20

»Und wohin bringst du mich jetzt zum Dinner?« fragte Samantha vergnügt, als sie das Pflegeheim verließen. »Ich habe in der Achtundfünfzigsten Straße ein italienisches Restaurant - >Paper Moon< - entdeckt, das mir Arielversprechend aussah.«

Mike faßte sie am Ellenbogen. »Wir fahren zum Dinner nach Hause.« Er sah sie mit schmalen Augen an. »Wir fahren nach Hause, und dort zeigst du mir den Karton mit den Sachen, die dein Vater dir hinterlassen hat.«

»Aber ich habe Hunger, Mike!«

»Du kannst dir was ins Haus bringen lassen, wie du das ja sonst auch immer tust. Ruf das >Paper Moon< an und bestell dort, was du willst, aber heute abend zeigst du mir diesen Karton.«

Als Mike ein Taxi herbeiwinkte, konnte sich Samantha nicht verkneifen, schadenfroh zu sagen: »Es gefällt dir anscheinend nicht, wenn andere Leute Geheimnisse vor dir haben, wie?«

Er spannte die Hand, die auf ihrem Arm lag, so fest an, daß es fast weh tat. »Begreifst du denn nicht, daß das Geheimnis, warum dieser Kerl dich umzubringen versuchte, in diesem Karton stecken könnte?«

»Nein . . .«, erwiderte sie leise.

Als er den Wagenschlag des Taxis öffnete, fragte er: »Was ist in diesem Karton?« Als sie schwieg, knirschte er mit den Zähnen. »Du hast noch nicht einmal hineingeschaut, nicht wahr?«

»Ich fand es nicht lustig, mir die Sachen einer erst vor kurzem verstorbenen Person anzuschauen. Vielleicht hast du eine Vorliebe für das Makabre - ich nicht. Ich habe den Karton geöffnet - genauer gesagt, die Hutschachtel, die du für mich ins Erdgeschoß hinuntergetragen hast sah obenauf dieses Foto liegen und nahm es heraus. Das war alles. Soweit ich sehen konnte, schien die Hutschachtel zum größten Teil alte Kleider zu enthalten - Kleider, die einmal jemand gehört haben, der möglicherweise mit einem Gangster durchgebrannt ist.«

»Eine Hutschachtel voller Dinge, die uns viel erzählen könnten. Die uns vielleicht verraten können, was wir tun müssen, um zu verhindern, daß noch einmal jemand versucht, dich umzubringen.«

Unwillkürlich griff sich Samantha mit der Hand an die Kehle. »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich noch immer in Gefahr bin - oder?«

»Doch«, erwiderte er leise, »ich glaube, daß die Gefahr, in der du schwebst, von Mal zu Mal größer wird, wenn wir mit einer Person reden, die deine Großmutter gekannt haben könnte.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Ich glaube sogar, daß die Gefahr, in der du steckst, inzwischen so groß sein könnte, daß du selbst in Maine davor nicht sicher wärst.«

Samantha drehte das Gesicht zur Seite, blickte zum Wagenfenster hinaus und holte tief Luft.

*

Eine halbe Stunde später waren sie zu Hause und betrachteten die Hutschachtel, die Mike auf den Küchentisch gestellt hatte. Sam hatte darauf bestanden, erst ein Dinner zu bestellen, ehe sie die Hutschachtel aufmachten, und Mike hatte ihr widerstrebend nachgegeben. Und hätte jemand Samantha gefragt, warum sie denn so große Hemmungen habe, sich den Inhalt des Kartons anzusehen, hätte sie ihm das schwerlich erklären können Sie wußte doch, daß er nur mit Sachen gefüllt war, die einmal ihrer Großmutter gehört hatten. Und unter anderen Umständen wäre sie sicherlich neugierig gewesen, doch nun war sie gar nicht so sicher, daß sie den Karton öffnen wollte. Er erschien ihr wie die Büchse der Pandora, die mit allen Übeln dieser Welt gefüllt war, und sie war irgendwie davon überzeugt, daß sie beide, wenn sie diesen Karton aufmachten, etwas in Gang setzen würden, das sie bis zu einem ungewissen, ja vielleicht bitteren Ende durchstehen mußten.

Als Mike den Arm ausstreckte, um den Deckel von der Hutschachtel zu nehmen, legte Samantha rasch die Hand darauf.

Mike, der sie beobachtete, wartete, während sie ein paarmal tief Luft holte und sich zu beruhigen versuchte.

