichen und sehr langen Kuss auf den Mund.

Ich hätte vor Glück platzen können.

Sören, der dicht hinter Finn stand, schaute betreten weg, als wäre ihm unser Anblick irgendwie unangenehm und verschwand schließlich aus meinem Sichtfeld.

Das mit den Abschlussrunden schien so gar nicht klappen zu wollen, denn wir saßen wieder allesamt um einen der Tische, hatten volle Drinks vor uns und genossen den Abend.

Patrick schielte ab und zu auf seine Armbanduhr und versuchte die Uhrzeit zu erkennen.

»Ihr könnt doch ausschlafen«, sagte Finn. »Euer Flug geht doch erst am Abend, oder?«

Patrick schüttelte energisch den Kopf. »Nachmittag ist eher korrekt! Man muss zwei Stunden vor Abflug am Flughafen sein. Und ausschlafen? Hm, erzähl das mal Lenny … Seit Tagen ist er völlig aufgedreht, schläft kaum noch und ist ständig am Listen Schreiben und Checken und seine Reisetasche Ein- und Ausräumen. Der geht mir auf den Senkel …« Er lachte laut, während er seine Brille zurechtschob.

»Und Patrick chattet ständig mit diesem Internet Blogger, der einen ähnlichen Trip gemacht hat, hat ihn schon nach Berlin eingeladen und so.« Lenny setzte sich mit einem sportlichen Schwung auf einen der Hocker und grinste hellwach in die Runde. Seine blonde Sturmfrisur klebte schweißnass an Stirn und Schläfen. Colette kicherte und nahm einen Schluck von ihrem Rotwein, Alice verdrehte den Kopf nach dem Typ mit der Marineuniformjacke, der gerade zum Tresen torkelte, und Louise musste auf die Toilette.

Natalie schlürfte durch einen Strohhalm ihren Cocktail und musterte Finn, was mir nicht entging, auch wenn sie versuchte, es möglichst unauffällig zu tun. Ich mühte mich ab, mir eine vage Vorstellung von ihren Gedanken zu machen, wusste aber ihren Blick absolut nicht zu deuten, also hoffte ich inständig nur das Beste.

»Wir machen allerdings die härtere Tour, sozusagen den Ironman Trip, haha. Wir lassen uns südamerikanisch durchbacken, während hier der kalte Winter durchs Land fegt«, fügte Lenny mit geschwollener Brust hinzu.

»Aat jemand Sören gösehn?«, fragte Colette plötzlich mit großen Augen, und alle blickten suchend um sich und schüttelten mit den Köpfen.

»Vorhin stand er noch hinter mir und hat von seiner Freundin erzählt, die ihn verlassen habe«, sagte Finn. Für einen Moment sahen ihn alle an und schwiegen, als würden sie erwarten, dass er noch mehr erzählte ... tat er aber nicht, nahm lieber einen genüsslichen Schluck von seinem Bier und zwinkerte mir kurz zu.

»Du Ärmsteer«, lachte Colette schließlich. »Musstest du dir seine Geschichte mit der Ex anören?« Sie blinzelte Finn verwegen an, und ich fragte mich, was dieses Wimperngeklimper eigentlich sollte.

»Ich habe ihn wegen der lauten Musik überhaupt nicht richtig verstanden, was ich ihm auch gesagt habe, aber er hat einfach weitergeredet«, fügte Finn mit einem vergnüglichen Grinsen hinzu.

»Der Typ ist irgendwie schräg«, sagte Alice, immer noch die Marineuniformjacke im Visier.

»Wen meinst du jetzt, Sören oder den ‚Bad Romance‘-Coverfoto-Typen dort drüben am Tresen?«, fragte ich sie.

»Hm? Äh, nein, euren Kollegen meine ich doch«, antwortete sie viel zu laut.

»Er ist kauzig, aber ich glaube, ansonsten ist er in Ordnung, stimmt‘s Colette?«

Ich sah zu Colette rüber, die gerade die letzten Schlucke von ihrem Rotwein hinunterkippte und dabei mit der Hand wedelte. Dann sagte sie: »Oui, ja ja, komisch iest err, abeer okay komisch, err ist sischeer etwas einsam und kein Casanova, non, tut mirr leid.«

Wir lachten alle und stießen mit unseren Getränken an, und Patrick verkündete, dass nach dieser Runde wirklich Schluss sei, es sei ja schon fast 04.00 Uhr und der Laden würde auch bald dichtmachen. Er und Lenny müssten wenigstens ein paar Stunden schlafen, und außerdem noch ihr Proviantzeugs einpacken, weil man inzwischen auf den Flügen nur Mist zu essen kriege und viel zu wenig dazu, und sie würden von Patricks Wohnung aus mit dem Taxi zum Flughafen fahren, was bedeutete, dass Lenny bei Patrick schlafen sollte und Lennys Sachen noch abgeholt werden mussten …

Meine Ohren wurden daraufhin ganz spitz!

