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New York April 1991

Keine Viertelstunde, nach dem Samantha Elliot in New York gelandet war, wurde ihr die Brieftasche gestohlen. Sie wußte, es war ihre eigene Schuld, denn sie hatte in ihre Handtasche gegriffen, um ein Papiertaschentuch herauszuholen, und dann vergessen, den Reißverschluß wieder zuzumachen, so daß der Dieb nur die Hand hineinzustecken und die Brieftasche herauszuziehen brauchte. Damit war sie ihre MasterCard, ihre American-Express-Kreditkarte und den größten Teil ihres Bargeldes los. Wenigstens war sie so vernünftig gewesen, hundertfünfzig Dollar in ihrer Reisetasche zu verstauen, so daß sie nicht ohne einen Cent dastand.

Nachdem Samantha den Diebstahl entdeckt hatte, fiel ihr ein, daß sie - für sie eine brandneue Erfahrung - ihre Kreditkarten sperren lassen mußte. Alles, was sie bisher erlebt hatte, war für sie traumatisch: ihr erster Aufenthalt in der großen bösen Stadt New York, ihre Begrüßung durch einen Taschendieb und die Notwendigkeit, ihre Kreditkarten sperren zu lassen. Für die gelangweilte junge Frau hinter dem Schalter waren das alles Dinge, die sie fünfzigmal am Tag erlebte. Sie händigte Samantha ein paar Formulare aus, die sie ausfüllen sollte, deutete auf eine Liste mit den Telefonnummern der Kreditkarten-Gesellschaft an der Wand und erklärte, daß sie diese anrufen müsse. Während Samantha telefonierte, lackierte sich die junge Frau die Nägel, führte mit ihrem Freund ein Ferngespräch und sagte ihrer Kollegin, was sie zum Lunch haben wolle - alles zur gleichen Zeit. Samantha versuchte der jungen Frau mitzuteilen, daß ihr soeben eine Brieftasche abhanden gekommen sei, die früher ihrer Mutter gehört habe und die ein Innenfutter aus Leder aufwiese mit einem Prägemuster, das ihr Vater psychedelisch genannt hatte. Die junge Frau sah Samantha jedoch nur mit leeren Augen an und sagte »Ja, gewiß«. Wenn diese Frau nicht soeben bewiesen hätte, daß sie intelligent genug war, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen, würde Samantha aus ihrem Augenausdruck geschlossen haben, daß sie unrettbar verblödet sei.

Als Samantha dann die Abteilung für Fundsachen verließ, hatte man ihren Koffer in einen Raum mit einer dicken Glastür eingesperrt, und sie mußte erst einen Wachmann finden, der ihr diese Tür öffnete - keine geringe Tat, denn niemand, den sie ansprach, wußte, wer den Schlüssel zu diesem Raum besaß. Überhaupt schien niemand zu wissen, daß dieser verschlossene Raum überhaupt existierte.

Als sie dann endlich wieder im Besitz ihres Koffers war und, die Bordtasche über die Schulter gehängt, diesen hinter sich herzerrte, zitterte sie am ganzen Körper vor Erschöpfung und Frustration.

Nun mußte sie sich nur noch ein Taxi besorgen - es würde die erste Taxifahrt ihres Lebens sein um vom Flugplatz in die Innenstadt zu gelangen.

Eine halbe Stunde später befand sie sich in dem schmutzigsten Automobil, das sie bisher gesehen hatte. Es stank so furchtbar nach Zigarettenrauch, daß sie glaubte, ihr müsse übel werden. Als sie das Fenster herunterdrehen wollte, mußte sie feststellen, daß die entsprechenden Kurbeln an beiden Türen fehlten. Sie hätte den Chauffeur

gern darauf angesprochen, aber sein Name, der auf dem Papier unter dem Taxometer stand, setzte sich vorwiegend aus den Buchstaben »X« und »K« zusammen, und er verstand offenbar nicht sehr viel Englisch.

Als sie aus den schmutzigen Seitenfenstern des Taxis blickte und sich dabei bemühte, so wenig wie möglich zu atmen, machte sie den untauglichen Versuch, an nichts zu denken - nicht daran, wo sie jetzt war, warum sie dort war und wie lange sie wohl an diesem Ort bleiben mußte.

Das Taxi fuhr unter einer Brücke hindurch, die aussah, als müßte sie wegen Einbruchsgefahr gesperrt werden, dann durch Straßen mit unzähligen winzigen Läden mit schmutzigen Fenstern. Als der Chauffeur Samantha zum drittenmal nach der Adresse fragte, wiederholte sie diese freundlich, da sie ihre Frustration nicht auf ihn übertragen wollte. Aus dem Mietvertrag hatte sie ersehen, daß die Wohnung sich in einem Backsteinhaus in den East Sixties zwischen Park und Lexington Avenue befand.

Als der Chauffeur die Fahrt verlangsamte und nach der Hausnummer suchte, befanden sie sich in einer Straße, die ruhiger und nicht so verlottert zu sein schien wie die Straßen in den Bezirken, durch die sie bisher gefahren waren. Nachdem das Taxi angehalten hatte, bezahlte sie den Chauffeur, wobei sie rasch das erforderliche Trinkgeld im Kopf auszurechnen versuchte, und hob dann ihre beiden Gepäckstücke aus dem Wagen, ohne seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Sie betrachtete das Gebäude, vor dem sie nun stand. Es hatte fünf Stockwerke und in jeder Etage nur zwei Fenster. Aber es war ein sehr hübsches Haus mit einer hohen Vortreppe, die zu einer von einem fächerförmigen Oberlicht gekrönten Tür hinaufführte. Eine Glyzine mit purpurroten Blütenknospen, die jeden Moment aufbrechen konnten, rankte sich an der linken Seite des Hauses bis zum Dach hinauf.

