Patrick und Lenny planen einen Trip
»Wolltest du nicht Patrick zurückrufen?«, fragte er, als ich notgedrungen aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen. Ich hatte längst nicht mehr daran gedacht, doch jetzt, wo Finn mich darauf angesprochen hatte, fiel es mir wieder ein, dass Patrick etwas von einem Trip mit Lenny erzählt hatte …
»Ja, richtig, mach ich mal am besten gleich«, antwortete ich.
Ich zog mir Unterwäsche und ein Shirt an, nahm mein Handy und setzte mich im Schneidersitz in den Sessel.
Ich spähte zum Bett, wo Finn sich aufgerichtet hatte und jetzt eine Zigarette rauchte. Mit seinem nackten Oberkörper, seinen hinters Ohr geklemmten Haaren und diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck sah er einfach zum Dahinschmelzen aus - wieder so ein Ausdruck!
Um mich besser konzentrieren zu können, sah ich lieber wieder weg.
Patrick nahm den Anruf an.
»Hi, Paddy, ich bin‘s«, sang ich quietschvergnügt.
»Mit dir hatte ich heute Abend nicht mehr gerechnet. Was ist, macht ihr gerade Pause?«
»Ha ha!«, antwortete ich trotzig auf seine freche Bemerkung, schmunzelte dennoch und dachte, hoffe ich doch.
»Also, wie war das, du und Lenny wollt verreisen, hab ich das so richtig verstanden?«
»Wie ich es dir gesagt habe.«
»Wieso? Ich meine, wieso jetzt und wohin überhaupt? Und was ist mit Louise, nehmt ihr sie nicht mit?«
»Louise kann nicht weg, wegen der Arbeit, völlig ausgeschlossen, außerdem ziehen Lenny und ich das allein durch. Das wird vorerst mein letztes großes Abenteuer, so ein männlicher Selbsterfahrungstrip, bevor ich mich von ‚workoholischen‘ Architekturbüros anheuern lasse und mir die Eier abarbeite.«
»Wisst ihr schon wohin?«
»Hm … jaaa.«
»Machs nicht so spannend!«
»Wir machen eine Motorradtour durch Südamerika!«
»Nicht schlecht, wirklich, beneide euch drum, obwohl, ich würde grad nicht wegwollen von hier.« Ich blickte flüchtig zu Finn rüber, der mich konzentriert beobachtete.
»Kann ich mir denken. Sag mal, könnten wir uns heute Abend noch treffen, damit wir ausführlich reden können? Ich weiß, das kommt euch jetzt wahrscheinlich nicht so gelegen, aber es betrifft auch Finn.«
»Wie meinst du das?« Ich stand gerade auf dem Schlauch.
»Na, er wohnt schließlich bei Lenny. Da müssen manche Dinge besprochen werden. Finn kann da natürlich weiter wohnen bleiben, kein Problem.«
»Du willst dich wirklich heute Abend noch treffen?«
»Wär schon gut, weil wir gleich morgen mit den Vorbereitungen loslegen wollen. Außerdem ist erst 21.00 Uhr, oder hattet ihr vor, die ganze Nacht …?«
Ich unterbrach ihn schnell: »Nein, schon gut, ich frag mal, was Finn davon hält.«
Mein Sexgott hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt den Kopf seitlich geneigt, was mich ganz unerwartet an Tom erinnerte. Ein kurzer Schreckmoment packte mich … Oh je, dachte ich, das mit Tom ist gerade mal drei Tage her, Finn sollte besser nie etwas davon erfahren.
»Patrick will wissen, ob wir uns nachher noch mit ihm und Lenny treffen könnten.« Ich machte ein demonstrativ unentschlossenes Gesicht mit großen Augen und gerunzelter Stirn und wartete auf Finns Reaktion …
Weshalb tat ich das?
Einen kurzen Augenblick hatte ich ein befremdliches Gefühl zu mir selbst.
»Warum nicht. Und wo?«, fragte er, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wo?«, fragte ich Patrick.