Nach einer Weile nickte sie, trat vom Tisch zurück und hielt den Atem an, als Mike den Deckel anhob.

»Das ist ja unglaublich !« sagte er mit gepreßter Stimme.

»Was?« Sie trat näher an ihn heran und schielte in die Hutschachtel hinein.

»Jetzt hab’ ich dich!« rief Mike, sie im gleichen Moment an beiden Armen packend. Samantha sprang erschrocken vom Tisch zurück und faßte sich ans Herz. Als Mike laut lachte, rief sie wütend: »Du - du Ungeheuer!« und trommelte mit beiden Fäusten gegen seine Schulter.

Lachend griff Mike in die Schachtel. »Ich weiß nicht, warum du dich so fürchtest - es ist nur ein altes Kleid.« Er holte es heraus und hielt es Samantha hin.

Zuerst wollte sie es nicht anfassen, aber als Mike die Hand bewegte, sah sie etwas funkeln. Da nahm sie es ihm ab und faltete es langsam auseinander, faßte es an den Schultern und hielt es vor sich hin. »Lavin«, flüsterte sie ehrfürchtig, als sie das Etikett des berühmten französischen Modeschöpfers las, das hinten am Halsausschnitt ins Futter eingenäht war.

Es war ein wunderschönes Abendkleid aus roter Moireseide mit schmalen Schulterbändern und einem himmlisch drapierten schräggeschnittenen Rock, der an der Wade gerafft war und in einer kleinen Schleppe auslief. Rechts an der Taille zeigte es ein Sonnenmotiv aus Glasperlen im Diamantschliff.

»Mir scheint, du hast deine Angst überwunden«, meinte Mike sarkastisch, doch sie beachtete ihn nicht, sondern bewunderte die herrlich fließenden Linien des Kleides, wenn sie es bewegte.

Mike nahm nun ein Paar Schuhe aus der Schachtel. Sie waren offenbar eigens zu dem Kleid angefertigt worden, hatten Louis-Absätze und Riemchen aus rotem Moiré in T-Form - der vertikal verlaufende Riemen war mit geschliffenen Rheinkieseln besetzt. Samantha wußte sofort, als sie diese Schuhe sah, daß sie genau ihre Größe hatten.

»Schau dir das an.« Mike reichte ihr eine kleine, mit blauem Samt überzogene Schachtel. Darin befanden sich auf einem Bett aus blauem Samt ein Paar Ohrringe - aber nicht irgendwelche x-beliebigen Ohrringe, sondern lange, birnenförmige, vom Ohrläppchen bis zum unteren Ende mit Diamanten besetzte Ohrhänger mit einem aus drei großen Perlen bestehendem Pendant.

Mike ließ einen leisen Pfiff hören.

»Docs Ohrringe«, flüsterte Samantha. »Die Ohrringe, die er ihr, wie er uns erzählte, an dem Abend schenkte, als sie verschwand.«

Mike förderte nun Unterwäsche aus dem Karton zutage: einen pfirsichfarbenen Büstenhalter aus Crêpe de Chine mit einer zarten Spitze aus Ekrüseide und das dazu passende Unterhöschen. Ein schmaler, sehr sexy aussehender Strapsgürtel und fleischfarbene lange Seidenstrümpfe lagen zusammengefaltet daneben.

Auf dem Grund der Hutschachtel entdeckte Mike die Schnüre einer sehr langen Perlenkette und obenauf zwei Diamant-Armbänder. Mike holte die Armbänder heraus, hielt sie ans Licht, betrachtete sie prüfend. »Ich bin zwar kein Juwelier aber ich schätze, sie sind echt.« Er reichte sie an Samantha weiter. Anschließend holte er die lange Perlenkette aus dem Karton und zog die Schnüre langsam über den Rücken seiner Fingernägel. Sie waren rauh genug, daß er damit seine Fingernägel abschmirgeln konnte - eine Rauhheit, wie man sie nur bei echten Perlen fand.

»Echt?«

»Absolut«, erwiderte Mike und legte die Kette zu den Kleidern.

Samantha legte auch die Armbänder dazu, und dann betrachteten sie gemeinsam die Gegenstände auf dem

Tisch: das rote Abendkleid, die dazu passenden Schuhe, die wunderschönen Ohrringe, die Armbänder, die lange Perlenkette und die Unterwäsche. Das war offensichtlich alles, was eine Frau an jenem besagten Abend im Jahre 1928 auf der Haut getragen hatte.

