28

»Möchtest du mir jetzt nicht etwas von dir und Nelson erzählen?«

»Nelson?« wiederholte Samantha zerstreut, denn sie war mit ihren Gedanken noch bei den Zwillingen - diesen beiden süßen Jungs, die Kane gleich nach dem Frühstück wieder mitgenommen hatte. Es schien fast so, als hätte er Angst gehabt, es würde ihr gelingen, sie ihm wegzunehmen, wenn er sie noch ein paar Minuten bei ihr gelassen hätte.

»Der Typ in der Bar. Erinnerst du dich an ihn? Du hast ihn kennengelernt, als du dich in fast unbekleidetem Zustand vor der halben Männerwelt New Yorks produziert hast.«

Samantha lachte. »Ach, dieser Nelson. Mike, glaubst du, daß ich mich als Callgirl für fünfhundert Dollar die Nacht eignen würde?«

Mike brummelte etwas und sagte dann: »Hättest du vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, was Nelson auf diesen Zettel geschrieben hat, den er dir zusteckte? Natürlich könnte ich es genauso machen wie du und so lange in deinen Taschen und Schubladen herumschnüffeln, bis ich ihn gefunden habe. Aber ich bin ja kein moralisch verkommenes Subjekt.«

Als sie ihm den schmutzigen Lunch-Teller wegnahm, gab sie ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Du konntest ihn wohl nicht finden, wie?«

Mike wich ihrem Blick aus und verließ dann den Tisch, um Samantha in die Küche zu folgen. »Samantha«, sagte er, »was hast du schon wieder vor?«

»Auf dem Zettel standen ein Name - Walden - und eine Telefonnummer.«

Als er ihr dabei zuschaute, wie sie das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine einräumte, merkte er, daß auch sie seinem Blick auswich. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schwenkte sie herum, so daß sie ihm ins Gesicht schauen mußte. »Und hast du inzwischen etwas unternommen, was diesen Zettel betrifft?«

»Ich habe diese Nummer angerufen. Offenbar ist dieser Mr. Walden ein Rechtsanwalt. Ich habe mich für heute um drei mit ihm verabredet.«

»Und hattest du vor, allein hinzugehen? Vielleicht wolltest du mir erzählen, daß du einen kleinen Einkaufsbummel machst und dich dann heimlich in seine Kanzlei schleichen?«

»Mike, du kannst diesen Mann doch nicht mit Doc vergleichen! Er ist Anwalt und jung - zumindest jünger als die meisten Leute, die etwas von Maxie wissen. Also kann er auch nicht in die Ereignisse jener Mainacht des Jahres 1928 verwickelt gewesen sein. Mr. Walden ist erst fünfundfünfzig.«

»Und woher weißt du das?«

»Ich - nun - ich fragte seine Sekretärin. Ich sagte ihr, daß ich glaube, Mr. Walden schon einmal in einer Single-Bar getroffen zu haben, und beschrieb ihn als einen großen, blonden Mann von ungefähr sechsundzwanzig Jahren. Da gab sie mir zur Antwort, daß Mr. Walden fünfundfünzig Jahre alt, und verheiratet sei, und vier erwachsene Kinder habe. Er sei einsfünfundsechzig groß, habe graue Haare und einen Spitzbauch - und wenn er noch so jung ist, was kann er da schon von meiner Großmutter wissen? Glaubst du, er hat sie einmal in einem Rechtsstreit vertreten? Oder glaubst du, daß er wirklich etwas über sie weiß?«

»Ich schätze, da gibt es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden, nicht wahr? Also zieh dich an, und dann fahren wir zu ihm.«

»Mike, du mußt nicht mit mir dorthin fahren. Ich kann mich allein mit ihm treffen, hierher zurückkommen und dir berichten, was er mir von Maxie erzählen konnte.«

Teils ärgerte, teils freute er sich darüber, daß Samantha ihn zu beschützen versuchte, denn nur aus diesem Grund hatte sie sich allein mit diesem Mr. Walden treffen wollen. Und dabei hatte er ihr doch gesagt, daß sie nicht mehr versuchen sollte, dem Geheimnis ihrer Großmutter auf die Spur zu kommen. Doch statt von diesem gefährlichen Unternehmen abzulassen, versuchte sie nun, ihre Nachforschungen vor ihm geheimzuhalten.

Er küßte sie sacht auf den Mund. »Ist dir bewußt, daß es bereits nach zwei ist? Wenn du eines von diesen Saks-Kostümen anziehen, dich frisieren und dich schminken willst, mußt du ...«

Sie war schon unterwegs zum Badezimmer, ehe er den Satz beenden konnte.

Um Viertel nach drei wurden Samantha und Mike von Mr. Waldens hagerer, etwas verkniffen aussehenden Sekretärin in dessen Büro geführt. Mit einem Trick, den Samantha empörend gefunden hatte - Mike hatte sie in die Damentoilette geschickt, während er sich zu einer sehr hübschen Empfangsdame gesetzt, sie durch halb gesenkte Wimpern angeblickt und nach Mr. Walden ausgefragt hatte -, hatte sie herausbekommen, daß Walden Strafverteidiger war. Er übernahm die Fälle der schlimmsten Verbrecher und bewahrte sie vor längeren oder lebenslangen Zuchthausstrafen. Die Empfangsdame hatte Mike, sich geziert schüttelnd, einige von den Unterwelttypen beschrieben, die zuweilen in Mr. Waldens Kanzlei kamen. Sie sagte, daß es Mr. Walden offenbar nichts ausmachte, wenn er dafür sorgte, daß die schrecklichsten Leute frei herumlaufen konnten.