»Habt ihr Lust rüberzukommen?«
Ich übermittelte die Frage an Finn, der sich einige Sekunden Zeit ließ - ich dachte schon, er werde ablehnen - bevor er zustimmend nickte.
»Okay«, tönte ich ins Handy. »Wir kommen rum.«
Patrick war hocherfreut. »Na bestens, dann bis nachher, du Flittchen.«
Och!
Ich legte grinsend auf und kroch schnell zu Finn ins Bett zurück. Eine weitere Nummer, bevor wir losgingen, war sicher noch drin, hoffte ich inständig.
»Und wohin wollen die beiden?«, wollte er wissen, während er zuließ, dass ich mich an ihn drückte und hoffnungsvoll mit dem Finger über seine Lippen fuhr.
»Südamerika! Motorradtour! So ein ‚Freiheit und Abenteuer- Trip‘, was mich ehrlich gesagt schon ein wenig überrascht, weil Patrick gar nicht der Typ für derartige Action ist, ist ihm viel zu anstrengend, lieber liegt er faul am Strand und liest ein gutes Buch, und abends trinkt er Wein und diskutiert bis in die Puppen.«
»Da siehst du, dass jeder für eine Überraschung gut sein kann, sogar dein Sandkasten-Freund!«
»Lenny hat dir wahrscheinlich schon viel über mich erzählt, stimmt‘s?« Es war eigentlich eine rhetorische Frage.
»Da kannst du drauf wetten, ich weiß so einiges!« Er leckte sich anzüglich über die Lippen, was mich veranlasste, mein Kissen gegen seine Brust zu klatschen. »Hey!«, beschwerte er sich gespielt. »Lenny redet ja auch dann noch wie ein Wasserfall, wenn er stocknüchtern ist«, sagte er. »Die werden sich auf ihrer Brüdertour auf jeden Fall nicht langweilen miteinander.«
Ich lachte über seine zutreffende Einschätzung.
Vorsichtig führte ich meine Hand unter die Bettdecke, legte sie auf seinen Oberschenkel und strich langsam aufwärts. Finn grinste mich schmutzig an, was mich voreilig jubeln ließ. Nur eine Sekunde später sprang er plötzlich aus dem Bett und begann, seine Klamotten zusammenzusuchen.
»Oh nein, bleib hier«, rief ich empört. »Wir können uns doch ruhig noch ein paar Minuten Zeit lassen, hm? Bitte? Komm wieder ins Bett, Finn!«
Ich machte ein bettelndes Unschuldsgesicht und legte wie bei einem Gebet die Handflächen aufeinander. Finn lachte kopfschüttelnd, vermutlich über meine Unersättlichkeit ...
»Valerie, komm, steh auf! Lass uns checken, warum die so eine Hektik machen«, insistierte er zu meinem größten Bedauern.
Ich seufzte. »Das ist normal bei Patrick und Lenny. Wenn sie einen Einfall haben, werden sofort alle Hebel in Gang gesetzt, da gibt es keine Zeit zu verlieren, da muss alles stehen und liegen gelassen werden. Die sind sich in vieler Hinsicht wirklich total ähnlich, obwohl sie sich bei manchen Dingen auf Teufel komm raus nicht einigen können, wie du sicher auch schon mal gemerkt haben wirst. Auf den ersten Blick hält man sie für zwei völlig gegensätzliche Persönlichkeiten, weil ihre Interessen doch zum Großteil auseinandergehen, aber wie sie die Dinge letztendlich angehen, zeigt schon deutlich die ähnliche Lebenseinstellung und ihre brüderliche Verbundenheit.«
Er sah mich mit einem nachdenklichen Blick an. »Ist beneidenswert«, sagte er. »Die halten fest zueinander.«
Ich beobachtete enttäuscht, wie er seine Jeans zuknöpfte und mir meine allerletzte Hoffnung nahm, dass wir nochmal miteinander schliefen.
