33
Nachdem Samantha den Morgen im Badezimmer verbracht und das Dinner vom Abend vorher herausgewürgt hatte, verbrachte sie den Rest des Tages vor der Vorstellung mit den anderen Frauen in einem Frisiersalon in den East Eighties, um sich eine Marcel-Welle legen zu lassen und sich mit den Schminkgewohnheiten der zwanziger Jahre vertraut zu machen. Vicky hatte das alles arrangiert. Die Frauen, die Zigarettenmädchen, Gangsterbräute und Kellnerinnen spielen sollten, kicherten und plapperten unentwegt miteinander. Nur Sam saß schweigsam und ein wenig bedrückt unter ihrer Trockenhaube und blätterte in der neuesten Ausgabe eines Magazins.
Als sie in Mikes Haus zurückgekehrt war, hatte sie dort keine Minute Ruhe finden, sich nicht in einen stillen Winkel zurückziehen und ihre Gedanken sammeln können; denn das Haus war zu einem Hauptquartier für alles geworden, was nun oder noch getan werden mußte. Es hatte sich so ergeben, daß Pat Taggert die Leitung der Truppe übernommen hatte - der Teamboß war, wie sie sich nannte. »Zieh du mal ein Dutzend Kinder groß, und du weißt, daß es nichts mehr im Leben gibt, mit dem du nicht fertigwerden könntest«, hatte sie zu Sam gesagt.
Ein Schlafzimmer war zur Änderungsschneiderei geworden, ein anderes zum Schminkzimmer, wo Vicky mit Unterstützung zweier Experten den Damen beim Aufträgen des Make-ups half. Zwei weitere Räume waren für die Einsatzleitung requiriert worden, und als Samantha dort in eine Besprechung hineinplatzte, die Mikes Vater mit seinen Gangstern abhielt, um ihnen an Hand einer Wandskizze zu erläutern, was sie heute abend zu tun hatten, schob Ian sie kurzerhand wieder auf den Korridor hinaus und warf die Tür hinter ihr zu.
Am späten Nachmittag flüchtete sich Samantha in einen entlegenen Winkel des Gartens, um dort ein wenig zu sich zu kommen. Sie konnte nicht erklären, wie sie sich fühlte: ruhig und dennoch aufgeregt; gelassen und doch innerlich angespannt. Sie wünschte, Mike wäre bei ihr aber er war nicht im Haus und machte irgend etwas, das er ihr nicht hatte sagen wollen.
Als Kanes Zwillinge plötzlich vor ihr auftauchten, jeder ein Buch mit Kindergeschichten in der Hand, blickte sie auf und lächelte Kane dankbar an. Sie zog die beiden Jungen auf ihren Schoß und las ihnen ein Märchen vor.
Es wurde schon dunkel, als Vicky zu ihr kam und sagte, es wäre Zeit, in Jubilees Klub zu fahren und sich für die Vorstellung fertig zu machen. Sie gab beiden Zwillingen einen Gute-Nacht-Kuß, wünschte sich, sie könnte bei ihnen bleiben, ging hinaus zum wartenden Wagen und machte sich auf den Weg nach Harlem.
In den vergangenen Wochen, als sie alle an ihren Rollen gearbeitet hatten und sie mit Ornette probte, hatte man ihr nicht erlaubt, den inzwischen renovierten Nachtklub zu besichtigen. Als sie nun das Gebäude durch den Hintereingang betraten, trennte sich Samantha dort von Vicky und begab sich nach vom, wo sie sich im Schatten eines Pfeilers verbarg, um unbemerkt von den anderen ungestört den Klubraum und das Treiben dort zu beobachten.
Jeanne hatte geradezu Atemberaubendes vollbracht. Der Klubraum war ein Traum aus Türkis und Silber, und ein wiedererstandenes Meisterwerk des Art Deco - des heißesten und modernsten Dekorationsstils der späten zwanziger Jahre. Die Tanzfläche sah aus wie eine Applikation aus Silberblättern, und dahinter standen, wie es schien, Hunderte von kleinen Tischen, bedeckt mit fast bis zum Boden reichenden türkisfarbenen Tüchern, jeder mit einer kleinen Lampe versehen.
