25

Als Samantha am Morgen aufwachte, hatte sie höchstens eine Stunde geschlafen, fühlte sich jedoch so gut wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie mußte sich erst unter Mike hervorarbeiten, seine vom Schlaf schweren Arme und Beine von ihrem Körper wegheben, um aus dem Bett steigen zu können. Sie borgte sich seinen Bademantel aus, der innen an der Badezimmertür am Haken hing, streifte ihn über und wollte schon das Zimmer verlassen, als sie doch noch einmal umkehrte, sich neben das Bett stellte und auf Mike hinunterblickte, der, die Glieder auf dem Laken von sich gestreckt, ruhig und entspannt schlief.

Ihr Leben hatte sich nun verändert. Für immer und unwiderruflich verändert.

Diese Nacht mit Mike hatte sie verändert, hatte sie innerlich so frei gemacht wie nie zuvor in ihrem Leben. Und während sie auf ihn hinunterlächelte, wurde ihr bewußt, daß ihre Verwandlung bereits in dem Moment begonnen hatte, als sie Mike kennenlernte. Die verklemmte, verschüchterte kleine Maus, die zum erstenmal in einem Taxi gefahren war, hatte sehr wenig oder gar nichts mehr mit dieser Frau gemeinsam, die mit Mike heute nacht die unglaublichsten Sachen angestellt hatte.

Seltsam, daß sie sich bei Mike ganz anders benehmen konnte als bei ihrem Ex-Mann. Richard hatte es nie leiden können, wenn sie zu laut lachte oder ihm zu überschwenglich war, sei es, daß sie sich nun über eine Gehaltserhöhung freute, oder für ein Buch begeisterte, das sie gerade las, oder für sonst etwas. Vielleicht hatte Mike recht, wenn er meinte, daß Richard ihr so gar nicht >gesetztes< Wesen erschreckt hatte.

Samantha beugte sich einen Moment über das Bett und berührte Mikes Haar. Sie schockierte Mike nicht mit ihrem Benehmen, weil er in sich gefestigt war, sich seiner selbst und seiner Fähigkeiten sicher, und er fand ihre Vitalität eher erfreulich als abstoßend.

Eine seiner Locken ringelte sich um ihre Finger. Sollte es tatsächlich Engel geben, so hatten sie bestimmt solche Locken wie Mike.

Über ihre Sentimentalität lächelnd, verließ sie das Zimmer, um in ihre Wohnung hinaufzusteigen und sich dort aus dem Schrank ein Kleid zu holen.

Als erstes bemerkte sie, als sie oben angelangt war, daß die Tür, die Mike eingetreten hatte, durch eine neue ersetzt worden war. Das fand sie nicht weiter verwunderlich; denn Mike hatte ihr den Austausch der Tür bereits angekündigt. Aber als sie nun ihre Wohnung betrat, glaubte sie, sich in der Tür geirrt zu haben, und wollte schon wieder umkehren. Doch sie konnte sich gar nicht geirrt haben, weil es in diesem Stockwerk gar keine andere Wohnung gab als die ihre.

Nur hatte diese sich inzwischen vollkommen verändert. Zwar hatten die Wände im Wohnzimmer noch ihre dunkelgrünen Tapeten, aber an den Fenstern hingen jetzt Vorhänge aus kremfarbenem, mit großen lachsroten Rosen gemustertem Chintz, die unten mit grünen Bändern gerafft waren. Ein großer, mit dem gleichen Chintz bezogener Klubsessel stand neben einer lachsfarbenen großen Couch, und der Aubusson-Teppich unter der Sitzgruppe rundete mit grünen und pinkfarbenen Schattierungen die Palette des Raumes ab. Hinter der Couch stand ein langer schmaler Tisch aus hellem Holz, dessen Platte und Seitenklappen, mit dem man ihn um das Doppelte verlängern konnte, mit rosenförmigen Intarsien verziert war. Zwei antike schwarze Nähtischchen, deren Oberflächen man das Alter anmerkte, standen an beiden Enden der Couch.

Ganz langsam, als könnte das alles wie ein Traum zerrinnen, falls sie sich zu schnell bewegte, ging sie weiter zum Schlafzimmer und blieb dort, den Atem anhaltend, unter der Tür stehen.