»Verbindungen zur Unterwelt«, sagte Mike. »Kein Wunder, daß Nelson ihn kennt. Hast du was?«

Samantha ging so steif neben ihm her, als hätte sie Stelzen statt Beine. »Ich? Wie kommst du nur darauf? Oder meinst du, ich würde mich darüber aufregen, daß du dieser Dame die ganze Zeit in den Ausschnitt geschaut hast?«

Mike nahm lächelnd ihren Arm. »Sie hatte einen bemerkenswert hübschen . . .«

»Ich wußte ja gar nicht, daß du Kühe magst!« zischte Samantha durch die zusammengepreßten Zähne, entriß ihm ihren Arm und ging dann zwei Schritte vor ihm her.

Als sie dann Waldens Büro betraten, war Samantha wütend und Mike amüsiert. Mr. Walden, der genauso aussah, wie seine Sekretärin ihn beschrieben hatte, warf einen Blick auf die beiden, als sie vor seinem Schreibtisch Platz nahmen, und sagte: »Ich übernehme keine Scheidungsfälle.«

Lachend griff Mike nach Samanthas Hand, die auf der Sessellehne neben ihm ruhte, aber sie zog sie rasch weg. »Wir sind in einer ganz anderen Angelegenheit zu Ihnen gekommen. Durch die Vermittlung von Jubilee Johnson haben wir Ihren Namen erfahren.«

Mr. Waldens Gesicht verlor einen Moment seinen jovialen Ausdruck. Man konnte sich diesen Mann schwerlich als Strafverteidiger vorstellen, denn mit einer weißen Perücke, angeklebtem weißen Bart und roter Zipfelmütze hätte er der Idealvorstellung eines Kindes vom Weihnachtsmann entsprochen. »Ah, ja, Jubilee. Ich hoffe, er ist wohlauf und seiner Familie geht es gut.«

Es geschah in diesem Moment, daß Samantha Waldens linke Hand sah. Als sie in das Büro kam, war sie noch so wütend auf Mike gewesen, daß sie kaum auf ihre Umgebung geachtet und nur gedacht hatte: Dieser Walden macht einen so sympathischen Eindruck, daß er unmöglich etwas über Maxie wissen kann.

Und nun starrte sie seine linke Hand an, die vom Handgelenk bis zu den Spitzen des Ring- und des kleinen Fingers hinauf schwarz tätowiert war. Die Nägel dieser beiden Finger waren schwarz lackiert.

»Half Hand«, flüsterte sie, denn auf den ersten Blick sah es so aus, als würde ihm die halbe Hand fehlen. »Half Hand«, wiederholte sie etwas lauter, das Gespräch zwischen Mike und dem Anwalt unterbrechend.

Walden kam um seinen Schreibtisch herum, lächelte sie an und streckte ihr seine Linke hin. Samantha nahm sie, betrachtete sie und sah dann zu ihm auf: »Wer sind Sie und was wissen Sie über Maxie?«

Mr. Walden lachte leise und hörte sich in diesem Moment genauso an wie der Mann, der einmal Docs bester oder einziger Freund gewesen war. »Ich bin als Joseph Elmer Grünwald der Dritte auf die Welt gekommen. Da mein Vater Joe hieß, nannte man mich Elmer. Ein häßli-cher Name. Es ist schwierig, in dieser Welt mit so einem Namen Karriere zu machen, weil man sich die meiste Zeit seines Lebens Witze über Elmer Fudd anhören muß. Die Hänseleien, die ich mir als Kind meines Namens wegen habe gefallen lassen müssen, haben vermutlich dazu geführt, daß ich sehr oft an meinen Gangster-Großvater denken mußte.«

»An Half Hand«, warf Mike an dieser Stelle ein.

»Ja«, erwiderte Mr. Walden, »Half Hand Joe war mein Großvater. Mein Vater war neun Jahre alt, als Half Hand getötet wurde, und ich glaube, er hat seinen Vater glorifiziert. Statt der Tatsache ins Auge zu sehen, daß sein Vater nichts anderes war als ein bezahlter Killer, versuchte mein Vater ihn zu einem Retter der Menschheit hochzustilisieren. Und so wuchs ich mit dem Mythos auf, daß Half Hand ein Held gewesen sei.« Nach kurzem Zögern fuhr er fort: »Als Half Hand das Zeitliche segnete, erbte mein Vater etwas Geld, doch meine Großmutter brachte es in einem halben Jahr durch.«

Walden nahm seine Linke in die rechte Hand und betrachtete sie. »Mit sechzehn hatte ich den ersten Rausch meines Lebens, und als ich wieder nüchtern wurde, stellte ich fest, daß ich in einen Tätowier-Salon gegangen war und mir zum Andenken an meinen heldenmütigen Großvater die linke Hand hatte verunzieren lassen. Ich wollte mir natürlich die Tätowierungen wieder entfernen lassen, doch mein Vater meinte, sie seien ein gutes Omen.«

Als Samantha und Mike ihn verdutzt ansahen, lachte Mr. Walden leise. »Mein Vater war ein phantasiebegabter Mann. Er heiratete, als er noch ein Teenager war, und bald darauf war ich unterwegs, und deshalb hatte er nie die Chance, eine Schule zu besuchen. Als er meine Hand sah, sagte er, ich wäre dazu ausersehen, Anwalt zu werden und solche Leute, wie mein Großvater einer gewesen war, zu retten. Ich weiß nicht, wie ein Sechzehnjähriger mit einem schrecklichen Kater und einer frisch tätowierten Hand meinen Vater auf diese Idee bringen konnte, doch mir gefiel sie. Und so habe ich in dem Glauben, daß ich mein Leben der Aufgabe widmen sollte, mißverstandene Männer und Frauen zu retten, Jura studiert, um dann jedoch festzustellen, daß ich nur den Abschaum der Menschheit verteidigte.«

Seine Worte und seine Miene standen im krassen Gegensatz zueinander; denn er machte ein sehr zufriedenes Gesicht.