»Mhm«, nuschelte ich betrübt.
Mit einer Zigarette im Mundwinkel ließ er sich in den Sessel plumpsen. »Mein Bruder und ich haben auch eine ziemlich lange und abenteuerliche Tour gemacht. Ich meine den Trip, von dem ich deinen Eltern erzählt habe. Sean hatte alles genau geplant, hatte gehofft, dass uns so ein gemeinsames Erlebnis näher bringt, uns als Brüder irgendwie zusammenschweißt, verstehst du, aber es kam ganz anders … na ja, ist schon `ne Weile her!«
Ich machte ein betretenes Gesicht, als ich bemerkte, wie er seine Gefühle durch den gleichgültigen Tonfall zu verbergen versuchte.
»Oh, was war denn los?«, fragte ich vorsichtig, während ich mich mit spitzen Ohren aufsetzte.
Er schwieg für einige Sekunden, bevor er antwortete. »Lange Geschichte. Erzähl ich dir vielleicht ein andermal. Okay, komm, Val, zieh dich endlich an.«
»Jetzt machst du aber hier die volle Hektik«, beklagte ich mich halb im Spaß und halb im Ernst und stieg schweren Herzens aus dem warmen Bett.
Wir saßen alle gemeinsam um den großen Esstisch herum. Es war schön warm und der Duft von frischem Fladenbrot und gerösteten Zwiebeln hing noch schwer im Raum. In der Mitte des Tisches stand ein Obstkorb mit Orangen und drum herum waren kleine Schälchen gefüllt mit Knabberzeug: Haselnüsse, Erdnüsse, Mandeln und Rosinen und schwarze und grüne Oliven.
Trotz der angenehmen Atmosphäre in Patricks einzigartiger Wohnküche und unserem gemütlichen Beisammensein, erinnerte ich mich unweigerlich an den kalten Morgen nach der Silvesterparty, als ich Finn - an dessen Lippen ich mich den ganzen Abend bis in die frühen Morgenstunden festgesaugt hatte - genau hier vorgefunden und mich in seiner Gegenwart ganz furchtbar und elend gefühlt hatte.
Wie seltsam reserviert er sich doch benommen hatte!
Lenny goss uns Wein ein und zählte fröhlich die Länder auf, durch die sie fahren wollten.
»Argentinien, Chile, Peru, vielleicht auch Bolivien, mal sehen, was meinst du, Patrick, Bolivien auch?«
»Mal sehen …«, antwortete Patrick schmunzelnd. »Wir müssen uns im Internet informieren und mit einem Reisebüro reden, müssen noch unsere ganze Ausrüstung kaufen, müssen allen Bescheid sagen und, und, und ...«
»Habt ihr denn überhaupt einen Motorradführerschein«, fragte ich, denn entweder hatte ich es gar nicht mitbekommen oder einfach vergessen, dass Patrick einen gemacht hatte.
»Und was ist mit Motorrädern?«, wollte Finn wissen.
»Haben wir alles, keine Sorge!«, beruhigte uns Patrick. »Valerie, den Schein haben Lenny und ich doch letztes Jahr gemacht, weißt du nicht mehr? Und die Maschinen leihen wir uns vor Ort in Buenos Aires aus. Morgen fangen wir mit den ganzen Vorbereitungen an, Route ausgucken uns so und wollen dann so schnell es geht los.«
Sie erzählten noch, dass ihre Eltern den Trip fast komplett finanzierten, als Ansporn für ihren weiteren beruflichen Weg, vor allem für den von Lenny. Er musste versprechen, sich im Anschluss an den Trip um einen Ausbildungsplatz zu kümmern und etwas Miete an seine Eltern zu zahlen, einen Obolus, so einen symbolischen Betrag von hundert Euro, damit er lerne, dass das Leben kein Zuckerschlecken sei! Das hätten sie tatsächlich so zu ihm gesagt, nicht zu fassen …
Lenny war im Prinzip in einer ähnlichen Situation wie ich, nur dass meine Eltern mich mit ihrem finanziellen Köder in ein Studium locken wollten und ich seit meinem Auszug versuchte, meinem eigenen Zeitplan zu folgen und meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das hieß natürlich auch, dass ich manche Ansprüche drastisch herunterschrauben musste.