Das Schlafzimmer war eine alle Schattierungen umfassende, von den dunkelsten bis zu den zartesten Farbtönen hinaufreichende Symphonie in Blau. Die Tapeten zeigten ein Streifenmuster aus hellerem und dunklerem Eisblau. Die Vorhänge waren aus dunkelblauer Seide, die schon fast ins Purpur hinüberspielte. In der Mitte des Zimmers stand ein riesiges Vier-Pfosten-Bett, drapiert mit einem hauchzarten Gespinst aus Baumwolle im blassesten Blau, das man sich vorstellen konnte. Als sie an das Bett herantrat und sich den Betthimmel näher ansah, entdeckte sie ein kleines Medaillon in der Mitte, von dem zarte, geraffte Stoffbahnen wie Sonnenstrahlen ausgingen und zum Rahmen des Betthimmels hinliefen. Die Bettdecke bestand aus feiner himmelblauer Baumwolle, die mit einem zarten Muster aus gesteppten Blütenranken überzogen war.

»Gefällt es dir?« fragte Mike hinter ihr.

Sie drehte sich zu ihm, so überwältigt von ihren Gefühlen, daß sie kein Wort sagen konnte. Sie konnte es kaum fassen, daß er das für sie getan - ihr so eine herrliche Überraschung bereitet hatte. Sie sah ihn an, erinnerte sich wieder an die Nacht, die sie in seinen Armen verbracht hatte, und wußte, daß sie nun die Freiheit besaß, ihn anzufassen - ihn jederzeit anzufassen, wann immer sie wollte.

Und so schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihn so fest sie konnte, an sich. »Ich danke dir«, flüsterte sie. »Ich danke dir vielmals.«

»Möchtest du das Bett denn nicht ausprobieren?« fragte er, sie auf den Hals küssend.

Sie lachte. »Ich möchte nicht das wunderschöne Bettzeug zerwühlen.«

»Wir werden vorsichtig sein«, sagte er, nahm sie bei der Hand und führte sie zum Bett.

Als sie gerade hineinsteigen wollte, fiel ihr Blick auf die hübsche blaue Uhr, die auf dem Nachttisch daneben stand. »Mike! Es ist schon Viertel nach neun! Um zehn wollten sie die Möbel im Pflegeheim anliefern.«

»Die werden schon wissen, wo sie sie hinstellen müssen«, meinte Mike und streckte die Hand aus, um sie zu sich aufs Bett hinaufzuziehen.

Aber Samantha wehrte ihn ab. »Wir müssen dort sein, wenn sie die Möbel bringen.«

Mit einem Seufzer legte sich Mike in die mit Spitzen gesäumten Kissen zurück. »Ich gehe nur mit, wenn du versprichst, daß du den Nachmittag mit mir im Bett verbringen wirst.«

»Wenn ich das unbedingt muß«, erwiderte sie mit einem ebenso tiefen, aber müden Seufzer.«

Als Mike sie jetzt packen und gewaltsam auf das Bett hinaufbefördern wollte, flüchtete sie kreischend ins Badezimmer, wo sie wieder, den Atem anhaltend, auf der Schwelle stehenblieb. Das Badezimmer war zwar immer noch mit grünem Marmor verkleidet, aber alles, alles, was man als Zubehör bezeichnen konnte - Schalen, Kremtöpfe, Haken und sogar die Fassungen der Lampen an der Decke und über dem Spiegel - war nun zartrosa. Und die wunderschönen pinkfarbenen Handtücher und das Badetuch an der Stange waren obendrein noch mit dem Monogramm SE bestickt.

Sie drehte sich zu Mike um, nachdem sie die mit kleinen Rosen gemusterte pinkfarbene Tapete an der Decke bewundert hatte: »Wer hat das alles gemacht?«

»Jeanne.«

»Deine Schwester?«

Als er dies mit einem Nicken bestätigte, bestürmte sie ihn mit Fragen, wie seine Schwester das denn in einer so kurzen Zeit habe bewältigen können, wann er das alles veranlaßt hatte und wie er hatte wissen können, daß das alles genau ihrem Geschmack entsprach. Dabei lief sie wieder von Zimmer zu Zimmer und bewunderte nun jedes Detail, während Mike ihr immer dicht auf den Fersen blieb und sich an ihrer Freude weidete.