Samantha drückte auf den Klingelknopf. Niemand kam an die Haustür. Auch nicht, als sie bereits dreimal geklingelt und eine Viertelstunde gewartet hatte.

»Natürlich«, sagte sie laut zu sich selbst und setzte sich dann auf ihren Koffer. Hatte sie etwa erwartet, daß der Hausbesitzer daheim sein würde, um ihr den Schlüssel zu übergeben? Nur weil sie ihm in einem Brief ihre Ankunftszeit in New York mitgeteilt hatte, bedeutete das noch lange nicht, daß er sich auch verpflichtet fühlte, daheim zu bleiben, um ihr die Haustür öffnen zu können. Was kümmerte es ihn schon, daß es sie nach einem Duschbad verlangte und nach einer Sitzgelegenheit, die sich nicht von der Stelle bewegte?

Als sie so auf ihrem Koffer saß und auf den Mann wartete, der ihr die Schlüssel übergeben sollte - wobei sie sich fragen mußte, ob er überhaupt kommen würde überlegte sie, was sie in einer so großen Stadt wie New York ohne eine Bleibe anfangen sollte. Sollte sie sich ein Taxi zu einem Hotel nehmen und dort die Nacht verbringen? Sollte sie den Anwalt ihres Vaters veranlassen, ihr telegrafisch noch etwas Geld anzuweisen, bis sie Gelegenheit fand, in New York ein Bankkonto zu eröffnen?

So verstrichen wieder einige Minuten, ohne daß jemand kam, um ihr die Haustür zu öffnen, oder sie von den Passanten jemand beachtete. Zwar lächelten zwei vorbeikommende Männer zu ihr hinauf, aber sie blickte betont in eine andere Richtung.

Während Samantha auf der Vortreppe saß, entdeckte sie nach einer Weile, daß sich da noch eine Tür an der Vorderseite, und zwar auf der Höhe des Bürgersteiges, befand. Vielleicht war ja das der richtige Eingang und sie mußte nur dort anklopfen, damit ihr geöffnet wurde.

Sie wußte nicht, ob es gefährlich war, ihr Gepäck unbewacht auf der Vortreppe stehenzulassen, beschloß jedoch, dieses Wagnis einzugehen. Zu Gott betend, daß man es ihr nicht stehlen möge, ging sie die Vortreppe hinunter um einen hübschen, mit Spitzen versehenen schmiedeeisernen Zaun herum, um mehrmals an die Tür zu klopfen. Doch nichts regte sich im Haus.

Sie holte tief Luft und blickte, die Hände zu Fäusten ballend, zurück auf ihr Gepäck, das unberührt oben auf der Treppe stand. Sie sah sich um und entdeckte neben der Tür im Erdgeschoß einen Kasten mit roten Geranien. Der Anblick der Blumen brachte sie zum Lächeln. Zumindest diese Blumen schienen glücklich zu sein. Sie waren gepflegt, wiesen nicht ein welkes Blatt auf, und die Erde darunter war feucht, aber nicht naß, und die Stämmchen waren voller Blüten.

Immer noch lächelnd machte sie sich auf den Rückweg zur Vortreppe. Als sie um den Zaun herumging, flog ein Fußball so knapp an ihrem Kopf vorbei, daß sie ihn unwillkürlich einzog. Und als dieser Fußball von einem männlichen Wesen verfolgt wurde, das offenbar ein paar hundert Pfund wog und mit kurzen Baumwollshorts und einem Sweatshirt bekleidet war, dessen Armlöcher bis zur Taille hinunter aufgerissen zu sein schienen, preßte sich Samantha flach gegen die Seitenwand der Vortreppe und versuchte, diesem Mann auszuweichen. Aber sie war nicht schnell genug. Er fing den Fußball in dem Bruchteil einer Sekunde, als er über ihren Kopf hinwegsegelte, und nahm sie erst erschrocken in dem Moment wahr, als er im Begriff war, auf sie zu fallen. Sofort ließ er den Fußball los und griff mit beiden Händen nach ihr, ehe sie mit ihrem ganzen Gewicht auf die Spitzen des Zaunes fallen konnte.

Sie schnappte erschrocken nach Luft, als sie das Gleichgewicht verlor, aber dann spürte sie, wie er sie an sich zog, um sie zu schützen.

Einen Moment lang stand sie, von seinen Armen umfangen, da. Er war um einiges größer als sie mit ihren einszweiundsechzig, mochte vielleicht einsachtzig sein, aber da er sich, um ihren Sturz zu verhindern, nach vom beugte, befanden sich ihre Köpfe fast auf gleicher Höhe. Die Vortreppe hinter sich, die gemauerte Freitreppe des Nachbarhauses nur wenige Meter entfernt vor sich, den Zaun und den Blumenkasten unmittelbar neben sich, waren sie hier so gut wie von der Außenwelt abgeschnitten. Samantha wollte sich gerade bei dem Mann für seine Hilfe bedanken, doch als sie ihn ansah, vergaß sie, was sie hatte sagen wollen.