»Warum machen Sie es dann?« fragte Samantha.

»Des lieben Geldes wegen, meine Teure. Der Abschaum der Erde würde keine verabscheuungswürdigen Taten vollbringen, wenn sich das nicht bezahlt machen würde. Und daß ich sie anschließend vor Gericht verteidige, hat mich zu einem reichen Mann gemacht. Meine Eltern lebten mit fünf Kindern in zwei Zimmern. Ich habe ein Penthouse in der Fifth Avenue und einen Landsitz in Westchester. Ich schickte meine vier Töchter auf Elite-Schulen, und meine Frau läßt ihre Kleider in Paris anfertigen.«

Er lächelte über die Unschuld der beiden jungen Leute, die vor ihm saßen; denn man konnte ihnen unschwer vom Gesicht ablesen, daß sie ihre Seelen niemals für Geld verkaufen würden. Aber der Kleidung und dem Auftreten der beiden nach zu schließen, hatten sie auch niemals erfahren, was es bedeutet, zu hungern und zu frieren und mitten in der Nacht auf die Straße gesetzt zu werden, weil die Miete nicht bezahlt worden war. Seine Töchter waren wie diese hübsche kleine Samantha, sehr gepflegt, gut genährt und ohne irgendwelche bedrückenden Erinnerungen an ein Dasein in Schmutz und Elend. Der Abschaum der Menschheit, den er verteidigte, hatte ohne deren Wissen oder Absicht diese gute Tat vollbracht und mitgeholfen, etwas Sauberes und Gutes in die Welt zu setzen.

»Als ich volljährig wurde, änderte ich meinen Namen in H. H. Walden, was mir sicherlich auch im Schaugeschäft geholfen haben würde, wenn ich meine Lebensaufgabe in diesem Beruf gesehen hätte, und benützte nur noch diesen Namen während meines Studiums. Er war mir damals bereits bei den blonden Tennisspielerinnen behilflich, und später dann bei den Ganoven, die ich verteidigte, weil ich sie darauf aufmerksam machte, daß H. H. für Half Hand stünde.«

»Und sie natürlich alle von Half Hands verschwundenen drei Millionen gehört hatten«, ergänzte Mike, was Walden zum Schmunzeln brachte.

»Sie scheinen sich wohl ein wenig mit der Vergangenheit meines Großvaters beschäftigt zu haben, wie?«

Mike erzählte ihm nun von der Biographie, die er schreiben wollte, und daß Maxie Samanthas Großmutter sei. »Was können Sie uns über Maxie sagen?« fragte er dann.

»Gar nichts«, erwiderte Mr. Walden und hielt Mikes Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, stand.

Ein erfahrener Lügner, dachte Mike bei sich. »Sie kennen nicht einmal den Namen ihres Pflegeheims?« gab er erstaunt zurück. »Haben auch keine Ahnung, wer die Arztrechnungen für sie bezahlt?«

Da legte Walden den Kopf zurück und lachte schallend. »Sie haben mich durchschaut, wie? Ja, ich weiß, wo Maxie sich befindet, bezahle aber keine Rechnungen für sie. Wenn Sie das wissen wollen, müssen Sie sie schon selbst danach fragen.«

»Sie hat sich dort unter dem Namen Abby aufnehmen lassen und will nicht einmal zugeben, daß sie Maxie ist.«

»Naja, das ist verständlich. Sie hat vermutlich Angst um diese junge Dame hier - fürchtet, daß Doc oder jemand anderer ihr etwas antun könnte; denn die Legende von Half Hands Millionen ist in gewissen Kreisen noch sehr lebendig. Sie wissen aber doch, daß Abby ihr richtiger Name ist, nicht wahr? Nein? Sie heißt Mary Abigail Dexter. Und als sie bei Jubilee den Vertrag unterschrieb, der sie als Sängerin in seinem Klub verpflichtete, zeichnete sie den Vertrag nicht mit ihren richtigen Initialen M. A. D., sondern mit M. A. X. ab, und Jubilees Buchhalter, der offensichtlich schlecht sehen konnte, glaubte, ihr Name wäre Maxie. Und von jenem Tag an ist dieser Name an ihr haften geblieben.«

Mike blickte Walden scharf an; denn er hatte das Gefühl, daß dieser Mann ihnen etwas verschwieg - Informationen besaß, die er nicht preisgeben wollte. »Jemand brach im ersten Stock meines Hauses ein und versuchte, Samantha umzubringen.«

Auch diesmal zuckte Walden mit keiner Wimper, was möglicherweise damit zu tun hatte, daß er täglich mit Mord, Totschlag und anderen Verbrechen konfrontiert wurde, da dies ja gewissermaßen zu seinem Broterwerb gehörte.