In der Nacht hatte sie ihm gestanden, daß Blair ihr verraten habe, wie reich er sei. Und nun war er sehr froh darüber, daß das offenbar gar keinen Einfluß auf sie hatte. Jetzt brauchte er keine Geheimnisse mehr vor ihr zu haben, mußte sich nicht mehr in acht nehmen, daß er ihr nichts von dem Familien-Jet erzählte, konnte mit ihr seine Freude teilen, wenn ihn ein günstig eingekauftes Aktienpaket um eine Viertelmillion reicher gemacht hatte. Und jetzt konnte er ihr auch die kleine goldene Uhr kaufen, die sie im Schaufenster bei Tiffany’s bewundert hatte und dann fast in Ohnmacht gefallen war, als sie hörte, wieviel sie kostete.

»Wenn du dich jetzt nicht anziehst«, sagte er, »wirst du die Anlieferung der Möbel versäumen.«

Nachdem sie sich noch einmal mit einem Kuß bei Mike bedankt hatte - was ihr Vorhaben nicht gerade beschleunigte -, rannte Samantha ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Es war dann unten in Mikes Badezimmer, in dem sich ihre Schminksachen befanden, wo sie zu ihm sagte: »Weißt du, was mich wirklich stört an diesem Pflegeheim?«

»Du meinst«, erwiderte Mike, an ihr vorbeilangend, um sein Rasierzeug vom Bord zu holen, »außer daß es dort stinkt, das Personal die Patienten tyrannisiert und die Räume so häßlich sind?«

»Ja. Noch mehr stört mich an diesem Heim, daß es dort nichts zu tun gibt. Ich kann mich nicht erinnern, da irgendwo ein Magazin oder eine Zeitung gesehen zu haben. Wenn man Jubilee in so ein Heim gesteckt und ihm sein Piano weggenommen hätte, wäre er keine achtzig Jahre alt geworden.«

Mike bückte sich, um in den drei Quadratzentimetern Spiegelfläche, die Samantha ihm noch gelassen hatte, den Ausschnitt seines Gesichts betrachten zu können, den er gerade mit dem Rasiermesser bearbeitete. »Wenn du dich beeilst, könnten wir vielleicht noch in der Fifth Avenue eine Lektüre für deine Großmutter kaufen.«

Samantha lachte. »Michael Taggert - soll das eine Bestechung sein, damit ich das Badezimmer räume?«

»Wenn es diese Wirkung haben sollte - ja.«

»Dann lasse ich mich bestechen«, sagte sie, drückte ihm einen Kuß auf die Schulter und huschte hinaus.

Zehn Minuten später betraten sie eine große Buchhandlung auf der Fifth Avenue, wobei Mike zu seiner Überraschung feststellte, daß Samantha nicht nur ihre Angst vor Drehtüren verloren hatte, sondern sie sogar meisterhaft beherrschte.

Im Laden selbst drehte sie sich ein bißchen schüchtern zu ihm um. Er hatte gesagt, sie könnte Magazine kaufen, aber wie viele? Nach ihren zahlreichen Einkaufsausflügen in die Innenstadt hörte sie nun schon diese Maschine an der Kasse höhnisch wiehern, wenn man dort ihre Kreditkarte hineinsteckte. »Oh, Mike«, sagte sie, »wie groß ist eigentlich mein Kredit?«

»In Zeit- oder in Geldeinheiten?«

»Beides.«

Er sah auf seine Uhr und sagte. »Du darfst alles kaufen, was du in zwölf Minuten und sechs Sekunden zur Kasse schleppen kannst.«

»Zwölf Komma sechs Minuten?«

»Jetzt sind es zwölf Komma vier.«

Samantha hatte einmal gelesen, es wäre am Morgen nach der Hochzeitsnacht, wo die Frauen ihre größten Fehler machten. In dem Bemühen, ihren frisch angetrauten Gatten eine Freude zu bereiten, machten sie ihnen das Frühstück und servierten es ihnen im Bett, weil sie meinten, dieser Morgen sei etwas Besonderes, und so etwas würden sie nur an einem >besonderen< Morgen machen. Der Mann hingegen verstand dieses Frühstück im Bett als Hinweis darauf, was es für den Rest ihres Ehelebens erwarten durfte, und war deshalb in den darauffolgenden Jahren arg enttäuscht, wenn er sein Frühstück regelmäßig am Tisch einnehmen mußte.