Auf dem Podium war die Tanzkapelle bereits versammelt, und Ornette in seinem Frack, seine geliebte Trompete in der Hand, sah auf eine grimmige Weise hübsch aus, während er mit seinen Musikern redete und dann das Zeichen zum Einsatz gab, um sie mit einer kleinen Jazz-Nummer aufzuwärmen. Samantha mußte bei seinem Anblick lächeln; denn hinter seiner bärbeißigen Fassade verbarg sich ein weiches Gemüt, ein Perfektionist, der die Musik mehr liebte als das Leben. Bald würde er nun den ersten Blues spielen. 1928, in der noch sehr glücklichen, reichen Zeit vor der Weltwirtschaftskrise, war das Land verrückt gewesen nach Blues; doch nach dem Börsenkrach hatten die Leute nur noch solche heiteren Lieder wie Happy Days Are Here Again hören wollen, und solche berühmten Blues-Sängerinnen wie Bessie Smith waren in der Versenkung verschwunden.
Während Samantha im Schatten des Pfeilers dem Orchester lauschte, sah sie, wie sich der Klub mit lachenden und miteinander plaudernden Gästen füllte - die Frauen in exquisiten langen Abendkleidern. Die Mode der zwanziger Jahre mochte man zwar heute für formlos halten, aber wenn die Frauen sich darin bewegten und sich die fließenden Stoffe hauteng an den Körper schmiegten, brachten sie alles zur Geltung, was an ihnen reizvoll war.
Zwei hübsche junge Frauen betraten jetzt Arm in Arm den Klubraum, begleitet von ihren Gangster-Männern -rauhe, aber auch sehr zufrieden, wie vom Leben verwöhnt aussehende Typen.
Samantha zog sich noch tiefer in den Schatten zurück, während sie diese vier beobachtete, denn sie kam sich allmählich in ihren Jeans wie ein Anachronismus in diesem Raum vor.
Als Mike in den Klub kam, preßte sich Samantha mit dem Rücken gegen die Wand, während sie zusah, wie er sich durch den Raum bewegte, als wäre er hier zu Hause.
Vielleicht hätte sie eifersüchtig sein sollen, denn Mike flirtete mit jeder Frau, an der er vorbeikam, aber sie wurde nicht eifersüchtig; denn dieser Mann schien nicht ihr Mike, sondern Michael Ransome zu sein. Dieser Mike bewegte sich in seinem herrlichen, maßgeschneiderten Frack, als wollte er aus seinem guten Aussehen Kapital schlagen.
Samantha beobachtete, wie Mike nun auf eine Tussie zuging - eines dieser Party-Mädchen, das ihrem Namen hundertprozentig gerecht wurde: zuviel Make-up, zu törichte Bewegungen, so laut kichernd, daß man es bis nach Coney Island hören konnte, und mit einem für ihren Geschmack zu großen Busen. Mit einem kleinen entzückten Schrei stand die Frau auf - vielmehr schlängelte sie sich, ihre üppigen Brüste in Schwingungen versetzend, in die Höhe. Ehe Mike die Hand nahm, die sie ihm hinstreckte, blickte er den Mann, der an dem kleinen Tisch der Frau gegenübersaß, fragend an. Der Mann hatte einen in eine geschmacklos gelb-schwarz karierte Weste eingezwängten Schmerbauch, über den er nun mit angezogenem Kinn hinwegsah und gnädig nickte, als wäre er ein König, der seinem Untertan eine Gnade erwies. Samantha mußte sich jedesmal von neuem wundem, daß sich ein Mensch einem anderen überlegen fühlte, nur weil sie oder er ein Krimineller war - als habe er etwas Bedeutendes im Leben geleistet.
Die Frau auf die silberne Tanzfläche geleitend - die schummrige Beleuchtung sorgte dafür, daß selbst eine Hexe gut ausgesehen hätte -, nahm Mike die Frau in seine Arme und begann mit ihr einen Tango zu tanzen. Erschrocken hielt Samantha einen Moment den Atem an; Sie hatte Mike soeben wieder bei einer Lüge ertappt. Er hatte zu ihr gesagt, er wäre ein Stümper auf dem Parkett, wenn Figuren von ihm verlangt würden, bei denen er sich nicht an das Mädchen hängen und die Wange an ihrem Gesicht reiben dürfte, aber als sie ihn nun mit dieser Tussie über das Parkett hingleiten sah, wußte sie, daß er ein Traum von einem Tänzer war. Mit der Muskelkraft, die ihm zur Verfügung stand, konnte er seine Partnerin mühelos herumschwingen, wenn sie eine Drehung machen mußte. Mike brachte es sogar fertig, das Flittchen, das er in seinen Armen hielt, so aussehen zu lassen, als könnte es tanzen.