Er war ein ungewöhnlich gutaussehender Mann mit schwarzem gelocktem Haar, dichten schwarzen Brauen, dunklen Augen mit Wimpern, auf die jede Frau neidisch gewesen wäre - und dies alles über einem Mund mit vollen Lippen, die aussahen, als gehörten sie zu einer Skulptur von Michelangelo. Man hätte seinem Gesicht sogar etwas Feminines bescheinigen können, wenn seine Nase nicht ein paarmal gebrochen, sein Kinn nicht von einem drei Tage alten Stoppelbart bedeckt gewesen wäre und der feingemeißelte Kopf nicht auf einem Körper gesessen hätte, der vor Muskeln nur so strotzte. Nein, er hatte nichts Weibliches an sich. Alle langen Wimpern dieser Welt könnten nichts daran ändern, dachte sie bei sich, daß dieser Mann eine hundertprozentig männliche Erscheinung war. Tatsächlich strahlte er eine Männlichkeit aus, daß sich Samantha in seinen Armen so klein und hilflos vorkam, als trüge sie meterlange lavendelfarbene Spitzen. Er roch sogar männlich, aber nicht auf diese künstliche Weise, die man in jeder Drogerie kaufen konnte, sondern nach reinem Männerschweiß, ein bißchen Bier und nach bronzefarbener, von Sonne und körperlicher Tätigkeit erhitzter Haut.

Aber es war der Mund dieses Mannes, der sie besonders faszinierte. Er hatte den schönsten Mund, den sie jemals an einem menschlichen Wesen gesehen hatte. Er war voll, wie gemeißelt, wirkte hart und weich zugleich, und sie vermochte den Blick nicht von ihm abzuwenden. Als sie sah, daß diese Lippen sich auf ihre zubewegten, wich sie ihnen nicht aus. Er legte seinen Mund auf ihren, sachte zuerst, als würde er sie um Erlaubnis fragen, und Samantha, ihrem Instinkt, einem Verlangen und noch etwas, das weitaus ursprünglicher war, gehorchend, öffnete leicht ihre Lippen, und er drückte seinen Mund jetzt noch fester auf den ihren. Und wenn ihr Leben davon abgehangen hätte: Es war ihr unmöglich, ihre Lippen von diesem warmen, frischen Mund zu lösen. Doch als sie nun eine Hand zu einem halbherzigen Protest hob, berührte sie mit den Fingern seine Schulter. Noch nie hatte sie so eine Schulter wie diese unter ihrer Hand gespürt. Harte, feste, runde Muskeln wölbten sich auf seinem Oberarm, und ihre Finger gruben sich dort in das elastische Fleisch.

Als sich ihre Finger über seinen Arm schlossen, rückte er dichter an sie heran, preßte seinen großen, harten, schweren Körper gegen den ihren und hielt sie damit an der Mauer fest. Samanthas Hand glitt auf seinen Rücken, schob sich unter den Saum seines kurzen Shirts und kam dort mit den Konturen seiner Muskeln in Berührung.

Ein Stöhnen entrang sich ihren Lippen, und ihr Körper sank langsam gegen den seinen.

Er legte die eine seiner beiden großen Hände hinter ihren Kopf, drehte sie zur Seite und begann sie mit all der Leidenschaft zu küssen, die sie bisher in ihrem Leben vermißt hatte. Er küßte sie auf eine Weise, von der sie stets geträumt hatte - so, wie sie schon immer hatte geküßt werden wollen, wie man es von einem Märchen erwartet und sollte man den Büchern glauben, wie ein Kuß zu sein hatte - so, wie noch keiner bisher sie geküßt hatte.

Als er einen seiner großen muskulösen Schenkel zwischen ihre kleineren schob, legte Samantha ihm beide Hände um den Nacken und zog ihn näher an sich - so nah, wie es überhaupt nur möglich war.

Da löste er ihren Mund von dem ihrem und küßte ihren Hals und ihre Ohrläppchen, während seine Hände sich auf ihrem Rücken nach unten bewegten. Er wölbte seine Hände um ihr Gesäß und drehte sie so, daß die Hauptlast ihres Gewichts auf seinem Schenkel ruhte. Dann tastete er mit einer Hand an ihrem Bein entlang und zog es nach oben, bis es an seiner Taille landete.

»He, Mike, du lockst eine Menge Zuschauer an.«

Samantha hörte diese Stimme zunächst nicht, sie hörte gar nichts, sie fühlte nur.

Es war der Mann, der sich nun von ihr löste. Er nahm den Mund von ihrer Haut, legte eine Hand auf ihre Wange und liebkoste diese mit dem Daumen, während er ihr lächelnd in die Augen blickte.

»He, Mike, ist das deine schon seit langem verschollene Kusine oder jemand, den du von der Straße aufgelesen hast?«

Sich vorbeugend, gab der Mann Samantha noch einen leichten Kuß auf den Mund, schob ihr Bein von seiner Taille herunter und hielt ihre Hand fest.

Es geschah in dem Augenblick, als der Mann sich von ihr wegbewegte, daß Samanthas Denkvermögen wieder einsetzte. Und das erste, was sie nun empfand, war Entsetzen - blankes, absolutes Entsetzen über das, was sie soeben getan hatte. Sie versuchte, dem Mann ihre Hand zu entreißen, doch der hielt sie eisern fest.