Es war ja nun nicht so, als ob sie gestern geheiratet hätten, aber sie hatten immerhin ein nächtliches Zusammensein gehabt. Und Mike schaute sie jetzt nicht mehr mit diesen lüstern-begehrlichen Augen an, sondern so, als wäre er - nun - ihr Ehegatte. Gönnerhaft. Und das gefiel ihr nicht. Zweifellos erwartete er von ihr, daß sie ein oder zwei Bücher kaufte und vielleicht noch fünf oder sechs Illustrierte, worauf er auf eine väterliche Weise lächeln und so etwas Ähnliches sagen würde wie: »Bist du jetzt zufrieden?«

Samantha lächelte ihn an. Sie würde ihm zeigen, daß sie sich nicht wie die Braut benahm, die ihrem Mann das Frühstück ans Bett brachte. Und sie wollte diesen Einkauf auch zu einer Lektion für ihn machen. Er war reich genug, um für diese Lektion auch bezahlen zu können.

»Okay, Mr. Goldschatz, ich verlasse mich auf Ihr Wort«, sagte sie, eine Braue herausfordernd in die Höhe ziehend, ehe sie sich rasch zu dem Angestellten an der Kasse umdrehte: »Ich brauche zwei große Einkaufstüten, und zwar schnell

Der gelangweilte junge Mann am Kassenschalter gab ihr, was sie verlangte.

Samantha eilte nun zuerst zu den Regalen mit den Kriminalromanen, da sie sich in dieser Sparte ziemlich gut auskannte. Mit beiden Armen raffte sie dort alle Werke von Nancy Pickard, Dorothy Cannell und Elizabeth Peters zusammen und ließ sie in die Einkaufstaschen fallen, die aufnahmebereit vor ihren Füßen standen.

Vor dem Regal mit den Science-fiction-Titeln, das sich unmittelbar neben den Kriminalromanen befand, stand ein großgewachsener, gut gekleideter Mann, der so tat, als bemerkte er nicht, was sie da neben ihm tat. Nun hatte Samantha aber in der Zeit, die sie in dieser Stadt lebte, bereits die Erfahrung gemacht, daß die New Yorker zwar gern den blasierten Kosmopoliten herauskehrten, der alles gesehen hatte und dem man nichts mehr vormachen könne, während sie in Wahrheit geradezu süchtig waren auf Neuigkeiten. Stets auf der Suche nach etwas, das man ihnen bisher noch nicht geboten hatte, achteten sie immer auf ihre Nachbarn und alles, was gerade in ihrer Umgebung geschah. Ein New Yorker war, wie Samantha fand, in das Ungewöhnliche geradezu vernarrt, nur mußte man sich schon mächtig anstrengen, um dem New Yorker etwas bieten zu können, was er als ungewöhnlich erachtete.

Als dieser Mann nun bemerkte, daß Samantha in fieberhafter Eile ganze Regalbretter abräumte, fragte er: »Ist das ein Leserwettbewerb?« Die Neugierde siegte bei einem New Yorker stets über seine guten Manieren.

»So etwas Ähnliches«, erklärte ihm Samantha. »Ich vertrete hier ein Altenpflegeheim, und ich kann alle Bücher behalten, die ich innerhalb von zwölf Minuten einsacken kann.«

Da leuchtete das Gesicht ihres Nachbarn auf. »Dürfen andere Ihnen dabei helfen?«

»Natürlich«, erwiderte Samantha. Mike hatte ihr nicht gesagt, daß andere ihr dabei nicht helfen dürften.

»Ich könnte für Sie ein paar gute Science-fiction-Titel heraussuchen und meine Frau die Bücher, die auf der Bestseller-Liste stehen.«

Es dauerte keine vier Minuten, bis die gesamte Kundschaft des Ladens wußte, daß hier eine Lady an einem Wettbewerb teilnahm, wollte jeder ihr helfen. Zwei große junge Schwarze mit Rasiermesser-Haarschnitt - einer der beiden hatte ein Z auf der linken Schläfe - fragten, ob auch Magazine unter die Wettbewerbsregeln fielen, und Samantha antwortete: »Ja, alle.« Da machten die beiden ein Gesicht, als hätten sie den Jackpot gewonnen. Sie klatschten in die Hände und liefen zu dem Stand mit den Illustrierten, der eine ganze Wand im Laden einnahm.