»Wenn sich diese Gegenstände im Besitz deines Vaters befunden haben«, sagte Mike, »beseitigt das jeden Zweifel daran, daß Maxie deine Großmutter gewesen ist.«

»Ja«, war alles, was Samantha darauf antworten konnte, aber sie wurde in diesem Moment auch jedes weiteren Kommentars durch die Türglocke enthoben. Der Bote mit ihrem Dinner war eingetroffen. Sie setzten sich ans Tischende, aßen und sagten nicht viel, während sie immer wieder die Kleider und die Juwelen betrachteten, die über das andere Ende des Tisches drapiert waren.

Beide weilten mit ihren Gedanken bei jener Nacht des Jahres 1928, als, aus welchen Gründen auch immer, eine in rote Seide gekleidete und mit Diamanten behängte junge Frau ein Lokal in dem Moment verließ, als dort ein Blutbad angerichtet wurde, und nie wieder gesehen wurde. Schwanger war sie dann nach Louisville in Kentucky gefahren und hatte dort drei Tage später einen Mann geheiratet, der keine Kinder zeugen konnte. Sie blieb bei ihrem Mann, brachte ihm ein Kind zur Welt und schien mit ihm glücklich zu sein, bis sie dann im Jahre 1964 zum zweitenmal verschwand.

»Mike«, sagte Sam, »würdest du nicht gern wissen wollen, was in jener Nacht geschah? Würdest du nicht wirklich, wahrhaftig wissen wollen, was damals passierte?«

»Ja«, sagte er, »das würde ich gem.«

»Doc behauptete, Maxies Baby wäre sein Kind gewesen, aber Abby sagte, Maxie habe Michael Ransome geliebt.«

»Ich würde mein Geld auf Onkel Mike setzen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Doc selbst sein Sperma mit irgend jemandem teilen würde.«

»Mike!« rief sie, weil ihr seine grobe Bemerkung nicht gefallen wollte. »Vielleicht liebte er sie wirklich. Sie könnte doch Docs Mätresse gewesen sein und gleichzeitig Michael Ransome geliebt haben. Oder vielleicht liebte sie alle beide.«

Mike gab ihr keine Antwort, während er das Kleid betrachtete und die Art, wie es im Licht changierte. »Hast du den Fleck auf dem Rock bemerkt?«

»Ja«, erwiderte Samantha leise, auf ihren Teller hinunterblickend. Sie hatte ihn bemerkt und instinktiv gewußt, wovon die Verfärbung herrührte.

Sich vom Tisch erhebend, nahm Mike das Kleid hoch und hielt es ins Licht. »Es ist Blut, nicht wahr? Sieht so aus, als habe jemand versucht, es herauszuwaschen, aber man kann Blut aus so einem Stoff nicht mehr entfernen.«

»Nein, zumindest nicht so viel Blut.«

»Ich frage mich, wessen Blut es war.«

»Deiner Schilderung von dem Massaker nach könnte es von mehreren Personen stammen.«

Mike hielt den Blick auf das Kleid gerichtet. »Doc sagte, Maxie habe sich in den hinteren Räumen des Klubs befunden, als Scalpinis Männer mit ihren Maschinenpistolen das Feuer eröffneten, und wäre nicht mehr in den Klubraum gekommen. Wenn das zu trifft, kann es nicht Onkel Mikes Blut sein, er hat die Tanzfläche kein einziges Mal verlassen. Er wurde dort niedergeschlagen und blieb dort liegen, bis die Sanitäter ihn fortschafften. Und Dave hat uns erzählt, daß er sich während der Schießerei in der Toilette aufgehalten habe.« Mike sah zu Samantha hin. »Ich werde das Kleid Blair bringen und von ihr das Blut analysieren lassen. Wenn wir die Blutgruppe wissen, können wir möglicherweise anhand der Krankenblätter der damals ins Krankenhaus eingelieferten Verletzten feststellen, zu wem es gehörte.«

Samantha stand auf und nahm ihm das Kleid weg. »Werden sie es zerschneiden?« fragte sie betrübt.

Mike wollte sie darauf hinweisen, daß sie die Hutschachtel monatelang ungeöffnet im Schrank hatte stehen lassen - sogar das Kleid gesehen und sich nicht die Mühe gemacht hatte, es herauszunehmen und zu betrachten -und jetzt ein Gesicht machte wie ein Kind, dem man seinen Teddybären wegnehmen wollte. Es lag ihm auf der Zunge, aber er sagte es nicht.