Drei verschwitzte Männer standen vor ihnen, die aussahen, als würden sie Zigaretten in den aufgerollten Ärmeln ihrer T-Shirts bei sich tragen und Bier zum Frühstück trinken. Und alle drei hatten ein freches, lüsternes Grinsen im Gesicht, als wüßten sie etwas, das sie eigentlich nicht wissen durften. »Willst du sie uns denn nicht vorstellen, Mike?«

»Klar doch«, erwiderte der Mann, der Samanthas Hand noch immer festhielt, obwohl sie sich immer wieder heftig bemühte, ihm diese zu entziehen. »Es freut mich, euch ...«, begann der Mann, drehte sich dann um und blickte Samantha fragend an.

Samantha sah von ihm weg. Sie wollte ihm nicht noch einmal ins Gesicht schauen. Sie brauchte keinen Spiegel, der ihr sagte, daß ihr eigenes Gesicht vor Scham glühte.

»Samantha Elliot«, gelang es ihr zu flüstern.

»Oh, tatsächlich?« sagte der Mann, der ihre Hand festhielt, sah dann auf die drei Männer, die sich nun gegenseitig mit den Ellenbogen anstießen in der Gewißheit, daß Mike die Frau gar nicht kannte, die er noch vor Sekunden so heftig geküßt hatte, als habe er sich vorgenommen, sie zu verschlingen.

»Es freut mich, euch meine Mieterin vorstellen zu können«, sagte der Mann neben Samantha mit einem Grinsen. »Sie wird von jetzt ab bei mir in meinem Haus wohnen.« Stolz und Entzücken waren deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.

Mit einem letzten, heftigen Ruck gelang es Samantha nun endlich, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien. Sie hätte nicht geglaubt, daß ihre Verlegenheit noch hätte zunehmen können, aber als ihr nun bewußt wurde, wer dieser Mann war, schien diese Verlegenheit ins Unermeßliche zu wachsen. Gefühle des Entsetzens, der Panik, des Ekels vor sich selbst stürmten auf sie ein, und sie wäre am liebsten geflohen. Oder gestorben. Oder noch lieber beides.

»Was für eine Zimmergenossin!« meinte einer der drei Männer mit einem vulgären Lachen und musterte sie von Kopf bis Fuß.

Wenn du bei mir wohnen möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen, Baby«, meinte ein anderer.

»Bei dir und deiner Frau, wie?« fragte der dritte und stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen. »Honey, ich bin nicht verheiratet. Ich werde gut auf dich aufpassen. Besser, als Mike es würde - oder könnte.«

»Verschwindet von hier!« rief Mike laut, aber ohne jede Spur von Feindseligkeit, sondern eher launig, als er nun den Fußball aufhob und den dreien zurückwarf.

Einer von ihnen fing den Ball auf, und dann gingen die drei die Straße hinunter, sich immer wieder gegenseitig in die Rippen boxend und laut dabei lachend.

Der Mann neben Samantha drehte sich nun zu ihr um. »Ich bin Mike«, sagte er, ihr seine Rechte hinstreckend. Er schien nicht zu verstehen, warum Samantha sie nicht nahm, sondern ihn nur anstarrte. »Michael Taggert.« Als sie noch immer nicht reagierte, begann er zu erklären: »Ihr Hauswirt. Sie haben mir einen Brief geschrieben, erinnern Sie sich?«

Ohne ein Wort zu sagen, ging Samantha an ihm vorbei zur Vortreppe, wobei sie aufpaßte, ihn nicht zu berühren. Sie stieg die Stufen hinauf und hatte bereits ihr Gepäck aufgenommen, als er neben ihr anlangte.

»Warten Sie noch einen Moment, bis ich die Tür aufgesperrt habe«, sagte Mike. »Ich hoffe, die Wohnung wird Ihnen Zusagen. Ich habe ein paar Leute von einer Reinigungsfirma kommen lassen, die dort saubermachen und Ihr Bett frisch beziehen sollten. Es tut mir leid, daß ich nicht daheim war, als Sie hier eintrafen, aber ich habe vergessen, mir die Zweitschlüssel geben zu lassen und ... He, wo wollen Sie denn hin?«

Ein Gepäckstück in jeder Hand, war Samantha die Vortreppe wieder hinabgestiegen und bereits ein paar Häuser weit die Straße hinuntergegangen, ehe er den Schlüssel zweimal im Schloß der Haustür umgedreht hatte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte Mike hinter ihr her. Ein paar Sekunden später baute er sich vor ihr auf und streckte die Hände nach ihren Gepäckstücken aus. Doch sie wich vor ihm zurück und versuchte, um ihn herumzugehen, was ihr jedoch nicht gelang, weil er ihr jedesmal den Weg verstellte.

»Sie sind wütend, weil ich mich verspätet habe, nicht wahr?«

Sie sah ihn nur kurz mit funkelnden Augen an und versuchte abermals, um ihn herumzugehen. Nach drei derartigen Manövern, die er aber jedesmal zu vereiteln wußte, machte sie auf dem Absatz kehrt und begann, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, worauf er ihr dort ebenfalls den Weg verstellte. Endlich blieb sie stehen. »Würden Sie mich bitte vorbeilassen?« fragte sie wütend.