»Tatsächlich?« sagte Walden. »Haben Sie den Kerl auch geschnappt?«

»Nein«, erwiderte Mike knapp. »Haben Sie eine Ahnung, wer der Täter gewesen sein könnte? Vielleicht jemand, den Sie kennen?«

Walden lächelte. »Es könnte einer von tausend gewesen sein, die ich kenne. Ich habe noch niemanden verteidigt, der nicht imstande wäre, durch ein Fenster im ersten Stock einzusteigen und ein hübsches Mädchen umzubringen. Sie müssen mir schon den genauen Tatort und die Tatzeit angeben, wenn ich Ihnen einen dazu passenden Täter nennen soll.«

Samantha öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Mike war schneller als sie.

»Februar 1975, Louisville, Kentucky«, sagte er wie aus der Pistole geschossen und sah dabei Samantha nicht an, die ihn wütend anfunkelte. Das waren Ort und Monat, in dem ihre Mutter gestorben war.

»Ich würde mich jetzt gern wieder von Mr. Walden verabschieden«, sagte sie leise, doch Mike machte keine Anstalten, sich aus seinem Sessel zu erheben, sondern sah den Anwalt unverwandt an.

Nachdem Walden zwischen den beiden hin- und hergeschaut hatte, drückte er auf einen Knopf seiner Sprechanlage und sagte zu seiner Sekretärin, daß sie ihm alles bringen sollte, was sie unter dem ihm von Mike angegebenen Ort zu der von ihm genannten Zeit finden könne. »Sie hat das alles in ihrem Computer gespeichert, also kann das nur ein paar Minuten dauern«, erklärte er dann.

Dann lehnte Walden sich in seinem Sessel zurück, betrachtete die beiden vor seinem Schreibtisch und überlegte, ob sie tatsächlich nur zu ihm gekommen waren, um Fakten für eine Biographie zu sammeln. Er fragte sich auch, ob die beiden denn das wahre Ausmaß von Docs üblem Charakter kannten oder ob sie meinten, er wäre inzwischen ein netter harmloser, alter Mann, nur weil es ihm gelungen war, den Teufel zu überreden, ihn nicht schon vor langem in die Hölle geholt zu haben.

Als nach etwa fünf Minuten die Sekretärin Walden einen dicken Ordner auf den Schreibtisch legte, beugte sich der Anwalt, nachdem er einen flüchtigen Blick auf den Inhalt geworfen hatte, vor und sagte: »Ah, ja - ich erinnere mich noch gut an diesen Mandanten. Er wurde vor ungefähr zehn Jahren in die Gaskammer geschickt, und sie hat wohl noch keinen geeigneteren Insassen als diesen Mann gesehen. Ich verteidigte ihn, war aber froh, zu wissen, daß ich diesen Fall niemals gewinnen konnte. Am Abend vor seiner Hinrichtung bat er mich, in seine Zelle zu kommen, damit er mir seine gesamte Lebensgeschichte erzählen könne. Ich hätte Ihnen jetzt ja gern gesagt, daß er bereute, was er alles verbrochen hatte, aber er sagte zu mir, er wollte, daß ich das alles aufzeichnete, damit man einen Fernseh- oder Kinofilm über ihn drehen könnte wie über Al Capone.«

Walden blätterte in den Notizen, die auf seinem Schreibtisch lagen.

»Ich sagte ihm natürlich nicht, daß ich lieber sterben als ihn zu einem Volkshelden machen würde, aber ich schrieb alles auf, was er mir damals erzählte, für den Fall, daß man später versuchen sollte, einem meiner anderen Mandanten ein Verbrechen in die Schuhe zu schieben, das in Wahrheit er begangen hatte.«

Walden fuhr mit dem Finger über die Seiten seiner Notizen und sagte dann: »Ah, hier ist es. 1975. Himmel, war er aber aktiv in jenem Jahr! In den ersten sechs Monaten brachte er, vier, nein sogar fünf Menschen um - alles Mitglieder von Verbrecherbanden. Nein, hier, warten Sie, hier haben wir es.«

Kurz zu Mike hochblickend, fragte er: »Louisville, Kentucky, im Februar?« Er sah wieder auf das Blatt hinunter. »Abscheulich, wirklich abscheulich, diese Sache. Himmel, das hatte ich ja ganz vergessen! Er suchte damals nach Half Hands verschwundenen Millionen. Ich glaube, jemand hatte ihn dafür engagiert, aber er sagte mir nicht, ob er die Sache auf eigene Faust oder im Auftrag eines anderen unternommen hat. Ich denke, er wollte mich in dem Glauben lassen, er wäre intelligent genug gewesen, Leute umzubringen, ohne daß ihm ein anderer sagen mußte, wen, wann und wo.«

»Was hat er getan?« fragte Mike leise.