Patrick nahm kurz seine Brille ab, putzte die Gläser mit einer Serviette und setzte sie wieder auf. »Ich weiß, dass wir von unseren Alten ganz schön profitieren, aber, wie gesagt, danach geht das Berufsleben los, für mich zumindest, dann war‘s das mit den elterlichen Finanzspritzen, die man sich einfach so mal abholen konnte!«
»Patrick hat recht, vollkommen recht! Irgendwann muss dieses Schmarotzen ja aufhören«, sagte Lenny mit einem zweifelsfrei ironischen Grinsen im Gesicht. »Es geht hier schließlich auch um Stolz und Selbstachtung! Stimmt‘s, Valerie?« Er sah mich augenzwinkernd an. Patrick gab ihm einen neckischen Knuff auf den Oberarm: »Seit wann? Jetzt mach mal hier nicht einen auf scheinheilig, Lenny.«
Wir lachten alle, na ja, fast alle, denn Finn verzog lediglich den Mundwinkel zum Ansatz eines Lächelns. Lenny kicherte spitzbübisch, köpfte eine weitere Weinflasche und goss unsere Gläser randvoll.
»Ich weiß, aber ich mein es, wie ich es sage«, sagte er jetzt mit einer ernsteren Miene, die jedoch, kaum dass er seinen Satz beendet hatte, von einem verräterischen Schmunzeln wieder vertrieben wurde.
»Ich werde mein Versprechen diesmal halten. Ich mach eine coole Ausbildung zu irgendwas Coolem, wirklich, und ich zahl auch irgendwann eine vernünftige Miete an unsere liebsten Eltern, nicht, dass sie es nötig hätten, aber eben aus Prinzip. Was haltet ihr davon, hm? Die Oliven schmecken übrigens oberlecker.« Er steckte sich eine schwarze Olive in den Mund und kaute darauf herum, während er weiterredete. »Außerdem such ich mir einen Nebenjob, so einen Wochenendjob, damit ich mir neue Garderobe zulegen kann. Weißt du noch, Valerie?«
Ich nickte ihm ungeduldig zu.
Es war zwar schön, wie wir zusammensaßen und plauderten, aber ich wollte bald wieder mit Finn allein sein …
»Jungs, wollen wir jetzt mal die wichtigen Dinge besprechen?«, fing ich an zu drängeln.
Finn, der entspannt neben mir auf seinem Stuhl saß, die Beine unter dem Tisch lang ausgestreckt, das Weinglas dicht an seinem Mund, stimmte meiner Bemerkung erfreulicherweise mit einem einem klaren Kopfnicken zu.
»Wie lange wollt ihr überhaupt weg sein?«, fragte er anschließend.
»Circa drei Monate, ist im Moment so unser Plan, drei, höchstens vier Monate, mehr nicht«, antwortete Patrick.
Dann kam Lenny endlich zum eigentlichen Punkt. »Du kannst natürlich weiter in der Wohnung bleiben, falls du keine neuen Pläne hast. Wir haben nie darüber gesprochen, wie lange du noch in Berlin abhängen willst. Das wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.«
Finn senkte den Blick, trank erst mal einen großen Schluck aus seinem Glas, das Lenny sofort auffüllte. Offensichtlich war das heute Abend die nur ihm obliegende Aufgabe. Er trug wieder sein ‚The Black Sheep‘-Fan-Shirt und eine verkehrt herum gedrehte Baseballmütze.
Finn sah in die Runde. »Also, ich denke schon, dass ich mit Sicherheit noch mindestens ein viertel Jahr hier bin …«, sagte er mit fester Stimme.
Mit einem kurzen, undurchsichtigen Seitenblick spähte er zu mir und griff nebenbei nach ein paar Erdnüssen.