»Ich verstehe das nicht«, erwiderte er. »Wo wollen Sie denn hin?«

Intelligente, aber stupide Leute, dachte sie bei sich. War diese Stadt denn voll von ihnen? Ihn immer noch wütend anfunkelnd, antwortete sie: »Ich werde mir ein Hotel suchen, Mr. Taggert.

»Ein Hotel? Aber ich habe Ihre Wohnung doch für Sie vorbereitet! Sie haben sie ja noch nicht einmal gesehen, also kann sie Ihnen wohl kaum mißfallen haben. Oder bin ich es, an dem Sie Anstoß nehmen? Ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich es bedaure, mich verspätet zu haben. Es ist nicht meine Angewohnheit, mich zu verspäten, aber meine Armbanduhr ist in der vergangenen Woche naß geworden und befindet sich zur Zeit in Reparatur. Deshalb wußte ich nicht, wie spät es war. Und diese drei Burschen, mit denen ich zusammen war, hätten mir vermutlich nicht einmal die Zeit sagen können, selbst wenn sie eine Uhr bei sich gehabt und gewußt hätten, wie man sie um das Handgelenk bindet.«

Ihn mit einem Blick musternd, der ihn in eine Salzsäule verwandeln sollte, ging sie um ihn herum.

Doch er war nicht so leicht abzuschütteln. Er gab ihr zwar den Weg frei, ging jedoch, rückwärts laufend, neben ihr her. »Es sind diese Burschen, nicht wahr? Ziemlich ungehobelt, wie? Ich entschuldige mich für sie. Aber ich sehe sie nur, wenn ich mal mit jemandem Ball spielen möchte, und in der Sporthalle. Ich meine, ich habe sonst keinen Kontakt mit ihnen, wenn Sie das bedrücken sollte. Sie brauchen sie nicht in unserem Haus zu empfangen, das verspreche ich Ihnen.«

Wieder einen Moment anhaltend, mußte Samantha sich über diesen Mann nur wundem. Wie konnte er nur so gut aussehen und so wenig verstehen? Sie zwang sich dazu, ihn nicht anzusehen, es war ja schließlich seine Schönheit, die sie in diesen Schlamassel gebracht hatte.

Als sie sich abermals in Bewegung setzte, lief er erneut neben ihr her. »Wenn es nicht meine Verspätung war und es auch nicht diese Jungs sind, wo liegt dann das Problem?« fragte er.

An der nächsten Straßenecke hielt sie an und überlegte, was sie machen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand oder wo sie hingehen konnte, sah aber eine Menge gelber Taxis an sich vorbeirollen. In den Filmen, die sie gesehen hatte, stellten sich die Leute auf den Randstein und hoben beide Arme, um ein Taxi anzuhalten, und so hängte sie sich ihre Reisetasche über die Schulter und hob einen Arm in die Höhe. Binnen Sekunden hielt ein Taxi neben ihr an. Sich so benehmend, als hätte sie das schon Tausendemale getan, legte sie die Hand auf den Türgriff.

»Moment mal!« sagte Mike, als sie die Tür auf der Beifahrerseite öffnen wollte, »Sie können das nicht machen. Sie sind noch nie in dieser Stadt gewesen und wissen nicht, wo sie hinfahren sollen.«

»Ich werde so weit von Ihnen wegfahren, wie das überhaupt möglich ist«, erwiderte sie, ohne ihn dabei anzusehen.

Auf Mikes Gesicht spiegelte sich grenzenlose Überraschung. »Aber ich dachte, Sie mögen mich!«

Mit einem ärgerlichen Schnauben schickte sich Samantha an, in das Taxi zu steigen.

Doch Mike hinderte sie an diesen Vorhaben, indem er erst ihren Koffer und dann ihren Arm nahm und beides festhielt. »Sie fahren nicht weg«, sagte er, und dann, in das Taxi hinein: »Troll dich!«

Der Taxifahrer warf nur einen Blick auf Mike und dessen Muskelpakete, die ihm bei der spärlichen Bekleidung ja kaum verborgen bleiben konnten. Er stellte keine Fragen und wartete nicht einmal ab, bis Mike die Beifahrertür zugeworfen hatte, um sich nun eilends zu entfernen.

»Schön«, sagte Mike darauf mit leiser Stimme, als spräche er zu einem nervösen Gaul. »Ich habe zwar keine Ahnung, was plötzlich in Sie gefahren ist, aber wir werden darüber reden.«

»Wo? In Ihrem Haus? In dem Haus, wo ich angeblich mit Ihnen leben soll?« erwiderte Samantha zornig.

»Ist es das, was Sie stört? Sie sind wütend auf mich, weil ich Sie geküßt habe?« Und dann, während sich langsam ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, trat er näher an sie heran und meinte vielsagend: »Dabei hatte ich den Eindruck, als wäre es Ihnen gar nicht so unangenehm gewesen, daß ich Sie küßte.«

»Bleiben Sie mir vom Leib!« Sie machte einen Schritt zurück. »Ich weiß zwar, daß dies eine Stadt sein soll, in der man sich herzlich wenig um seine Nachbarn kümmert, aber ich denke doch, daß jemand auf uns aufmerksam werden wird, wenn ich jetzt anfange zu schreien.