»Nein, sie werden nicht einmal ein Fädchen herausziehen. Aber ich denke, wir sollten es nicht aus den Augen lassen, bis wir es dokumentiert haben.«

»Dokumentiert? Ah - fotografiert haben, meinst du? Ich schätze, ich kann es solange für dich hochhalten. Oder wir könnten es auch mit Klebeband an der Wand befestigen.«

»Das wird nicht funktionieren«, meinte er stirnrunzelnd, als suchte er nach einer brauchbaren Lösung. »Ah -ich weiß, was wir machen könnten. Warum ziehst du es nicht an? Hättest du etwas dagegen? Die Sachen sehen doch so aus, als wären sie für dich maßgeschneidert.«

Vor ein paar Stunden noch hatte sie schon eine Gänsehaut bekommen, wenn sie nur daran dachte, daß sie den Inhalt einer alten Hutschachtel untersuchen sollte. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als in alten Kleidern zu kramen - außer vielleicht, sie auch noch anziehen zu müssen. Und wenn diese obendrein noch mit Blut besudelt waren, schien ihr dieses Ansinnen der Gipfel des Unzumutbaren zu sein.

Nun hatte sie sich freilich unter alten, muffelnden, mit Blut besudelten Sachen nicht unbedingt ein Pariser Modellkleid mit Brillanten und echten Perlen vorgestellt.

Und während sie vorsichtig mit den Fingern über die zarten Spitzen der pfirsichfarbenen Unterwäsche strich, meinte sie nachdenklich: »Wäre es denn hilfreich für deine Biographie, wenn ich diese Sachen tatsächlich anziehen würde?«

Mike mußte sich die Hand vor den Mund halten, damit sie sein Lächeln nicht sah. »Du würdest mir einen persönlichen Gefallen tun, wenn du sie tragen würdest. Nur für ein paar Minuten. Warum ziehst du sie jetzt nicht an, während ich die Kamera hole? Ich muß sie auf ein Stativ montieren, also kannst du dir ruhig etwas Zeit dafür nehmen.«

Er hatte den Satz noch nicht beendet, als Samantha bereits die Sachen vom Tisch nahm, sie in die alte Hutschachtel zurückwarf und sich mit dieser in Richtung Schlafzimmer entfernte.

Sobald sie dort angelangt war, entledigte sie sich rasch ihrer Kleider und zog Maxies Unterwäsche an. Die Seide auf ihrer Haut schien sie zu verwandeln. Samantha machte sich ein bißchen größer, hob das Kinn eine Idee höher, zog die Bauchmuskeln ein wenig strammer an und bewegte ihre Hüften gerade genug, daß sie eine Kostprobe davon bekam, wie sich gleitende Seide auf der Haut anfühlte. Als sie sich in den ersten Wochen hier in New York oben in ihrer Wohnung eingeschlossen hatte, hatte sie sich immer die alten Blues angehört, die ihr Vater so sehr geliebt hatte. Als sie nun in Maxies Unterwäsche vor dem Spiegel stand, begann sie einen alten Schlager von Bessie Smith vor sich hin zu summen.

Als nächstes legte sie Maxies Strapsgürtel an. Dann setzte sie den Fuß auf einen Stuhl und begann ganz langsam einen Seidenstrumpf von den Zehen über die Ferse zum Schenkel hinaufzurollen. Als ihr rechtes Bein mit dem Seidenstrumpf bekleidet war, öffnete sie die eine Tür von Mikes Kleiderschrank, die innen mit einem Spiegel verkleidet war, stellte sich davor und prüfte, ob die Naht an der Rückseite des Strumpfes auch richtig saß. Dann stellte sie den Stuhl vor den Spiegel und beobachtete sich dabei, wie sie langsam den zweiten Seidenstrumpf über ihr linkes Bein hinaufstreifte. Pfirsichfarbener Seidenbüstenhalter, seidenes Unterhöschen, seidene lange Strümpfe, nackter Schenkel zwischen Seide und Seide.