Ein Mann, der von zwei Kindern begleitet war, bot sich an, Spiele für sie herauszusuchen, eine Frau wollte ihr bei den Hörspielkassetten behilflich sein, und ein etwas schmuddeliger Typ mit Videos.

Als die zwölf Minuten um waren, bremste Samantha, die Arme voller Frauenromane, vor dem Schalter ab, wo die Waren verpackt wurden und die Angestellten, die das besorgten, hinter den Stapeln und Bergen von Büchern, Magazinen, Spielen und Kassetten gar nicht mehr zu sehen waren. Einen Moment beschlich sie ein mulmiges Gefühl, aber sie war entschlossen, keinen Rückzieher zu machen.

»Wollen Sie das alles mitnehmen?« fragte die Substitutin, die in dieser Abteilung die Aufsicht führte, mit weit aufgerissenen Augen. Als Samantha - nicht zu Mike hinsehend, der den Vorgang ungläubig beobachtete - nickte, sagte die Substitutin, da müsse sie den Manager holen.

Als sich der Manager im Kassenraum einfand, war die gesamte Kundschaft, wovon der Großteil sich aktiv an dem Einkauf beteiligt hatte, um den Kassenschalter versammelt und wartete mit andächtigen Gesichtem auf das Ergebnis des Wettkampfs.

»Ich hoffe, Sie können das auch alles bezahlen«, sagte der Manager im strengen Ton.

Samantha nickte. Als der junge Mann an der Kasse jedoch das oberste Buch vom ersten Stapel nahm und ihn über das elektronische Auge halten wollte, rief Samantha laut: »Warten Sie!«, und alle hielten den Atem an. Würde Samantha jetzt etwa kalte Füße bekommen?

»Wieviel Prozent Rabatt wollen Sie mir dafür geben?« fragte Samantha den Manager.

In diesem Moment brachen die hier anwesenden New Yorker in einen donnernden Applaus aus, weil sie in Samantha eine Eingeborene zu erkennen glaubten. Und nach einer teilweise hitzig geführten Debatte, an der sich mehrere Personen beteiligten, einigte man sich auf einen Nachlaß von zwölfeinhalb Prozent.

Nachdem alles, was sich da auf dem Schalter türmte, von der Kasse registriert und von Mike mit seiner Kreditkarte bezahlt worden war, halfen die Leute Samantha noch, die vielen Tüten auf die Straße hinauszutragen, wo sie in ein Taxi verladen werden sollten. Sie hatten jedoch das Mißgeschick - oder Glück - einen eingeborenen New Yorker Taxichauffeur anzuhalten, der ihnen sagte, er könne nicht dieses ganze Zeug in sein Vehikel einladen. Nun gibt es nichts, was ein New Yorker mehr liebt als eine kontrovers geführte Diskussion. Touristen fingen an, von diesen leibhaftig echten New Yorkern Fotos zu machen, die sich mitten in der Stadt auf dem Bürgersteig stritten. Sie hatten zwar davon gehört, daß so etwas in New York Vorkommen sollte, aber ihre Mütter hatten ihnen beigebracht, daß man sich immer nur in seinen vier Wänden streiten dürfe.

»Ich habe es geschafft«, sagte Samantha zu Mike, als sie schließlich im Taxi unter sich waren. »Unter sich« durfte man in diesem Fall allerdings nur mit Einschränkungen gelten lassen, denn bisher war noch nie ein mit festem Verdeck versehener Personenwagen so mit Waren vollgestopft gewesen wie dieses Taxi. Samantha hatte zwei Einkaufstüten auf dem Schoß, vier unter den Beinen und zwei im Rücken. Eine Judith-McNaught-Kassette lugte aus ihrer Handtasche - sie hatte gedacht, daß sie sich diese erst einmal selbst anhören sollte, bevor sie sie weitergab — und machte sich während der Fahrt ein paarmal schmerzhaft im Bereich ihrer linken Niere bemerkbar. »Exakt in zwölf Minuten ohne eine Sekunde Zeitüberschreitung.«