Ihre Worte veranlaßten ihn, sich auf Armeslänge von ihr zu entfernen und sie aus dieser Distanz zu betrachten. Sie trug etwas Strenges von der Stange - das war das einzige Wort, das ihm einfallen wollte, um den »Schick« ihrer Kleidung zu beschreiben - von marineblauer Farbe. Es war ein sehr hausbackenes Konfektionsstück mit einem Rock, der ihr bis weit über die Knie fiel, und einer Jacke mit weißem Krägelchen und weißen Manschetten. Irgendwie brachte es dieses unendlich langweilige und unscheinbare Kostüm fertig, jede Rundung ihres Körpers so vollkommen zu verbergen, daß Mike hätte glauben können, sie sei gerade wie ein Ladestock, wenn er sie nicht noch vor wenigen Minuten mit seinen Händen überall berührt und sich persönlich davon überzeugt hätte, was für einen phantastischen Körper sie besaß. Als er sie geküßt hatte, hatte seine Hand in ihrem Kreuz über einem köstlich gerundeten Hinterteil gelegen und war dann darüber hinweggefahren, an einem festen, perfekt geformten Schenkel entlang bis hinunter zu ihrem Knöchel und einem schlanken kleinen Fuß. Er hätte jede Wette angenommen, daß es unmöglich sei, einen so großartigen Körper unter noch so dicken Stoffbahnen zu verstecken, aber irgendwie hatte sie das dennoch fertiggebracht.

Als er nun ihr Gesicht betrachtete, stellte er fest, daß es eine Mischung von hübsch und niedlich war. Sie trug so gut wie kein Make-up, als wollte sie lieber von der Hübschheit ablenken, statt diese zu betonen. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß die Frau die er jetzt betrachtete, dieselbe war, die er noch vor wenigen Minuten geküßt hatte. Weder ihr Gesicht noch ihr Körper hatten nun etwas sexuell Anziehendes. In diesem formlosen Kostüm und mit dem straff zurückgekämmten Haar, das sie zu einem strengen und unglaublich braven Knoten aufgesteckt hatte, hätte er sie für die Mutter von einem halben Dutzend Kinder gehalten, die in einer Sonntagsschule unterrichtete. Aber er erinnerte sich sehr lebhaft daran, daß sie vor wenigen Minuten noch ganz anders ausgesehen hatte. Diese lustvolle, begehrenswerte, hungrige Schönheit, die seine Küsse erwidert hatte, war irgendwo in dieser Gestalt vor ihm verborgen.

Als er um die Vortreppe herumgerannt war, um den Fußball aufzufangen, hätte er sie fast niedergetrampelt, und aus einem Reflex heraus hatte er sie aufgefangen, ehe sie auf die Spitzen des Eisenzaunes fallen konnte. Er hatte den Mund geöffnet, um sie zu fragen, ob sie sich verletzt habe, aber als er ihr in die Augen geschaut hatte, waren ihm die Worte im Hals steckengeblieben; denn sie hatte ihn angesehen, als würde sie ihn für den schönsten, reizvollsten und begehrenswertesten Mann der Welt halten. Er hatte schon als Kind gewußt, wie anziehend er auf Mädchen wirkte, und sein gutes Aussehen, wo immer das möglich war, zu seinem Vorteil eingesetzt, doch keine Frau hatte ihn bisher so angesehen wie diese da.

Allerdings mußte er einräumen, daß er sie möglicherweise nicht viel anders angeschaut hatte, als sie ihn. Ihre großen hellblauen Augen hatten ihn voller Überraschung und Verlangen über einer zierlichen, kecken Nase hinweg angesehen, über einem Mund, der so süß und reizvoll war, daß er meinte, er müsse sterben, wenn er ihn nicht küßte.

Und er hatte diesen Mund geküßt, zaghaft zunächst, weil er sich nicht sicher war, ob er das auch durfte, denn er wollte nichts tun, was sie vertreiben konnte. Doch in dem Moment, als seine Lippen die ihren berührten, wußte er, daß er sich nicht mehr bremsen, sich nicht mehr zurückhalten konnte, denn keine Frau hatte ihn jemals so geküßt. Es war nicht nur Verlangen, das er in ihrem Kuß spürte, das war Hunger. Sie küßte ihn, als wäre sie jahrelang eingesperrt gewesen und nun, da sie wieder in die Freiheit entlassen war, er der Mann sei, den sie auf der Welt am meisten begehrte.

Jetzt, in diesem Augenblick, konnte Mike jedoch nicht verstehen, was in ihr vorging. Wie konnte sie ihn auf diese Weise küssen und ihn zehn Minuten später so wütend anfunkeln, als würde sie ihn verabscheuen? Oder, anders ausgedrückt: Wie konnte diese züchtige kleine Lady zugleich dieses berückende Wesen sein, das ein Bein über seine Taille gewickelt hatte?

Mike wußte darauf keine Antwort, doch in einem Punkt war er sich sicher: Er konnte sie nicht gehen lassen. Er mußte herausfinden, weshalb sie plötzlich den Wunsch hatte, von ihm wegzugehen, denn er für seinen Teil hätte sie jetzt am liebsten auf seine Arme gehoben, in sein Haus getragen und dort behalten - vielleicht für immer. Aber wenn sie ihm zuerst Bedingungen stellen wollte, zum Beispiel, daß er in den Himmel hinaufklettern, dort ein Dutzend oder mehr Sterne einsammeln, zusammenbinden und in ihrem Schlafzimmer aufhängen sollte, hätte er das schon gern jetzt gewußt, damit er anfangen konnte, sich um die Leitern, die er dafür brauchte, zu kümmern.