»Eine Frau getötet. Er erzählte mir, er habe einen Tip bekommen, daß jemand in ihrer Familie wüßte, wo Half Hands Geld hingekommen sei. Also fuhr er nach Louisville, entführte diese Frau und folterte sie eine Weile lang, um sie zum Sprechen zu bringen. Lassen Sie mich mal nachsehen -ja, er hielt sie an eine glühende Heizsonne, aber als ihm klar wurde, daß sie wirklich nichts wußte, schleppte er sie hinaus auf die Straße und überfuhr sie mit seinem Wagen. Er prahlte noch vor mir, wie die Frau ihn angefleht hatte, ihr kleines Mädchen zu verschonen. Deshalb blieb er noch ein paar Wochen, nachdem er die Frau getötet hatte, in der Stadt, redete mit diesem Mädchen und stellte ihm eine Menge Fragen, um herauszufinden, ob es oder sein Vater etwas von dem Geld wüßten. Er kam zu dem Schluß, daß das nicht der Fall war, und reiste daraufhin ab.«

H. H. sah von seinen Aufzeichnungen auf und die beiden vor seinem Schreibtisch an. Eben noch hatten sie sehr rosig und gesund ausgesehen, doch nun waren sie ganz grün im Gesicht. Der Mann griff nach der Hand der Frau, die sich um die Sessellehne gekrampft hatte, und in diesem Moment kam H. H. der Gedanke, daß die gefolterte Frau wahrscheinlich die Mutter dieser jungen Lady gewesen war.

»Ich . . . Ich . . .«, begann er, und dann wußte H. H. Walden, der noch nie um Worte verlegen gewesen war, nicht weiter.

Mike stand auf. »Mr. Walden, vielen Dank, daß Sie uns geholfen haben. Ich denke, wir werden jetzt besser wieder gehen.«

»Hören Sie - es tut mir leid, daß ich Ihnen diese Geschichte erzählt habe. Es war nicht meine Absicht.« Doch da gab es nun nichts mehr zu entschuldigen, und er blickte den beiden schweigend nach, die sich beeilten, sein Büro zu verlassen.

»Bist du okay?«, fragte Mike, als sie draußen auf der Straße waren.

Samantha nickte. »Ja. Wirklich, Mike, ich bin okay. Aber ich glaube, ich würde jetzt gern ein bißchen Spazierengehen. Allein. Wir sehen uns dann später wieder.«

»Bist du sicher?«

»Absolut.«

Als er fortfuhr, sie besorgt anzusehen, lächelte sie ein wenig, um ihn zu beruhigen, und legte ihm die Hand auf den Arm. »Mike, das ist alles vor langer, langer Zeit passiert. Ich hatte viele Jahre Zeit, um über den Tod meiner Mutter hinwegzukommen, und es spielt jetzt wirklich keine Rolle mehr, wie sie ums Leben kam. Tot ist tot - ob es nun ein Unfall oder ein Mord gewesen ist. Ich möchte jetzt nur ein bißchen allein sein. Vielleicht gehe ich in eine Kirche und setze mich dort eine Weile lang auf eine Bank.« Sie drückte kurz seinen Arm, lächelte noch einmal, um ihn zu beruhigen, und wandte sich von ihm ab.

Da faßte Mike sie am Arm und schwenkte sie wieder herum. Sie war eine gute Schauspielerin, das mußte er ihr lassen, und wenn er nicht gewußt hätte, was sie soeben erfahren hatte, wäre er niemals auf die Idee gekommen, daß sie litt. Aber er kannte Samantha inzwischen viel besser als noch vor wenigen Tagen - kannte sie sogar gut. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie ihren Kummer und ihren Schmerz vor anderen verstecken und allein damit fertig werden müssen.

»Du kommst jetzt mit mir«, sagte Mike.

»Nein, ich .. .« Sie versuchte, sich von ihm zu entfernen, aber er ließ ihren Arm nicht los und zog sie zu sich heran.

Dann pfiff er so laut und durchdringend, daß ein Taxi mit quietschenden Bremsen neben ihm am Randstein hielt. Mike öffnete die Wagentür und schob Sam auf den Rücksitz. Als sie mit ihm zu reden versuchte, sagte er, daß sie still sein sollte. Sie waren schon fast zu Hause, als Mike Samantha unter das Kinn faßte und ihr Gesicht ins Licht drehte: Sie war schneeweiß, ihre Haut fühlte sich feucht und kalt an, und sie atmete unregelmäßig.

Kaum hatte das Taxi vor dem Haus gehalten, als Mike dem Fahrer das Geld in die Hand drückte, den Wagenschlag öffnete, und Sam hinter sich herziehend, rannte er so schnell die Vortreppe hinauf, daß sie ihm kaum folgen konnte. Oben schob er rasch den Schlüssel ins Schloß, stieß die Haustür auf, warf sie hinter ihnen wieder zu und lief mit Sam ins Badezimmer.

Sie schafften es gerade noch, dann mußte Sam sich übergeben. Eine Hand auf ihrer Stirn, mit der anderen ihren Brustkorb umfassend, hielt er sie fest, während sie sich, von Magenkrämpfen geschüttelt, immer wieder erbrach, bis sie erschöpft über dem Toilettenbecken hing. Da tränkte Mike einen Waschlappen mit kaltem Wasser und drückte ihn ihr auf die Stirn, während er die Wasserspülung betätigte und den Deckel über dem Toilettenbecken schloß.

Er mußte ihr vom Boden aufhelfen, als sie sich hinsetzen wollte, während sie flüsterte: »Jetzt geht es mir wieder gut. Wirklich. Jetzt bin ich wieder okay.«

Er schüttelte den Kopf. »Du bist keineswegs okay«, sagte er, ließ sie einen Moment allein, ging in die Küche, goß Orangensaft in ein Glas und flößte ihn ihr schluckweise ein. »Und jetzt das«, sagte er, ihr ein Pfefferminz hinhaltend. Und als sie es nicht nehmen wollte, zwang er ihr die Kiefer auseinander und schob es ihr in den Mund.