Als wir im Begriff waren, uns aufzulösen und Colette und ich, aus einem unsinnigen Verantwortungsgefühl heraus, nach Sören zu suchen begannen, zog mich Natalie zur Seite und flüsterte mir verschwörerisch ins Ohr, ich solle sie zur Toilette begleiten. Dort angekommen machte sie ein ernstes Gesicht und sagte, sie habe sich Finn genau angesehen, er sei ein ziemlich anziehender Typ, ja, er sei diese ganz bestimmte Sorte, und sie habe da kein gutes Gefühl.

»Was soll das bedeuten ‚kein gutes Gefühl‘?«, fragte ich sie verstört und versuchte den aufkeimenden Ärger in mir nicht zu zeigen. Wir hatten uns schließlich wegen einer banalen Auseinandersetzung schon ewig nicht mehr gesehen, und ich wollte, dass wieder Frieden zwischen uns herrschte und unsere Eltern sich keine Sorgen mehr machten.

»Ich kann es dir nicht genau sagen, Valerie, aber ich habe das Gefühl, dieser Typ ist ganz undurchsichtig, ich mein, als hätte er ein Geheimnis oder so. Ich habe ihn beobachtet, weißt du. Wenn du mich fragst, plagt ihn irgendwas oder keine Ahnung, aber ich hab ein komisches Gefühl!«

Ich starrte sie verblüfft an. »Ein komisches Gefühl?« Ich war so stinksauer, am liebsten hätte ich sie zur Seite geschubst und wäre einfach rausgestampft.

»Hm, ich meine, dass er irgendwie nicht authentisch ...« Sie beendete ihren Satz nicht und sah mich unsicher an. »Ach, na ja, vielleicht übertreibe ich auch, vergiss es einfach, in Ordnung, sorry, mein Psychostudium ist schuld, wirklich. Wir machen gerade diese ganzen Persönlichkeitsmacken und Traumatisierungen durch. Ich sehe nur noch gestörte Leute um mich herum, sorry, Valerie, ja?«

Ich nickte widerwillig.

»Du hast ihn doch nur einmal, nur heute Abend erlebt«, sagte ich entrüstet. »Ich weiß nicht, weshalb du auf so Begriffe wie ‚undurchsichtig‘ kommst und er sei nicht ‚authentisch« und lauter so ein Blödsinn. Ich versteh das echt nicht. Wie kann man denn so schnell ein Urteil über jemanden fällen? Kommt mir so vor, tja, als könntest du mir einfach nichts gönnen!« Jetzt klang ich beleidigt und kleingeistig.

Natalie sah mich bestürzt an und änderte ihren Tonfall in ein verzweifeltes Flehen: »Oh nein, bestimmt nicht, Valerie, bitte vergiss alles, was ich gesagt habe, bitte! Ich habe aus dem Bauch heraus geredet, tut mir echt leid. Wir werden sehen, ja? Nein, ich meine, ich war zu voreilig, tut mir wirklich leid, bitte? Ich entschuldige mich, hörst du! Entschuldige! Ich wollte dich wirklich nicht verunsichern, okay?« Sie sah mich mit ihren großen Augen an wie eine eingebildete Eule, die nachgab und trotzdem glaubte, alles besser zu wissen.

»Mhm.« Ich versuchte mit größter Mühe, mich nicht weiter wegen Natalies »ungutem Gefühl« aufzuregen und mich wieder auf meine gute Laune zu besinnen.

Wir gingen wie Fremde schweigend hintereinander hinaus.

Inzwischen hatte Colette Sören aufgestöbert und wartete mit ihm am Tresen, beide sahen ungeduldig aus. Patrick und Lenny sprachen mit Kai und Samantha, die viel lachten und gestikulierten. Doch wo war Finn? Und wo waren Louise und Alice?

Ich sah mich suchend um und traute meinen Augen kaum: Alice tanzte eng umschlungen mit dem langmähnigen Marineuniformtypen, der seinen Kopf zärtlich auf ihre üppige Brust gelegt hatte und mit ihr zu einem Song, der offenbar »Sunshine Reggea« hieß und von einer klitzekleinen Asiatin mit niedlicher englischer Aussprache gesungen wurde, hin und her wippte, als läge er in einer Hängematte.

Colette kam zielstrebig auf mich zu. »Sören und iesch teilen uns ein Taxi, Vallrie, was iest mit eusch, kommt iehr mit?«

Ich wandte mich an Natalie, die dicht neben mir stand. »Ich weiß nicht, ähm, Nati, wenn du mitfahren willst … Ich werde mit Finn gehen.«

Natalie sah mich finster an, als hätte ich ihr irgendetwas verwehrt. »Wo steckt er denn?«, fragte sie mit hochgerecktem Kinn.

Ich zuckte ratlos mit den Achseln. Doch Finn war bereits im Anmarsch, stand nach wenigen Sekunden neben mir und nahm mich in den Arm.