Als die Kapelle eine Pause machte, brachte Mike das Mädchen zu seinem Gangster zurück, und nachdem er diesen wieder mit einem fragenden Blick um Erlaubnis gebeten hatte, küßte er der Schlampe sogar die Hand.
»He, Kid!« sagte der Gangster und forderte dann Mike mit einer großspurigen Handbewegung auf, zu ihm zu kommen.
Mike, der sich nicht anmerken ließ, wie sehr ihn das Benehmen des Gangsters erbittern mußte, ging nahe an den Mann heran, der ihm eine Zehn-Dollar-Note in die Jackentasche stopfte.
Samantha mußte sich gewaltig zusammennehmen, jetzt nicht in den Saal hinauszustürmen und diesen Typ zur Rede zu stellen, wie er, ein Nichts, ein Niemand, der sich mit illegalen Geschäften einen fragwürdigen Ruf verschafft hatte, es wagen konnte, ihren Mike so zu behandeln!
»Bist du soweit?«
Erschrocken drehte sich Samantha um und sah Vicky in einem herrlichen langen Kleid aus blauem Satin und weißen Federn, die sich über dem dreifachen Stirnband aus funkelnden und zweifellos echten Diamanten leise im Luftzug auf ihrem Hinterkopf bewegten, vor sich stehen.
»Ja, ich bin bereit«, sagte sie leise.
Sie folgte Vicky hinter die Bühne zu den Garderoberäumen, und mit jedem Schritt, den sie machte, wußte Samantha, daß sie nun den Kontakt mit der Wirklichkeit verlor. Als Vicky die Tür zur Garderobe öffnete, war Samantha überzeugt, sich nicht mehr in der Welt der neunziger Jahre zu befinden. Daphne und die anderen Frauen befanden sich in den verschiedensten Stadien des Aus-und Umkleidens. Kleider lagen auf dem Boden verstreut, und auf einem langen Tisch vor einem grell beleuchteten Wandspiegel standen unzählige kleine schmutzige Flaschen und Schminktöpfe.
»Lila?« flüsterte Samantha.
»Ja, Schatz?« sagte Daphne/Lila, drehte sich um und musterte Sam von Kopf bis Fuß. »Es wird Zeit, daß du dich umziehst. Sonst versäumst du noch deinen Auftritt.« Sich vorbeugend, flüsterte Lila ihr ins Ohr: »Du willst doch Mike nicht an deinem letzten Abend im Klub enttäuschen, nicht wahr, Schatz?«
Samantha atmete heftig die Luft ein, als hätte sie soeben einen Schlag in den Magen bekommen; denn Lila hätte eigentlich nicht wissen dürfen, daß Maxie heute zum letzten Mal in Jubilees Klub singen würde.
Über die Schulter zu den anderen Mädchen hinsehend, flüsterte Lila: »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Keiner von ihnen wird es ihm verraten.«
Maxie - nein, Samantha - nickte.
»Dein Kleid«, sagte Vicky, und als Sam sich umdrehte, hatte Vicky Maxies Kostüm über dem Arm. Es war keine Kopie, wie es ursprünglich geplant war, sondern das Original. Mike hatte ihr erklärt, es wäre zu teuer gewesen, eine Kopie des Kleides anzufertigen, und deshalb hatte Jilly mit einem Fachmann Kontakt aufgenommen, der das Kleid fachmännisch reinigen konnte.
Samanthas Hände zitterten, als sie das Kleid von Vicky entgegennahm.
»Der Schmuck liegt auf dem Tisch, die Unterwäsche auf dem Stuhl hinter dir.«
»Hals- und Beinbruch! rief ihr Lila noch zu, als sie, gefolgt von Vicky, mit den anderen Mädchen aus der Garderobe marschierte.
Als Samantha nun ganz allein in dem langen, schmalen Umkleideraum stand, das rote, einst mit Blut besudelte Gewand auf den Armen, spürte sie, wie ihr ein Schauer über die Haut lief. Sich umdrehend, sah sie die Couch, die mit den abgelegten Sachen der anderen Frauen bedeckt war: mit zerrissenen Strümpfen, schmutzigen Blusen, Sandalen ohne Absätze. In einer Ecke lag noch so ein Berg von Kleidungsstücken, unter dem - das spürte sie - Maxies kleine Reisetasche versteckt sein mußte, in der sich ihre und Mikes Ersparnisse befanden - ungefähr fünftausend Dollar in Hundert-Dollar-Scheinen.