Dann nahm er ihr den Waschlappen wieder von der Stirn, wrang ihn aus, tränkte ihn mit frischem kalten Wasser und wusch ihr damit das Gesicht ab. Was tat man sonst noch in so einer Situation? Wie konnte er Samantha helfen, den Schock zu überwinden, den diese schreckliche Nachricht bei ihr ausgelöst hatte? Er versuchte sich vorzustellen, wie er sich fühlen würde, wenn jemand ihm gerade erzählt hatte, daß seine Muter von einem Verbrecher auf die vage Vermutung hin, daß sie vielleicht wußte, wo ein vor vielen Jahren verschwundenes Geld hingekommen sei, gefoltert und ermordet worden war.

»Wenn du krank warst als Kind«, sagte Mike, während er ihr sacht mit dem Waschlappen das heiße Gesicht abwischte, »wer hat sich da um dich gekümmert?«

»Meine Mutter«, flüsterte sie.

»Und nach deinem zwölften Lebensjahr?« fragte er und nahm einen Moment lang, auf ihre Antwort wartend, den Waschlappen von ihrem Gesicht.

Aber sie gab ihm keine Antwort auf diese Frage, sondern drehte das Gesicht zur Seite und sagte: »Ich würde mich jetzt gern hinlegen.«

»Du willst ins Bett gehen? Allein?«

»Mike, bitte. Ich möchte jetzt wirklich nicht...«

Er gestattete sich nicht, dem Ärger nachzugeben, der sich in ihm regte, weil sie offenbar annahm, er wollte in so einem Moment wie diesem mit ihr schlafen. Sich daran erinnernd, wie sie ihm erzählt hatte, daß sie damals, als sie die Nachricht von dem bevorstehenden Tod ihres Vaters erhielt, nach Hause gehen wollte, um bei ihrem Ehemann Trost zu suchen, streichelte er ihr die Wangen. Aber ihr Ehemann war nicht dagewesen, als sie ihn brauchte, und als sie nach dem Tod ihrer Mutter ihren Vater brauchte, hatte der sie ebenfalls im Stich gelassen. Es wurde Zeit, dachte Mike, daß ein Mann ihr auch einmal beistand, wenn sie in Not war. »Sam - Sam, ich werde dich jetzt nicht allein lassen. Dein Vater mag das getan haben, damit du erwachsen wirst, aber ich werde es nicht tun.« Damit hob er sie auf seine Arme und trug sie wie ein Kind aus dem Badezimmer.

»Laß mich los«, sagte sie, sich gegen ihn wehrend.

Da blieb er im Flur stehen und schaute auf sie hinunter. »Ich lasse nicht zu, daß du jetzt allein bleibst mit deinem Kummer. Du magst mich für einen autokratischen oder tyrannischen Chauvinisten halten, und du darfst mich gern beschimpfen, wenn du möchtest, aber diesmal wirst du dich nicht allein mit dem Tod auseinandersetzen müssen.« Als sie sich mit beiden Händen gegen seine Brust stemmte, zog er sie noch fester an sich. »Und für einen Ringkampf mit mir bist du nicht stark genug«, sagte er, sich wieder in Bewegung setzend.

Er trug sie nicht, wie sie gedacht hatte, ins Schlafzimmer, sondern hinaus in den Garten, und nahm, als er an einer Bank vorbeikam, die auf der Terrasse stand, die Schaffelldecke mit, die über der Rückenlehne hing. Dann setzte er sich mit ihr im Garten in eine Hollywood-Schaukel, nahm sie wie ein kleines Kind auf den Schoß, zog ihren Kopf an seine Schulter und legte ihr die Hand auf den Scheitel.

»Erzähl mir von deiner Mutter«, bat er.

Das Gesicht an seiner Schulter vergrabend, schüttelte sie den Kopf. Das letzte, woran sie jetzt denken wollte, war ihre Mutter - wie sie gegen eine glühende Heizsonne gepreßt wurde und ihren Peiniger anflehte, das Leben ihrer kleinen Tochter zu schonen.

»Was war ihre Lieblingsfarbe?«

Er wartete, aber als Samantha stumm blieb, sagte er: »Die Lieblingsfarbe meiner Mutter ist Blau. Blau ist die Farbe des Friedens, und nach den vielen Plagen, die sie mit uns Kindern hatte, gibt es wohl nichts auf der Welt, wonach sie sich mehr sehnen würde als nach Ruhe.«

Sam schwieg noch immer, als Mike sie und sich in die Schaffelldecke einhüllte. Es war ein sonniger, warmer Tag gewesen, doch Sam fühlte sich ganz kalt an, als habe der Schock ihr das wärmende Blut aus den Adern gepreßt und es irgendwo in ihrem Inneren aufgestaut. Er strich ihr die feuchten Haare von den Schläfen und zog sie noch fester an sich, um sie mit seinem Körper zu wärmen. Er wußte zwar nicht, warum er so hartnäckig war, aber er hatte das Gefühl, daß er sie unbedingt zum Reden bringen müsse.

»Hat deine Mutter dir auch etwas vorgesungen?« fragte er, und als Sam noch immer stumm blieb, fuhr er fort: »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, daß meine Ur-Urgroßmutter eine berühmte Opernsängerin gewesen ist? Man nannte sie LaReina. Hast du schon mal etwas von ihr gehört?«

Sam schüttelte den Kopf.

