21
Um fünf Minuten vor neun am Sonntagmorgen saß Samantha in ihrem neuen weißen Nachthemd mit angezogenen Knien in Mikes Bett und versuchte, sich zu pediküren. Die Tatsache, daß die Geräte, die sie dafür benutzte, sich seit ihrem zehnten Lebensjahr in ihrem Besitz befanden - in einem pinkfarbenem Plastik-Necessaire, auf dem sich kleine weiße Pudel mit blauen Schleifen an den Schwänzen tummelten erleichterte ihr diese Aufgabe keineswegs. Sie hatte bisher noch keinen Ton aus dem Nachbarzimmer vernommen, und deshalb nahm sie an, daß Mike noch schlief.
Um neun Uhr nahm sie die Fernbedienung vom Nachttisch und schaltete das Fernsehgerät in der Ecke des Zimmers ein, um sich Charles Kuralts »Sunday Morning«-Sendung anzuschauen. Sie hatte Mr. Kuralts Sendung seit dem Tag an verfolgt, als man ihn von der Straße weggeholt und in ein Fernsehstudio in New York verpflanzt hatte. Es interessierte Samantha nämlich, ob er jemals diesen melancholischen Zug um den Mund verlieren würde, der besagte, daß er lieber auf der Straße geblieben wäre.
In den ersten Minuten der Show gab Charles einen kurzen Überblick, was den Zuschauer in dieser Sendung erwarten würde, wobei er jede Story in dem ihm eigenen »Können-Sie-so-etwas-glauben?«-Ton ankündigte, dem er seine Beförderung zum Fernseh-Moderator verdankte. Samantha achtete zunächst nicht sonderlich auf das, was er den Zuschauern zu erzählen wußte, aber als sie den Namen Jubilee hörte, ging ihr Kopf mit einem Ruck in die Höhe, und von diesem Moment an hing sie mit geweiteten Augen an seinen Lippen.
»Das Jubilee-Massaker ist nicht so bekannt wie das St.-Valentins-Tag-Massaker, aber den hohen Popularitätsgrad, den die Ereignisse in Chikago in der Prohibitionszeit hatten, konnte New York damals nie erreichen. Vielleicht lag das auch an dem Zynismus der New-Yorker; denn was sich an jenem schwülen Samstagabend des zwölften Mai neunzehnhundertachtundzwanzig in dieser Stadt ereignete, wurde von den New Yorker Reportern nicht einmal als Massaker gewürdigt. Einer ihrer geistreichen - oder sagen wir besser geschmacklosen - Vertreter bezeichnete das Blutbad als Wachablösung, weil der Boß einer Gangsterbande die Gangster eines Mannes umbrachte, der an dessen Stelle treten sollte. Denn das Massaker, um es beim richtigen Namen zu nennen, war ein Schuß, der nach hinten losgehen sollte, weil die Sympathie der Leute -der korrupten Elemente der Polizei, Behörden und was noch so alles zur öffentlichen Meinung gehörte - sich dem Mann zuwandte, auf den man geschossen hatte. Doc Barrett, damals ein achtundzwanzig Jahre alter Ganove minderen Ranges, übernahm nach dieser Nacht, in der siebzehn Menschen im Kugelhagel der Gangster starben und ein Dutzend weitere schwer verwundet wurden, die Kontrolle über alle illegalen Alkohol-Geschäfte in der Metropole. Doc ging also als Sieger aus diesem Blutbad hervor, verlor dabei aber auch seinen besten Freund oder den einzigen Mann, dem er, wie er sagte, jemals vertraute oder vertrauen würde -einen Mann mit dem pittoresken Namen Half Hand Joe; ihm war die linke Hand zur Hälfte weggeschossen worden, als er sich als Junge schützend vor seinen noch jüngeren Freund Barrett stellte.
Das alles passierte in einem während der Prohibitionszeit sehr eleganten Nachtklub in Harlem, der damals unter dem schlichten Namen Jubilees Bar bekannt war. Doc Barrett mag zwar aus dieser Nacht als Gewinner hervorgegangen sein, aber Jubilee verlor in wenigen Stunden alles, was er besaß. Sein Klub wurde von mehr als dreitausend Maschinengewehrkugeln zersiebt und in den darauffolgenden drei Tagen von ein paar tausend Souvenirjägern ausgeplündert.«
Während Mr. Kuralt referierte, zeigte die Kamera Bilder
von der Außenseite und den Innenräumen eines baufälli-gen alten Gebäudes in einer schrecklichen Gegend von Harlem. Ratten huschten über den Boden, als die Kamera die Kugellöcher in den Wänden näher heranholte.
»Jubilee ist immer noch Inhaber dieses Klubs«, fuhr Charles Kuralt fort, »aber in Anbetracht der Werte, die Immobilien heute in dieser Gegend haben, konnte er ihn weder verkaufen noch verpachten, und deshalb steht das Lokal heute leer.«
Charles Kuralt legte sein Manuskript beiseite und setzte sein Mona-Lisa-Lächeln auf.