Woher kam es, daß Seidenstrümpfe mit Strapsgürtel so unglaublich sexy zu sein schienen? fragte sich Samantha während sie sich von allen Seiten in dem großen Spiegel betrachtete. Ihr gefiel, was sie dort sah. Strumpfhosen aus Nylon fühlten sich überhaupt nicht sexy an, sie gaben ihr eher das Gefühl, als wäre sie von den Zehen bis zur Taille in eine Wurstpelle eingezwängt. Aber mit ein paar Zentimetern nackter Haut zwischen Strumpf und Strapsgürtel kam sie sich verführerisch vor wie ein Vamp, der in einem Harlemer Nachtklub sang und jeden Abend scharenweise hübsche junge Männer in das Lokal lockte.

Im Badezimmer betrachtete sie sich dann im Rasierspiegel und fand, daß ihr Gesicht zu sauber, viel zu sehr nach der jungen Dame aus dem Kirchenchor aussah und ihre Frisur zu modern war, zu flauschig und flockig von dem Haarspray.

Sie drehte den Wasserhahn auf, machte einen Kamm naß und zog ihn durch ihr Haar. Und da sie nun schon mal damit angefangen hatte, konnte sie nicht mittendrin aufhören, sondern mußte schon ganze Arbeit leisten. Also machte sie ihr Haar vollkommen naß, so daß es am Kopf anlag, scheitelte es auf der linken Seite, formte es zu Ringellocken vor den Ohren und konservierte das Ganze dann mit Haarspray. Sie benützte ihren dunkelsten Lidstrich, um die Augenränder nachzuziehen, und zog dann einen scharfen Strich durch die Brauen, um sie besonders zu betonen. Dann versuchte sie, ihren Mund in eine Herzform zu bringen, wie sie das auf Fotos von Clara Bow gesehen hatte.

Von dem Spiegel zurücktretend, studierte sie das Ergebnis und nickte. In ihrer Phantasie war sie fast schon Maxie, die sich auf ihren Auftritt vorbereitete - und auf die beiden Männer, die sie dort draußen erwarteten: ihren Liebhaber und den Mann, der ihr diamantene Ohrringe gekauft hatte.

Nachdem sie das rote Seidenkleid über den Kopf gestreift und mit kleinen schlängelnden Bewegungen ihrer Schultern und Hüften dafür gesorgt hatte, daß es richtig saß, starrte sie sich im Spiegel an. »Maxie«, flüsterte sie, weil sie jetzt eine ganz andere Frau aus dem Spiegel anblickte - eine Frau, die sich sicher war, die Aufmerksamkeit aller Männer auf sich zu ziehen. Als sie noch die Schuhe angezogen und die Riemchen befestigt hatte, stellte sie den Fuß auf den Badeschemel und fuhr mit der Hand langsam über ihr Bein bis zum Schenkel hinauf.

»Sam!« brüllte Mike draußen, »wann bist du denn endlich soweit!«

»Werd’ nicht gleich ungeduldig, Junge - es lohnt sich, auf dieses Baby zu warten!« rief sie zurück. Dann befestigte sie Doc’s Ohrringe an ihren Ohrläppchen, schob die diamantenen Armbänder über die Handgelenke und wickelte sich die Perlenkette zweimal um den Hals.

Als sie schon im Begriff stand, das Schlafzimmer zu verlassen, streifte ihr Blick die zwei balinesischen Puppen, die auf Mikes Kommode standen. Eine von ihnen hielt einen ungefähr dreißig Zentimeter langen geschnitzten Stock in der Hand. Vorsichtig schraubte sie den Stock aus seiner Halterung heraus und benützte dann die weiße Korrekturflüssigkeit, die Mike beim Tippen benützte und von der er hier im Schlafzimmer einen Vorrat hatte, um das Ende des Stöckchens weiß einzufärben. Nun hatte sie eine recht brauchbare Attrappe einer langen Zigarettenspitze, die mit einer brennenden Zigarette versehen war, steckte diese nun zwischen ihre karmesinroten, herzförmig geschminkten Lippen. Dann öffnete sie die Schlafzimmertür gerade so weit, daß sie Mike zurufen konnte, alle Lichter bis auf die Bodenlampe zu löschen, was er mit einem »wird gemacht, Baby!« beantwortete.

Als sie das Schlafzimmer verließ, war sie nicht mehr die unschuldige, respektable Samantha, sondern Maxie, eine Sängerin, um deren Besitz sich die Männer prügelten.