»Ich entschuldige mich für alles, was Sie beleidigt haben könnte«, sagte er, obwohl er nicht ein Wort von dem, was er sagte, auch so meinte. Er bereute nichts, und er konnte auch an nichts anderes denken als an ihren Knöchel in seiner Taille.

Samantha blickte ihn aus schmalen Augen an. »Wollen Sie damit erreichen, daß ich Ihnen glaube?« Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen, denn sie merkte, daß inzwischen eine Reihe von Passanten auf sie aufmerksam geworden waren.

»Könnten wir nicht irgendwo hingehen und darüber reden?« sagte er.

»Etwa in ihr Haus?«

Mike, dem der sarkastische Unterton in ihrer Stimme entgangen war, fand, daß das eine großartige Idee sei, hütete sich aber, das laut zu sagen.

»Es gibt nichts zu bereden!«

Diesmal konnte er nicht mehr überhören, daß sie sein Haus offenbar als einen Sündenpfuhl betrachtete. Er holte tief Luft. »Wir gehen jetzt zum Haus zurück, setzen uns auf die Vortreppe, wo uns ganz New York sehen kann, und sprechen über das, was Sie offenbar für ein Problem halten. Und wenn Sie danach immer noch Weggehen wollen, werde ich Ihnen helfen, ein Hotel zu finden.«

Samantha wußte, daß sie nicht auf ihn hören sollte. Sie sollte vielmehr eines der vielen Taxis anhalten und sich irgendwo eine Bleibe für die kommende Nacht suchen.

»Sie wissen doch gar nicht, wohin Sie gehen sollen, nicht wahr? Sie können nicht einfach in ein Taxi steigen und sagen: >Bringen Sie mich zu einem Hotel.< Diese Zeiten sind vorbei. Heutzutage wissen Sie nicht, wo Sie dann landen werden, und deshalb lassen Sie mich wenigstens für Sie ein Hotel anrufen und dort ein Zimmer für Sie bestellen.«

Als Mike merkte, wie sie unschlüssig wurde, nahm er diese günstige Gelegenheit wahr, um sich in Richtung Haus zu entfernen - in der Hoffnung, daß sie mit ihrem Koffer und ihrer Reisetasche folgen würde. Da er sein Glück nicht überstrapazieren und den kleinen Vorteil, den er herausgeholt hatte, nicht wieder verspielen wollte, sagte er unterwegs kein Wort mehr, sondern ging langsam die Straße hinunter und blieb nur hin und wieder stehen, um sich zu vergewissern, daß sie ihm auch nachkam.

Als er sein Haus erreichte, trug er ihr Gepäck die Vortreppe hinauf, setzte es dort ab und drehte sich zu ihr um. »Wollen Sie mir jetzt verraten, was Sie gegen mich haben?«

Samantha blickte auf ihre Hände hinunter. Sie spürte, wie müde und erschöpft sie war von den Strapazen dieses langen, anstrengenden Tages. Oder vielmehr von den Strapazen eines langen, anstrengenden Jahres. »Ich denke, das Problem ist offensichtlich«, erwiderte sie und bemühte sich, ihn dabei nicht anzuschauen, denn er war wirklich nur sehr spärlich bekleidet. An das Geländer der Vortreppe gelehnt, schob er eine Hand unter das alte ärmellose Sweatshirt, das er trug, und begann sich an der Brust zu kratzen. Dabei konnte Samantha die waschbrettartigen Muskeln, die seinen Oberkörper bedeckten, nicht übersehen.

Als er schwieg, ergriff Samantha abermals das Wort, diesmal in der Absicht, sich sehr klar auszudrücken: »Ich habe nicht vor, mit einem Mann unter einem Dach zu leben, der seine Zeit damit verbringt, mich durch das ganze Haus zu verfolgen. Ich trauere um meinen Vater, habe gerade meine Ehe beendet und möchte mir nicht noch mehr Schwierigkeiten aufhalsen.«

Vielleicht hätte Mike keinen Anstoß nehmen sollen an ihren Worten, aber sie stellte ihn so hin, als wäre er ein alter, lüsterner Bock, der seine Hände nicht von einem attraktiven jungen Mädchen lassen konnte. Er widerstand der Versuchung, sie darauf hinzuweisen, daß er sich ihr keineswegs aufgedrängt hatte. Er spielte auch mit dem Gedanken, ihr zu sagen, daß alles, was sie bisher geteilt hatten, ein Kuß gewesen war - nicht mehr -, und daß sie keinen Anlaß dazu hatte, sich so zu benehmen, als wäre er ein überführter Sexualtäter, der soeben versucht hatte, sie zu vergewaltigen.

»Also gut«, sagte er, »was sind die Bedingungen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Oh, doch. Jeder, der sich so anzieht wie Sie, muß ja nach irgendwelchen Vorschriften leben. Nach Bergen von Vorschriften. Also sagen Sie mir jetzt, welche Bedingungen Sie mir stellen.«

Samanthas Antwort bestand darin, daß sie ihre Reisetasche aufhob und nach ihrem Koffer griff. Aber er legte seine Hand darauf und wollte ihn nicht freigeben.