»Na, haben sie dich gefunden?«, fragte er mit Blick auf Sören, der nur müde seine Brille zurechtrückte und immer wieder unruhig zu Colette sah.

»Allez, let‘s go, Kinderschen, wir wollen los, ja.« Colette gab mir einen Abschiedskuss auf die Wange und sah Natalie fragend an.

»Komme mit, wartet, muss nur meine Jacke holen«, sagte die und stakste davon.

 

Alice war reichlich alkoholisiert und verabschiedete sich sehr ausgiebig und mit feuchten Augen von Patrick und Lenny. Sie wünschte den beiden alles Gute, viel Spaß und den »Schutz der aztekischen Götter« für eine sichere »La Bamba Reise« - hä? - vor allem auf der Straße des Todes, denn da, genau da sollten sie achtsam sein und ihr »Leben in Saus und Braus zu schätzen wissen und loben und preisen«, sagte sie bedeutungsschwanger und mit erhobenem Zeigefinger.

Alice, bitte!?

Nachdem sie ihren Spruch abgelassen hatte, verfiel sie in ein unsinniges, gackerndes Lachen, entschuldigte sich aber sofort, verteilte tausend schmatzende Wangenküsse an uns alle, einschließlich Finn, der sich reflexartig ganz steif machte, und sagte, dass sie einen tollen Abend gehabt habe, allerdings hätte sie den Typ mit der Uniformjacke leider nicht rumgekriegt, was sie sehr bedaure.

Patrick sagte etwas in Lennys Ohr und der hakte sich bei Alice unter, brachte sie nach draußen und setzte sie in ein Taxi, das sie ohne Umwege nach Hause fahren würde.

Von Patrick erfuhr ich, dass Louise bereits abgedüst war, aber morgen würde sie … Moment … nicht morgen … heute! Also, heute würde sie mit zum Flughafen kommen.

 

Patrick, Lenny, Finn und ich nahmen uns ebenfalls ein Taxi und fuhren zu Lenny. Nachdem er sich ganz rührselig von seinen Pflanzen verabschiedet, Finn wegen dem Gießplan neckisch ermahnt und seinen schweren Rucksack im wartenden Taxi verstaut hatte, war für uns alle der Moment des Abschieds gekommen.

Wir machten es kurz und schmerzlos, denn für lang und emotional hatten wir, vor allem ich, einfach keine Power mehr.

Finn und ich winkten unseren beiden Reisenden noch so lange nach, bis das Taxi in der Dunkelheit verschwunden war, und gingen schließlich Arm in Arm in Lennys Wohnung.

 

In dieser Nacht hatten wir keinen Sex.

Wir lagen auf Finns Matratze unter einer dicken Daunendecke und knutschten ein wenig. Er sagte, dass er glücklich sei und das Gefühl habe, in seinem Leben gehe es wieder voran. Er sagte, ich wäre das Beste, was ihm gerade passieren konnte. Wie eine Retterin sei ich aufgetaucht, denn er hätte beinah den Glauben an die Liebe verloren, nach all den schmerzlichen Erfahrungen, die er gemacht habe. Er war sehr zärtlich, seine Stimme flüsterte die Worte sanft in mein Ohr, während seine Finger auf meiner Haut auf und abfuhren. Ich fühlte mich sicher und geborgen wie ein zufriedenes Baby und glitt unmerklich in den Schlaf, und wurde dennoch von einem Albtraum heimgesucht: Ich träumte, Patrick läge wieder auf der Intensivstation und sei an mehrere lebenserhaltende Apparate angeschlossen. Man hatte ihm Arme und Beine eingegipst und Kopf und Torso wie eine Mumie dick mit Mullbinden verbunden, eigentlich ein fast schon komischer Anblick, aber mein Grundgefühl war alles andere als belustigt.

Und dann passierte etwas Seltsames: Die Krankenzimmertür ging auf, und Patrick kam gesund und munter herein, als sei nie etwas geschehen, lächelte mich an, streckte mir seine Arme entgegen, und ich blickte voller Verwunderung von ihm zum Krankenbett und sah, dass es leer war. Die weiße Decke lag zusammengeschoben am Fußende, das Kopfkissen hatte Dellen und das Laken war zerknittert, als hätte jemand lange Zeit darin gelegen. In diesem Moment dachte ich, okay jetzt ist mir alles ganz klar, das hier ist einfach nur ein verdammt bescheuerter Scheißalbtraum, und zwang mich, aufzuwachen. Wach auf! Wach auf! Tu es!

Mein Puls raste.

Finn lag friedlich neben mir und schlief tief und fest, was an seiner ruhigen Atmung erkennbar war. Ich schmiegte mich ganz dicht an ihn, wärmte meinen Körper an seinem, der wie ein Ofen Hitze ausstrahlte, ließ Ruhe in mich einkehren und schlief wieder ein, träumte diesmal zum Glück nichts mehr, jedenfalls nichts Schlimmes.