Als Mike sie die Stufe zum Wohnzimmer herunterkommen sah, pfiff er leise durch die Zähne - und vergaß vollkommen, eine Aufnahme von dem Kleid und ihr zu machen. Die Samantha, die er kannte, seine Samantha, ging nicht so wie diese Frau - mit vorgeschobenen Hüften und verführerischen Körperbewegungen - und trug auch nicht diese funkelnden Diamanten an den Ohren und Handgelenken. Diese Frau war so verschieden von jener, die er kannte, wie Daphne sich von einer Hausfrau in Indiana unterschied. Mike merkte, wie er einen Schritt zurückwich, denn diese Frau flößte ihm ein wenig Furcht ein. Sie gab ihm das Gefühl, er sollte einen Frack tragen und ihr solche Geschenke machen, die man in länglichen, mit schwarzem Samt überzogenen Schachteln zu verpacken pflegte.

Als Sam nur noch wenige Schritte von Mike entfernt war, begann sie den alten Blues anzustimmen, den früher Bessie Smith gesungen hatte.

Viele Menschen glauben, daß die Begabung für Blues von der Hautfarbe abhängt, doch in Wirklichkeit ist es die Erfahrung von Leid und Elend, auf dem sie beruht - und Samantha hatte mehr als genug Herzzerreißendes und Trauriges in ihrem kurzen Leben erfahren, um den Blues genauso gut singen zu können, wie irgendwer sonst auf der Welt. Ihre Stimme, obwohl nicht professionell geschult, war dank eines ererbten Gesangstalents kräftig und ausdrucksvoll.

Mike beobachtete sie, und diese Frau brachte ihn dazu, die Worte, die sie sang, auch zu fühlen, so daß er die Trauer einer Frau empfand, der eine andere Frau den Mann gestohlen hatte. Sie sang diese Worte so, wie nur jemand, der dieses Schicksal selbst erfahren hatte, sie singen konnte. Sie sang sie so, wie sie gesungen werden sollten - wie der Text es verlangte. Samantha war der Typ von Frau, für den dieses Lied geschrieben worden war, und sie sang es sowohl mit ihrem Herzen wie mit ihrer Stimme.

Es war nur ein kurzes, trauriges Lied, und als Samantha es gesungen hatte, konnte Mike sie nur verwirrt anstarren. Es war ihm, als sähe er eine ihm fremde Frau in einem koketten roten Abendkleid, das ihre Reize betonte.

Zu seiner Bestürzung ging Samantha nun auf eine Weise auf ihn zu, wie noch nie eine Frau auf ihn zugegangen war, stellte die Spitze ihres mit hochhackigen Schuhen bekleideten Fußes auf den Rand seines Stuhls zwischen seine Beine, beugte sich zu ihm und sog an ihrer Zigarettenspitze. Er war überzeugt, den Rauch sehen zu können, den sie seitlich aus ihrem rotgeschminkten Mund entweichen ließ.

»Nun, Honey?« sagte sie, und das war nicht Samanthas Stimme. Die Stimme dieser Frau war tiefer, rauh, und sehr, sehr provozierend - die Stimme einer Sirene, die imstande war, Männer in ihren Tod zu locken.

»Samantha?« flüsterte er, und es war ihm peinlich, daß seine Stimme brach wie bei einem Jungen in der Pubertät.

Mit einem schwülen Lachen, das Kathleen Turner alle Ehre gemacht hätte, nahm sie den Fuß wieder vom Stuhl und drehte sich von ihm weg. Als sie sich zur Diele hin entfernte, konnte er die Augen nicht abwenden von ihrem schwingenden Hinterteil und der im sanften Licht der Bodenlampe schimmernden makellosen Haut ihres Rückens.

»Sam«, rief er ihr nach, als sie zu seinem Schlafzimmer zurückging, aber sie drehte sich nicht um. »Maxie-<, flüsterte er und hielt den Atem an, als sie ihn über die Schulter hinweg anlächelte. Es war das Lächeln einer Verführerin - einer Frau, die ihre Wirkung auf Männer sehr genau kannte.