»Mein Vater hat ein paar Schallplatten, die man von ihr gemacht hat. Sie hatte eine wirklich gute Stimme, wenn ich mir darüber ein Urteil erlauben darf. Um so merkwürdiger finde ich es, daß keiner in meiner Familie einen richtigen Ton singen kann. Das ist nicht fair, findest du nicht?«

Sie schwieg, während er ihr den Rücken rieb und sie ganz fest und sicher an seinen kräftigen Körper hielt. Samantha erinnerte sich nun daran, was sie bisher immer so hartnäckig aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatte: Niemand hatte sie an dem Tag, als ihre Mutter starb, in den Armen gehalten. Ihr Vater hatte nach dem Tod ihrer Mutter drei Jahre in einem verdunkelten Zimmer verbracht. Er hatte sich wochenlang nicht anziehen wollen -nur seinen Bademantel über seinem Nachtzeug getragen -, sich nicht rasiert und nur das Allernötigste gegessen, um sich am Leben zu erhalten. Sam hatte sich nach Kräften bemüht, ihn aufzumuntern - sich niemals anmerken lassen, wie einsam sie selbst war. Sie hatte es sich niemals gestattet, ihm ihre Traurigkeit zu zeigen, ihn niemals wissen lassen, wie sehr sie ihn brauchte und wie sehr sie ihre Mutter vermißte.

»Gelb«, flüsterte Sam. »Ihre Lieblingsfarbe war Gelb.«

*

Mike hielt Samantha stundenlang in seinen Armen, während sie ihm von ihrer Mutter erzählte und davon, wieviel sie ihr bedeutet hatte. Er erinnerte sich wieder an ihren Vergleich mit den abgelaufenen Uhren, als sie ihm vor einigen Wochen zu erklären versuchte, in welcher Verfassung sie und ihr Vater sich nach dem Tod von Allison Elliot befunden hatten. Doch nun hörte Mike noch etwas anderes aus ihrer Erzählung heraus: Samantha fühlte sich schuldig am Tod ihrer Mutter. Hatte sie nicht schon einmal ihm gegenüber erwähnt, daß sie mit ihrem eigensüchtigen Wunsch, eine Kinder-Party zu besuchen, ihre Mutter umgebracht habe? Sie hatte zwar gesagt, daß sie inzwischen wüßte, daß das nicht stimmen könne, aber das war, wie Mike nun erkannte, nur eine Schlußfolgerung ihres Verstandes gewesen, keine moralische Rechtfertigung. Ihr Unterbewußtsein sprach sie von dieser Schuld nicht frei. Mehr noch: sie glaubte, daß auch ihr Vater sie für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gemacht hatte. Denn sonst hätte er sich doch nicht so von ihr abgekapselt, sein Kind nicht einmal ansehen, geschweige denn trösten wollen. Dieser egoistische Bastard! Mike verfluchte ihn im stillen. Er hatte nur an seinen Kummer gedacht und den seiner Tochter nicht wahrnehmen wollen.

Der Kummer über den Tod seiner Frau hatte damals auch Kane geschwächt, aber er hatte sich stets bemüht, für seine beiden Kinder dazusein, wenn sie ihn in der Nacht weckten und weinend nach ihrer Mami riefen.

Samantha hatte nicht geweint, und sie weinte auch jetzt nicht. Sie war blaß, kalt und so schwach, daß sie kaum die Hände bewegen konnte, aber ihre Augen blieben trocken. Weil sie sich schuldig fühlte am Tod ihrer Mutter und dem Kummer ihres Vaters, bestrafte sie sich damit, daß sie sich die Tränen versagte, die ihren Schmerz lindern konnten.

»Ich war ein schreckliches Kind«, sagte Sam an seiner Schulter. »Ich war egoistisch, und alles mußte nach meinem Kopf gehen. Als mir meine Mutter einmal ein Paar wunderschöne blaue Samtschuhe kaufte, wollte ich sie nicht einmal anziehen, weil ich mir rote Lacklederschuhe gewünscht hatte.«

»Was hat deine Mutter da gemacht?«

»Sie sagte zu mir, daß sie nicht noch einmal in die Stadt fahren würde, um mir ein anderes Paar Schuhe zu kaufen. Sie sagte, sie wolle keine Primadonna heranzüchten, und daß man im Leben nicht das Unmögliche verlangen dürfte, weil man sonst am Ende gar nichts bekommt.«

»Und hast du deine roten Schuhe dann doch bekommen?« fragte er leise, weil er diese Geschichte bereits haßte. Es war bereits die dritte in Folge, in der Samantha ein ganz normales kindliches, eigensüchtiges Verhalten zu einer sündhaften Boshaftigkeit aufblähte.

»Oh, ja. Am nächsten Tag sagte ich zu meiner Mutter, wie schön ihr Haar doch sei und was für herrliche blaue Augen sie hätte. Und wie sehr ich mich freute, daß sie nicht so alt aussähe wie die Mütter meiner Freundinnen, die ausnahmslos dick und häßlich seien. Und daß sie sich so schön anziehen sollte, wie sie aussähe. Da lächelte sie und fragte mich, woran ich denn denken würde, und ich erzählte ihr von einer Schaufensterpuppe in der Auslage von Stewarts Kaufhaus, die ein Kleid anhatte, das ihr großartig stehen müßte.«

»Und da ist sie mit dir in die Stadt gefahren?«

»Sie sagte, daß ich mit meiner wohl ehrlich gemeinten Schmeichelei und der Raffinesse, mit der ich versuchte, meinen Kopf durchzusetzen, eine Belohnung verdient hätte. Aber sie warnte mich auch, daß ich eine hinter die Ohren bekäme, wenn die Schaufensterpuppe mit dem Kleid, das ich ihr anpries, gar nicht in der Auslage stünde.«