Mir krampfte das Herz zusammen!
Ich wollte so etwas nicht hören, wie konnte er so etwas sagen? Sagen, dass er noch ein viertel Jahr hier sein würde … ein viertel Jahr! Drei Monate! Statt zu sagen, er werde vermutlich gar nicht mehr woanders hingehen, denn es hänge von mir, Valerie, ab, wo er wie lang bleibe oder irgendetwas in der Art.
Schlagartig ging‘s mir schlecht.
Ich versuchte unter diesem zentnerschweren Felsen, der ohne jegliche Vorwarnung auf mich heruntergestürzt war, wieder herauszukriechen und den Schmerz, der mich aus dem Hinterhalt ganz plötzlich angefallen hatte durch tiefes, gleichmäßiges Atmen und hastige Schlucke Wein unter Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig wollte ich mir ja nichts anmerken lassen.
Und ich ließ mir nichts anmerken, ließ mir absolut nichts, gar nichts, anmerken, ha! Ein kühles Lächeln auf den Lippen griff ich ebenfalls nach einer Handvoll Erdnüsse, die ich mir ungeschickt in den Mund stopfte.
Seht her, mir geht‘s gut Leute, mir geht‘s prima …
Lenny hustete gekünstelt, stand auf und öffnete alle Fenster, ließ wohltuend frische, eiskalte Luft herein, da wir übrigen drei schon einige Zigaretten gequalmt hatten, und wandte sich zu Finn: »Also gut, Mann, ist ja alles bestens, denn, dann könntest du dich um meine Pflanzen kümmern, wenn das für dich kein Problem ist.«
Patrick konnte sich seinen üblichen Spruch natürlich nicht verkneifen: »Lenny, zum zehntausendsten Mal, du hast keine … Pflanzen, so wie andere Leute Pflanzen haben: einen Benjamini hier, eine Yuccapalme dort, vielleicht noch ein paar nette kleine Topfpflänzchen auf dem Küchensims, nein, du … du hast den ‚Botanischen Garten‘ in deiner Zwei-Zimmer-Bude! Das ist nicht normal. Ständig hat man das Gefühl, dass von irgendwo eine Schlange hervorgekrochen kommt oder ein Affe einen anspringen will.«
Finn lächelte daraufhin auf diese unwiderstehliche, seine Grübchen in voller Herrlichkeit präsentierende süße Art und Weise, dass ich allein deshalb wieder zur Beherrschung zurückfand und glücklich war über jede einzelne Minute, die ich mit ihm verbringen konnte.
»Ich kümmere mich gern um deine Babys, Buddy«, sagte er jetzt in einem heiteren Ton. »Ich gieße sie, sorge für sie, spreche mit ihnen und lese ihnen sogar paar Gedichte von mir vor, natürlich nur die weniger deprimierenden ... und jugendfreien. Hm, was hältst du davon?«
Lenny schloss alle Fenster wieder zu. »Stell dir die Aufgabe nur nicht zu einfach vor, Flanagan, du wirst dich nach einem strikten Gießplan halten müssen, denn sonst segnen die Sensiblen unter meinen Babys, wie du sie nennst, ganz schnell das Zeitliche. Bist du also ganz sicher, dass du das hinkriegst? Denn, ich könnte auch meine Mutter fragen, oder meine depressive Nachbarin, ach ja, das ist noch so ein Punkt, über den wir reden müssen ...«
Die Nachbarin, Karin Schmielke, sei ein schreckhaftes, vertrocknetes Mauerblümchen, Mitte dreißig, das wegen angeblicher psychischer Probleme dauerhaft arbeitsunfähig war und von der Stütze lebte. Sie verbrachte, nach Lennys teils belustigten, teils mitfühlenden Ausführungen, ihre meiste Zeit damit, am Fenster zu sitzen und auf die Straße zu starren, oder durch ihren Spion Lennys Wohnungstür zu beobachten. Na, jedenfalls sei sie ein einsames Persönchen und deshalb mit Feingefühl und viel Rücksichtnahme zu behandeln, damit sie nicht auf die Idee komme, aus dem Fenster zu springen, nur weil Finn oder wer auch immer ihr die Tür nicht öffnete, ihre selbstverbrannten Kuchen verschmähte oder einen falschen Ton anschlug.