»Manche behaupten sogar, es wäre verhext. Aber wir sind heute nicht hierhergekommen, um über ein Massaker - selbst ein Massaker dieses Ausmaßes - zu reden, das hier vor dreiundsechzig Jahren passierte. Wir sind hierhergekommen, um mit Jubilee Johnson über seine Musik zu plaudern. Denn das Massaker konnte zwar seinen materiellen Besitz zerstören, ihm aber nicht seine Musik und seine Vitalität nehmen. Inzwischen ist er einhundertundeins Jahre alt, und er spielt, singt - und jubiliert noch immer.«
Da sprang Samantha vom Bett herunter, rannte in das Badezimmer und riß dort die Verbindungstür zum Gästezimmer auf, wo Mike bäuchlings im Bett unter einer Steppdecke und ungefähr sechs dicken, mit Daunen gefüllten Kopfkissen begraben lag. »Mike, wach auf! Du mußt dir ansehen, was sie gerade im Fernsehen zeigen.« Da er sich nicht bewegte, kniete sie neben dem Bett nieder und berührte alles an ihm, was sie sehen konnte, und das war ungefähr ein Quadratzentimeter nackter Schulter und eine schwarze Haarsträhne.
»Michael, wach auf! Du versäumst es sonst!« Er bewegte nicht einen Muskel. Wenn er sich nicht so warm angefühlt hätte, hätte sie glauben können, er wäre tot. Sie stieg auf sein Bett, faßte ihn an der Schulter und rüttelte daran. »Jubilee ist im Fernsehen. Sie senden ein Interview mit Maxies Jubilee in der Charles-Kuralt-Show! Steh auf!«
Schien er eben noch tief geschlafen zu haben, so faßte er sie jetzt an den Armen, zog sie ins Bett hinein und begann sein mit rauhen Bartstoppeln bedecktes Gesicht an ihrem Hals zu reiben. Das kitzelte so sehr, daß Samantha lachend wieder aus seinem Bett flüchten wollte aber Mike hielt sie fest.
»Wie kannst du es wagen, mich aufzuwecken?« schnaubte er, den Empörten spielend. »Heute ist Sonntag; und da sollte es einem Mann doch vergönnt sein, auszuschlafen.«
Lachend versuchte Samantha noch immer vergebens, seinen Bartstoppeln auszuweichen. »Mike, Jubilee ist im Fernsehen.«
Da veränderte sich plötzlich Mikes Gesichtsausdruck. Er zog sich von ihr zurück, nahm seine Hände von ihren Armen und schien mit einemmal jeden Körperkontakt zu meiden.
»Was hast du denn, Mike?«
»Verschwinde«, befahl er. Das war jetzt kein Spiel mehr. Seine Stimme klang ernst - sehr ernst -, und sie konnte ihm ansehen, daß er wütend war - sehr wütend sogar. Doch sie konnte sich nicht erklären, warum. War er zornig, weil sie ihn geweckt hatte? Manchen Menschen war der Schlaf heilig, aber sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß Mike zu dieser Sorte von Menschen gehörte. Sie stieg aus seinem Bett und begann sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid. Ich glaube, ich hätte dich nicht wecken sollen. Ich wollte ja nur, daß du dir das Interview mit Jubilee im Fernsehen ansehen sollst. Aber ich kann ja auch den Videorecorder anstellen und es aufzeichnen, damit du es dir später anschauen kannst.«
Er drehte den Kopf von ihr weg. »Zieh dieses Hemd aus.«
Samantha brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er damit meinte; denn zuerst glaubte sie, er verlange von ihr, daß sie sich für ihn entkleiden sollte. Aber dann wurde ihr wieder bewußt, daß sie ja ihr brandneues, sehr hübsches, sehr dünnes, sehr, sehr weißes Nachthemd anhatte. Und obwohl sie in diesem Moment ein Gefühl der Freude durchströmte, kam sie sich doch zugleich schäbig vor, weil sie nicht an sein >Problem< mit Weiß gedacht hatte - nun, vielleicht nicht zu schäbig, aber doch ein bißchen hinterhältig. Hatte ihn ihr Anblick in diesem schlichten Baumwollhemd tatsächlich so aufgewühlt, daß er ganz blaß geworden war? Hatte er ihn so erschüttert, daß er sie nun nicht mehr ansehen konnte?
»Ich ... ich hatte das ganz vergessen, Mike«, stotterte sie, aber selbst in ihren Ohren klang das wie eine lahme Ausrede. Für jeden Mann, der so aussah wie Mike - der so sexy war wie Mike, der so süß und gut war wie Mike, und mit dem das Zusammensein so viel Spaß machte wie bei Mike; und der überhaupt rundum so wunderbar war wie Mike; und der, wie er, jede Frau auf dieser Welt haben konnte: ja, dachte sie, dieser Mann fand sich von ihr so sehr angeregt, wurde von ihr so in Wallung gebracht, daß er, solange sie etwas Weißes anhatte, sie nicht mehr anblicken konnte!