»Vermutlich stand sie aber doch da.«

»Ich schwitzte auf der Fahrt in die Stadt Blut und Wasser. Ich befürchtete nämlich, daß sich im Schaufenster von Stewarts nur Herrenbekleidung befand, aber das Kaufhaus ließ mich nicht im Stich. Ich bekam meine roten Schuhe und Mama ein neues Kleid.« Samantha schwieg einen Moment. »Es war das Kleid, in dem sie beerdigt wurde.«

Und während Mike, ihr über das Haar streichend, sich die Geschichten aus ihrer Kindheit anhörte, wuchs mit jeder Story, die sie ihm berichtete, seine Überzeugung, daß hier etwas geschehen mußte. Blair hatte zu einer Therapie geraten. Doch wie sollte diese aussehen? Daß ihr ein Psychiater immer wieder versicherte, sie wäre nicht schuld am Tod ihrer Mutter und nicht verantwortlich für die Depressionen ihres Vaters? Es würde mehr brauchen als Worte, um Samantha den Glauben daran zu nehmen, daß sie schuld war an beidem.

Sie hatte in einer ihrer Geschichten erwähnt, daß ihr Vater eines Tages, als er aus dem Büro nach Hause kam, Richard Sims mitgebracht und ihr vorgestellt hatte. Mike mußte nur ein paar Fragen stellen, um herauszufinden, daß sie ihn vor allem deswegen geheiratet hatte, weil ihr

Vater das offenbar von ihr erwartete. War das verwunderlich? Von ihrem zwölften bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr hatte sie sich ausschließlich ihrem Vater gewidmet in dem Bemühen, das wieder gutzumachen, was sie ihm ihrer Meinung nach angetan hatte. Warum sollte sie dann nicht auch geheiratet haben, weil sie glaubte, ihm damit eine Freude machen zu können?

Der Anwalt ihres Vaters hatte gesagt, Sam habe sich in jener Zeit von der Außenwelt abgekapselt, weil sie nur für ihren Vater dasein und ihm in seiner Depression helfen wollte. Sam war in jenen Jahren so isoliert gewesen, daß dem Anwalt sogar der Verdacht gekommen war, sie könnte das Opfer einer inzestuösen Beziehung geworden sein. Doch er hatte sich damit nicht befassen mögen und war deshalb auf Vermutungen angewiesen.

Sie war von ihrem zwölften Lebensjahr an immer allein gewesen. Sie hatte niemanden gehabt, an den sie sich wenden konnte, obwohl sie sich bemüht hatte, das beste kleine Mädchen der Welt zu sein, um mit ihrem Verhalten die Liebe ihres Vaters zurückzugewinnen. Und in diesem Bemühen hatte sie wohl auch den Mann geheiratet, den ihr Vater ausgesucht hatte. Sie hatte es ihm zuliebe getan.

Doch als ihre Ehe scheiterte, hatte sie wieder niemanden gehabt, an den sie sich wenden konnte. Sie hatte ja wohl schwerlich ihren Vater anrufen und ihm sagen können, daß der Mann, den er für sie ausgesucht hatte - und Mike hatte inzwischen herausgefunden, daß Dave Elliot ihrem Ex-Gatten das Geld gegeben hatte, damit er sich als Teilhaber in dieser Steuerberatungsfirma in Santa Fe einkaufen konnte -, sie als Packesel mißbrauchte. Da Sam als Kind von der Außenwelt isoliert und immer mit Geheimnissen belastet gewesen war, hatte sie auch nicht gelernt, wie man sich Freunde macht - Freunde, bei denen man sich aussprechen konnte.

Als Mike nun daran zurückdachte, wie Sam den ersten Monat in seinem Haus verbracht hatte - eingeschlossen in ihrer Wohnung, die sie nicht mehr verlassen wollte -, konnte er die Depression, an der sie damals litt, gut verstehen. Es war ja die Wohnung ihres Vaters gewesen, der sie zu seinen Lebzeiten im Stich gelassen hatte, und so hatte sie wohl gehofft, ihn dort nach seinem Tod wiederzufinden.

Und dabei fragte er sich immer wieder, was er denn tun könnte, damit Sam einsah, daß sie nicht schuld war an dem Tod ihrer Mutter und der Depression ihres Vaters. Mike hatte einmal gelesen, daß die Depression ein nach innen gerichteter Zorn sei. Was konnte er tun, damit sich dieser Zorn nach außen entlud? Er wollte erleben, daß sie mit Tellern warf, daß sie ihren Vater verfluchte, weil er sie im Stich gelassen hatte, daß sie sich darüber empörte, was ihr Ex-Mann ihr angetan hatte.

Er wollte sie weinen sehen!

Da erhob er sich von der Hollywood-Schaukel und trug sie ins Haus. Samantha glaubte, daß er sie ins Bett bringen wollte, und sie hoffte das jetzt auch, denn sie war sehr, sehr müde. Aber statt dessen trug er sie zur Haustür.

»Wo gehen wir denn hin?« fragte sie müde.

»Ich bringe dich zu deiner Großmutter. Ich denke, es ist Zeit, daß dieses Versteckspiel aufhört. Ich denke, daß es Zeit ist, daß wir eine Antwort bekommen auf einige Fragen.«