»Einem vertrockneten Mauerblümchen deine Pflanzen anvertrauen?«, warf Finn kopfschüttelnd ein. »Nein, Lenny, das ist keine gute Idee. Lass mich das mal machen, das krieg ich schon hin, und Valerie checkt, ob ich meine Aufgabe gewissenhaft erledige …«
Finn blickte mich zuckersüß lächelnd an, griff nach meiner Hand und drückte sie. Ich lächelte sofort dankbar zurück, da seine Aufmerksamkeit meine aufgewühlten Nerven beruhigte.
»Wir werden natürlich auch ganz lieb zu Frau … äh, Schmierdings sein«, fügte er schelmisch grinsend hinzu.
Lenny klatschte ihn ab. »Dann sind wir im Geschäft. Mehr gibt‘s eigentlich nicht zu besprechen, außer Kleinkram wie genug lüften, ab und an mal sauber machen, Müll raus bringen, Briefkasten leeren und so weiter … Wer will noch Traubensaft mit Alkohol?« Er köpfte die nächste Weinflasche.
Irgendwann waren wir alle mehr oder weniger beschwipst, hatten jede Menge Erdnüsse auf dem Boden verteilt, die Oliven alle aufgefuttert und den Abend sehr spät werden lassen.
Es musste weit nach Mitternacht sein …
»Jungs, ich muss morgen arbeiten, meine freien Tage sind zu Ende«, sagte ich schließlich, klang leicht verwaschen, wollte nur noch ins Bett, in mein eigenes, schlug Patricks Angebot, dazubleiben, aus, blickte hoffnungsvoll zu Finn, der schon ein wenig glasige Augen hatte, aber immer noch viel zu schön war, um wahr zu sein … wassn Glückspilz …
»Ich bring dich nach Hause«, sagte er, und ich gluckste erfreut.
Lenny lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch und machte Schnarchgeräusche. Patrick rauchte genussvoll eine Zigarette, während er mit halb verschlossenen Augen und völlig entspannt der leisen Jazz-Musik im Hintergrund lauschte, einer mir unbekannten Band …
Ich wollte auf einmal unbedingt in mein Bett, ach ja, sagte ich schon … aber nicht allein … Konnte man sich denken, oder?
Die Nacht war eiskalt, offenbar hatte ein sibirischer Tiefausläufer Berlin im Griff. Wir liefen im Stechschritt, um unser Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützten uns gegenseitig, genossen unseren relaxten Zustand und sangen lauthals: »Always look on the bright side of life …«
Lachten so viel, dass wir husten mussten …
Er küsste mich vor dem Hauseingang, hielt mich fest umklammert, zerdrückte mich fast, sagte zu meiner großen Enttäuschung, er müsse nach Hause wegen frischer Klamotten und anderer wichtiger Dinge, die er erledigen wolle …
Ach, nö!
Doch, es müsse sein, behauptete er, wir würden aber telefonieren, er habe ja von Lenny meine Handynummer, außerdem werde er mich von der Arbeit abholen, wenn das Okay sei …
Ja, schon ... Hol mich ab, einverstanden, prima … Nein, nicht prima … geh nicht ...
Er drehte sich um und lief in die Dunkelheit, sah einmal zurück und winkte, verschwand dann aus meinem Blickfeld, was ich seufzend hinnahm …
Ich lief ins Haus, polterte in meine Wohnung, übersprang den Teil, wo man sich ausziehen und die Zähne putzen muss, fiel bäuchlings aufs Bett und schlief sofort ein.
Träumte nichts, glaub ich, kann es aber nicht mit Sicherheit sagen ...