Als Samantha dann im Schlafzimmer verschwand, ließ er den angehaltenen Atem langsam entweichen und rieb sich die Arme. Er hatte nicht nur die Luft angehalten, sondern auch alle Muskeln angespannt. In dem Bemühen, sie wieder zu lockern, ging er zur Verandatür und sah in die Nacht hinaus. Diese Frau, die ihm eben in diesem Zimmer erschienen war, war eine ihm unbekannte Person. Sie war eine Frau mit vielen Geheimnissen, eine Frau, die zu vielem fähig war - und Mike wußte nicht so recht, ob ihm diese Frau sympathisch war. Vielleicht war sie eine Frau, mit der er gern ins Bett gehen würde, da sie aus allen Poren Sinnlichkeit verströmte. Andrerseits wollte er auch lieber nicht mit ihr ins Bett gehen, denn die Frau, die da eben für ihn gesungen hatte, war vermutlich in erotischen Dingen viel erfahrener als er. Es war dieser Typ von Frau, der ihm einen Orgasmus vortäuschen würde, der Liebe für einen Mann heucheln konnte. Sie war der absolute Gegenpol zu Samantha - zu deren Offenheit, Liebenswürdigkeit und Bereitschaft, zu geben, ja, sich zu verschenken.

»Nun?« sagte Samantha da hinter ihm.

Als er sich umdrehte, war sie wieder Samantha mit einem sauber glänzenden Gesicht und ein wenig wirr um den Kopf stehendem Haar, den niedlichen kleinen Körper unter seinem Morgenmantel versteckt. Einem Impuls folgend, ging er zu ihr, schlang die Arme um sie und gab ihr einen herzhaften Kuß auf den Mund. Keinen leidenschaftlichen oder verlangenden Kuß, sondern einen Kuß der Erleichterung, als würde er sie zu Hause willkommen heißen.

»Mike?« fragte sie, »fehlt dir etwas?«

Er hielt sie so fest an sich gedrückt, daß sie kaum Luft bekam, und es dauerte eine Weile, bis er sich soweit erholt hatte, daß er wieder sprechen konnte. Mit einem Lachen, das selbst ihm erzwungen erschien, sagte er: »Du bringst mich noch soweit, daß ich an eine Persönlichkeitsspaltung glaube.« Sie dann von sich weghaltend, daß er ihr Gesicht betrachten konnte, blickte er sie forschend an und fragte: »Ich sollte eher dich fragen, ob dir etwas fehlt. Du warst so .. . anders. Du warst. . .«

» . . . Maxie«, sagte sie. »Ich zog dieses Kleid an und schien mich in diesem Moment in Maxie zu verwandeln. Habe ich ihre Rolle gut gespielt?«

Er zog ihren Kopf an seine Schulter hinunter. »Zu gut. Viel, viel zu gut.«

»Mike - habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe doch nur ein Lied gesungen und dabei ein bißchen - nun - den Vamp herausgestrichen.«

Er wollte seinen festen Griff um sie nicht lockern. »Es war mehr als das. Du hast dich verwandelt - richtiggehend verwandelt.«

»Ein bißchen Verwandlung kann doch nicht schaden.«

Er küßte sie wieder auf den Mund und brachte sie so zum Schweigen. »Sammy, ich möchte nicht, daß du dich verwandelst. Ich mag dich so, wie du bist.«

Während sie sich an ihn schmiegte, war sie sich gar nicht sicher, was ihn denn so an ihr aufgeregt haben könnte. Aber es gefiel ihr, daß er so sehr um sie besorgt war. Und ihr gefiel sein Kompliment. »Mike«, sagte sie leise, »ich mag dich auch.« Erst später erkannte sie das wahre Ausmaß seiner Verstörung, denn als sie zu Bett gingen, versuchte er zum erstenmal nicht, sie dazu zu überreden, die Nacht mit ihm zu verbringen. Und sie mußte lächeln über seine Scheu, es diesmal zu versuchen, als sie sich im Spiegel über der Kommode betrachtete. Vielleicht sollte sie öfters in Maxies Haut schlüpfen. Vielleicht sollte sie nicht eine so berechenbare, so langweilige Frau sein - eine Frau bar aller Überraschungen. Lächelnd strich sie mit der Hand über Maxies Kleid hin, das sie über eine Stuhllehne gehängt hatte, und dann, einem Impuls folgend, zog sie eine Schublade in Mikes Kommode auf, in der sie ihr neues durchscheinendes, weißes Nachthemd versteckt hatte, holte es heraus und zog es an. Maxie würde ein weißes Nachthemd getragen haben, wenn und wann immer sie wollte. Ob es nun weiß war oder schwarz, durchscheinend oder mit Spitzen besetzt, aus Seide oder Baumwolle, hochgeschlossen oder so winzig, daß man mehr Haut als Stoff sah - Maxie würde jedes Nachthemd der Welt getragen haben, wenn sie das wollte.