Immer noch am ganzen Körper zitternd, hängte Samantha Maxies Kleid über die Rückenlehne eines Stuhls, zog sich aus und dann Maxies Unterwäsche an. Und wie beim erstenmal spürte Samantha, daß sie in diesem Moment in die Haut eines anderen Wesens schlüpfte, so als besäßen diese Kleider magische Kräfte, die ihren Träger zwangen, eine andere Gestalt anzunehmen. Kein Wunder, dachte Sam, als sie das Seidenkleid über den Kopf streifte: Was damals in jener besagten Nacht geschah, mußte sich dem Stoff dieses Gewandes unauslöschlich eingeprägt haben.
Vor ein paar Tagen hatte ihre Großmutter ihr erzählt, was tatsächlich am Abend des 12. Mai 1928 passiert war, der das Leben so vieler Menschen verändert hatte. Maxie hatte Sam alles bis zu dem Augenblick berichtet, als sie mit ihrer Handtasche und Half Hands Tasche durch den Bühneneingang den Klub verlassen hatte.
Samantha hatte ihrer Großmutter schweigend zugehört, sogar etwas von dem nachempfunden, was sie ihr erzählte, aber zuweilen war es ihr so vorgekommen, als wäre sie innerlich abgestorben. Erst zwei Tage vorher hatte man ihr erzählt, daß ihre Mutter gefoltert worden war, ehe sie kaltblütig und auf grausamste Weise ermordet wurde. Gab es Grenzen für das, was ein Mensch empfinden konnte? Wieviel Leid konnte ein Mensch eigentlich ertragen?
Nachdem sie sich das Kleid übergestreift hatte, setzte sie sich an den Tisch vor den Spiegel und überprüfte noch einmal ihr Make-up.
»Noch zehn Minuten, Maxie«, rief eine Männerstimme draußen vor der Garderobentür.
In zehn Minuten würde sie vor diese Leute hintreten und für sie singen müssen. Sie würde das tun, was Maxie in jener Nacht getan hatte.
Sie drehte sich abrupt zur Garderobentür um und starrte sie an. Sie sah schmutzig aus, aber da waren keine Kratzspuren im Holz. Niemand hatte diese Garderobentür mit den Fingernägeln bearbeitet.
Sie zwang sich dazu, wieder in den Spiegel zu sehen. Sie mußte sich daran erinnern, daß dies lediglich ein Spiel war und sie die Rolle von Maxie übernommen hatte, weil sie Mike helfen wollte. Er sagte, er würde heute abend Fotos machen für sein Buch und . . .«
Sie senkte den Kopf und preßte die Finger gegen die Schläfen. Ornette blies draußen auf seiner Trompete, und sie hatte nun Mühe, sich darauf zu besinnen, daß das alles nur ein Spiel war. Es war so schwer, sich auf ihre Rolle zu konzentrieren, wenn sie immer wieder an ihre Mutter denken mußte und an Cals Einsamkeit, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Alles, was sie wußte, was sie erfahren und miterlebt hatte, schien jetzt in ihrem Kopf zu schreien, statt sich still zu verhalten wie sonst.
Und das hatte alles in dieser Nacht begonnen - alles, was dann geschehen war, hatte seine Wurzeln in dieser langen, schauderhaften Nacht, die so viele Leben auslöschte, so viele Leben ruinierte und so viel Haß säte.
»Ich kann es nicht«, flüsterte Samantha und wollte aufstehen, aber da sah sie eine Puderschachtel, eine ganz gewöhnliche blau-weiße Puderschachtel mit einer großen Puderquaste aus Lammfell darin. Und die Schachtel war mit ganz gewöhnlichem staubfeinem Puder gefüllt.
Sie nahm die Quaste und betrachtet sie. Vielleicht fing alles mit dem Puder an, den Maxie Michael Ransome über den Kopf schüttete. Ein paar Sekunden lang legte Samantha den Kopf auf die Arme, die sie auf den Schminktisch stützte, und öffnete ihr Bewußtsein für all das, was man ihr erzählt hatte, versuchte es nicht mehr zu unterdrücken, nicht mehr dagegen anzukämpfen, sondern gab sich ganz diesen Erinnerungen hin.
»Du bist dran«, sagte Vicky.
Als Miss Samantha Elliot jetzt vom Schminktisch aufstand und noch einmal ihre Frisur im Spiegel kontrollierte, war sie Maxie und bereit für ihren Auftritt.