Mike studierte die endlosen Papierschlangen aus der Registrierkasse. »Zwölf Minuten, um den halben Laden zu plündern und das Zeug zur Kasse zu schleppen, elf Minuten, um im Stil eines ägyptischen Kameltreibers mit dem Manager um den Rabatt zu feilschen, siebzehn Minuten, um mit Hilfe von fünf Angestellten, vier Rollen Papier und drei Registrierkassen den Verkaufspreis zu ermitteln und noch einmal dreizehn Minuten, um die Ware im Taxi zu verladen, wobei mir halb New York Anweisungen gab, wie ich das machen sollte. Ja, Sam, wir liegen genau in der Zeit.«

Sich über ihre zwei Einkaufstüten beugend, die ihren Schoß belasteten, sah sie ihn lächelnd an: »Bist du mir deswegen böse?«

»Nein«, erwiderte er ehrlich und tätschelte ihre Wange. Der gönnerhafte Blick war inzwischen wieder durch den begehrlich-lüsternen ersetzt worden.

Immer noch lächelnd, lehnte sich Samantha gegen die beiden Taschen im Rücken. Es sah nicht so aus, als würde Mike sie als das kleine fügsame Ding betrachten, das ihm das Frühstück ans Bett brachte.

Da die Möbelpacker sich auch nicht an den Zeitplan gehalten hatten, trafen Samantha und Mike nur zwanzig Minuten nach ihnen im Pflegeheim ein. Als sie in Maxies Zimmer kamen, saß diese im Bett und erteilte den schwitzenden robusten jungen Männern Anweisungen, wo sie die Möbel hinstellen sollten, während ein Arzt ein Stethoskop an ihre Brust hielt, um ihren Herzschlag zu überwachen.

»Lady«, sagte einer der jungen Männer zu ihr, »wir haben Sie schon einmal darauf hingewiesen, daß wir nur fürs Möbeltragen, aber nicht für das Aufhängen von Bildern bezahlt werden.«

»Nun, Nana«, sagte Samantha, als sie über die Schwelle trat, »mir scheint, du hast hier alles unter Kontrolle.« Sie küßte Maxie auf die Wange, während der Arzt sein Stethoskop einpackte. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, begann Samantha ihr zu erzählen, was Mike mit ihrer Wohnung gemacht, wie viele Bücher und Magazine er eingekauft und was er auf dem Weg hierher alles gesagt hatte.

Mike hatte mit dem Arzt das Zimmer verlassen und fragte ihn: »Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend«, erwiderte der Arzt und grinste. »Aber sie ist jetzt glücklich in diesem Heim. Ich wünschte mir, alle meine Patienten hätten zwei so gute Geister wie Sie und die Lady. Aber geben Sie ihr nicht zu viel Schnaps, okay?«

»Heute haben wir Schokolade für sie mitgebracht.«

»Gut«, erwiderte der Arzt und wurde dann ernst. »Ich hoffe, Ihre Frau ist auf Abbys Tod vorbereitet.«

»Ja, Sam ist darauf vorbereitet«, erwiderte Mike ebenso ernst. »Sie hat viel Übung in dieser Hinsicht - sehr viel Übung.«

*

Es war drei Stunden später, daß das Telefon auf dem Nachttisch neben Samanthas großem neuen Vier-Pfosten-Bett zu läuten anfing und Mike den entsprechenden Knopf drückte, als er merkte, daß das Gespräch auf seiner Leitung kam. Nachdem er Samanthas Fußknöchel von seinem Ohr genommen und diesen durch den Hörer ersetzt hatte, sagte Mike: »Hallo?«

»Michael, bist du es?«

»Mama! Tut gut, deine Stimme zu hören. Du klingst so nahe!«

So rasch wie die Tochter eines Pfarrers, die man nackt mit einem Meßknaben in der Sakristei erwischt hatte, löste sich Samantha jetzt von Mike, setzte sich kerzengerade auf und zog die Decke züchtig bis ans Kinn hinauf.

»Oh, Himmel, nein«, sagte Mike bestürzt, und als er dann zu Samantha blickte und sah, daß sie ganz blaß wurde im Gesicht - als hätte sie gerade gehört, daß jemand gestorben sei -, legte er rasch die Hand über die Hörmuschel. »Meine Familie ist nach New York gekommen, um dich kennenzulernen!« flüsterte er.

Samantha brauchte gut drei Sekunden, um zu begreifen, was das bedeutete. Dann sank sie stöhnend auf das Bett zurück. Fast wünschte sie sich, es wäre eine Todesnachricht gewesen.