»Also gut«, wiederholte sie. »Das ist unmöglich. Würden Sie bitte die Hand von meinem Koffer nehmen, damit ich gehen kann?«

Mike hatte keineswegs die Absicht, sie fortgehen zu lassen. Abgesehen von der Tatsache, daß er sie so heftig begehrte, daß ihm der Schweiß über die Brust rann, obwohl es ein empfindlich kühler Tag war, gab es da noch das Versprechen, das er ihrem Vater gegeben hatte. Mike war sich bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, wie nahe er und ihr Vater sich gestanden hatten - daß sie nicht wußte, wieviel Zeit er und Dave miteinander verbracht hatten, ehe Dave ihm sagte, daß Samantha wieder nach Hause käme. Nach dieser Ankündigung beschränkte sich ihre freundschaftliche Beziehung auf Briefe, die er, Mike, an Daves Anwalt geschickt hatte, denn aus irgendeinem Grund hatte Dave ihn nicht mit Samantha bekannt machen wollen, jedenfalls nicht, solange er noch lebte. Dann, zwei Tage vor seinem Tod, hatte Dave ihn angerufen, obgleich Dave da schon so schwach gewesen war, daß er nicht alles verstanden hatte, was Dave zu ihm sagte, wenngleich er zumindest dem Sinn nach Daves Anliegen begriff. Dave hatte ihm zunächst mitgeteilt, daß er Samantha zu ihm nach New York schicken würde, und ihn dann gebeten, auf sie aufzupassen. Damals hatte er das Empfinden gehabt, daß er gar keine andere Wahl hatte, und Dave deshalb sein Wort gegeben, daß er Samantha beschützen und auf sie aufpassen würde. Aber er hatte nicht den Eindruck, daß Dave mit seiner Bitte das gemeint hatte, was sich bisher zwischen ihm und Samantha abgespielt hatte.

Mike blickte jetzt auf Samanthas Gepäckstücke hinunter. »Wo haben Sie die Sachen eingepackt, die Sie zum Übernachten brauchen?«

Samantha dachte, daß das doch eine sehr seltsame Frage sei, aber waren nicht die letzten paar Minuten die seltsamsten ihres Lebens gewesen?

Mike wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm ihre Reisetasche hoch und schloß die Haustür auf.

»Fünf Minuten, das ist alles, worum ich Sie bitte. Geben Sie mir fünf Minuten Zeit und drücken Sie dann auf den Klingelknopf.«

»Würden Sie mir bitte meine Reisetasche zurückgeben?«

»Wieviel Uhr ist es jetzt?«

»Viertel nach vier«, erwiderte sie automatisch nach einem Blick auf ihre Armbanduhr.

»Okay, um zwanzig nach vier drücken Sie auf die Klingel.«

Er schloß die Haustür hinter sich, und Samantha blieb mit der Hälfte ihres Gepäcks allein auf der Vortreppe zurück. Als sie auf den Klingelknopf drückte, erfolgte keine Reaktion. Sie war versucht, ihren Koffer aufzunehmen und das Weite zu suchen, aber die Tatsache, daß ihr letztes Bargeld in ihrer Reisetasche war, zwang sie dazu, sich auf ihren Koffer zu setzen und zu warten.

Sie versuchte, nicht an ihren Vater zu denken, sich nicht zu fragen, warum er ihr das angetan hatte. Und vor allem bemühte sie sich, nicht an ihren Ehemann zu denken - pardon, ihren Ex-Ehemann -, sondern sie zwang sich dazu, die Bürgersteige zu betrachten und die Straße unterhalb der Treppe. Sie zwang sich dazu, die Leute dort zu beobachten, die Männer, die in Jeans steckten, und die Frauen, die empörend kurze Röcke trugen. Selbst in New York schien es mitten in der Woche eine beschauliche Sonntagnachmittag-Atmosphäre zu geben.

Dieser Mann - dieser Michael Taggert — hatte gesagt, daß er einen neuen Anfang machen wolle. Wenn sie könnte, würde sie gern mit ihrem Leben noch einmal von vom beginnen, neu beginnen an jenem Tag, an dem ihre Mutter starb; denn nach diesem Tag war in ihrem Leben nichts mehr so gewesen wie vorher. Daß sie heute hier vor diesem Haus sitzen mußte, gehörte zu all den Schmerzen und dem Leid, die an jenem Tag angefangen hatten.

Als sie wieder auf ihre Uhr schaute, war ihr erster Gedanke, daß sie diese vielleicht versetzen konnte. Aber die Uhr hatte neu nur dreißig Dollar gekostet, und sie bezweifelte, daß sie heute viel dafür bekommen würde. Dann bemerkte sie, daß es fünfundzwanzig Minuten nach vier war, und dachte, wenn sie jetzt an der Haustüre läutete, würde Michael Taggert ihr vielleicht öffnen und ihr möglicherweise ihre Reisetasche zurückgeben, so daß sie sich eine Bleibe suchen konnte. Je früher sie diese einjährige Strafe antrat, desto rascher konnte sie diese schreckliche Stadt wieder verlassen.

Sie holte tief Luft, zog ihren Rock glatt, vergewisserte sich, daß ihr Haar straff nach hinten gekämmt war, und legte den Zeigefinger auf den Klingelknopf.