»Wieviel seid ihr?« fragte Mike und legte dann eine Pause ein. »Oh? So viele!« Pause. »Ist Dad auch mitgekommen?« Pause. »Fein, nein, es ist gut, wenn ich euch alle sehe, und ich bin sicher, daß die Kinder sich nicht langweilen werden.« Mikes Bestürzung verwandelte sich in nacktes Entsetzen. »Nun sage bloß nicht, Frank wäre auch mitgekommen! Wie? Ja? Doch, ich freue mich schon, ihn wiederzusehen, und .. . Nein, Raine hat keinen Kratzer an seinen kostbaren Wagen gemacht.« Pause. »Sam? Oh, die sitzt hier bei mir.«

Samantha sah, wie Mike ganz rot wurde im Gesicht.

»Mutter! Ich bin schockiert von dir. Okay, okay, wir werden da sein, sobald wir uns ange ... äh ... sobald wir können.« Samantha konnte Mikes Mutter lachen hören, als er den Hörer auflegte.

Einen Moment lagen sie beide auf dem Bett, ohne sich zu berühren, und starrten zum Betthimmel hinauf.

»Warum?« flüsterte Samantha.

Mike rollte sich auf die Seite und fuhr mit dem Zeigefinger über Samanthas nackten Bauch. »Ich sagte es dir doch eben. Weil sie dich kennenlernen wollen.«

»Und weshalb wollen sie mich kennenlernen? Was hast du von . . . uns erzählt? Hast du ihnen gesagt, daß wir . .. daß wir . . .?«

Mike grinste sie an. »Einer der wichtigsten Gründe, die mich dazu bewegt haben, Colorado zu verlassen, waren solche Anrufe wie dieser eben. Aber es hat mir wenig genützt, daß ich nach New York gekommen bin; denn sie scheinen noch immer alles über mich zu wissen. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe ihnen nichts von uns gesagt, aber ich bin sicher, daß Raine das getan hat, und Blair und Jeanne und Vicky. Ich weiß gar nicht, warum ich Colorado überhaupt verlassen habe; denn es scheint ja einen regelmäßigen Gedankenaustausch der Taggerts mit den New Yorker Montgomerys zu geben.«

Samantha rollte zu ihm hin. »Mike, ich habe Angst. Wenn sie mich nun nicht mögen?«

»Aber warum sollten sie dich nicht mögen? Ich mag dich doch auch.«

»Aber du hast ja auch mit mir ins Bett gehen wollen.«

»Was soll das nun wieder heißen? Daß ich jede Frau, die ich hübsch und sexy finde und mit der ich ins Bett gehen will, auch mögen muß?«

»Wie, in aller Welt, kannst du eine Frau, die du hübsch und sexy findest und mit der du ins Bett gehen willst, nicht mögen? Wie kannst du nur das eine vom anderen trennen wollen?«

Mike zuckte mit den Achseln, was in der männlichen Körpersprache bedeutete: >Ich weiß es nicht und möchte auch nicht darüber nachdenken.<

Samantha stieg aus dem Bett. »Was soll ich jetzt anziehen? Das pinkfarbene Chanel-, das rote Valentino oder das graue Dior-Kostüm?«

»Jeans. Sie sind im Central Park und veranstalten dort ein Picknick. Es sind mehr als hundert von ihnen dort versammelt.«

Samantha setzte sich daraufhin mit einem lauten Plumps wieder hin. Es wäre schön gewesen, wenn dort, wo sie sich hinsetzte, ein Stuhl gestanden hätte. Das war aber nicht der Fall.

Mike schob den Kopf über den Bettrand und sah auf Sam hinunter, die splitternackt mit gegrätschten Beinen auf dem Fußboden saß. »Möchtest du auch noch Gästeschlafzimmer ausprobieren, ehe wir gehen?«

Samantha stöhnte laut.

»Nun komm schon, Sammy-Mädchen, wie schlimm kann es denn schon werden! Es sind doch nur hundert Personen, die dich in Augenschein nehmen und dir verfängliche Fragen stellen wollen. Meine Mutter möchte natürlich gern wissen, ob du auch dafür geeignet bist, mit ihrem kostbaren Sohn unter einem Dach zu wohnen, aber die anderen Frauen werden dich nur stumm von Kopf bis Fuß anschauen. Und mein Vater . . .«

In diesem Moment traf ihn das Kissen im Gesicht, das sie vom Boden aufgehoben hatte.