»Ich kam hierher, um dir zu sagen, daß im Fernsehen etwas läuft, daß du dir unbedingt anschauen solltest, und darüber vergaß ich, was ich anhatte. Es war nicht meine Absicht...« Sie hielt mitten im Satz inne, denn er hatte das Gesicht wieder zu ihr hingedreht und sah sie an. Und was sie da in seinen Augen las, veranlaßte sie, einen Schritt von seinem Bett zurückzuweichen. Denn da war etwas in seinen Augen, was sie, dachte sie, wohl doch nicht ganz verstehen konnte. Da sprach Verlangen, Begehren, Not und Sehnsucht aus seinen Augen, aber auch eine Verzweiflung, als brauchte er etwas, das sie hatte, und daß er sterben würde, wenn er es nicht bekam.
Sich mit der Hand an die Kehle fahrend, wich Samantha noch einen Schritt weiter vom Bett zurück. Es war schon eine Weile her, daß sie sich vor Mike gefürchtet hatte, aber jetzt war es wieder der Fall. Als er über sein Bett auf sie zukroch, wich sie noch weiter vor ihm zurück. »Mike«, begann sie, doch er sagte nichts, sah sie nur mit diesen sie so verwirrenden Augen an und kam auf sie zu wie ein sich anpirschender Wolf.
Samantha stieß einen kleinen furchtsamen Schrei aus und rannte wie ein Angsthase aus dem Zimmer, warf die Badezimmertür hinter sich zu, dann die Schlafzimmertür und lehnte sich, heftig atmend, dagegen. Vielleicht hätte sich Maxie jungen, hübschen Männer gewachsen gefühlt, die sich an sie heranpirschten wie ein Wolf, doch Samantha fühlte sich dazu noch nicht imstande.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich soweit beruhigt hatte, daß sie wieder normal atmen konnte. Dann riß sie sich förmlich ihr neues Nachthemd vom Leib und zog ihre Jeans und ein hochgeschlossenes Hemd mit langen Ärmeln an, das ihre Haut zum größten Teil verdeckte. Danach ging sie in die Bibliothek und schaltete dort den Fernseher ein, um die Charles-Kuralt-Show weiter zu verfolgen.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe Mike in der Bibliothek erschien, und als sie zu ihm hochblickte erschrak sie, denn er hatte ganz blaue Lippen und eine fast blaue Haut.
»Bist du krank?« fragte sie besorgt, ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn. Seine Haut fühlte sich so kalt an wie bei einem Salamander. »Mike!«
Ihre Hand wegschiebend, setzte er sich auf die Couch. »Nur kalt geduscht«, murmelte er. Es war ihm offensichtlich peinlich, was da vorhin passiert war. »Haben sie das Interview schon gesendet?«
»Nein«, sagte sie, bemüht, ein Lächeln zu unterdrücken. Seine Reaktion tat ihr gut. Aber Männer, dachte sie, waren ja immer so gefühlvoll, ehe sie mit einer Frau ins Bett gingen - besonders, bevor sie mit ihr ins Bett gingen. Es war viel besser, Mike zu gestatten, sich in seiner Phantasie mit ihr zu beschäftigen, als das zu tun, was er sich offensichtlich von ihr wünschte - nämlich mit ihm ins Bett zu steigen. Denn wenn sie das tat, würde er sie hinterher vermutlich auffordern, sein Haus für immer zu verlassen Oder vielleicht würde er nur einfach mitten im Geschehen einschlafen.
»Nein«, sagte sie, »sie haben bisher nur den Vorspann, aber nicht das Interview gebracht. Ich denke, es wird als nächstes kommen.« Sie reichte ihm ein mit Weichkäse bestrichenes halbes Brötchen von dem Frühstück, daß sie sich hatte ins Haus bringen lassen.
Doch er ignorierte das Brötchen, nahm statt dessen ihr Kinn in die Hand und hob ihren Mund dem seinen entgegen. Er küßte sie lange und süß, nicht aggressiv - ohne ihr die Zunge gewaltsam zwischen die Lippen zu schieben, ihr die Kleider vom Leib zu reißen oder ihr mit den Händen an den Busen oder andere kritischen Körperteile zu fassen. Sie spürte nur seine warmen Finger auf ihren Wangen, und dieser lange, sehr lange, sehnsüchtige Kuß wäre ihr nun fast zum Verhängnis geworden. Sich ihm zudrehend, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und öffnete den Mund unter seinen Lippen. Ihr Körper schien sich zu verflüssigen, sich in eine warme, weiche, nachgiebige Masse zu verwandeln, während ihr Kopf sich in eine ihr unwahrscheinlich dünkende Rücklage geriet, aber sie versuchte, mit ihm zu verschmelzen, sich in ihm zu verlieren.
Als er schließlich die Lippen wieder von ihrem Mund nahm, war sie zu schwach, um sich aufzusetzen, und sie wäre wahrscheinlich gegen die Rückenlehne der Couch gefallen, wenn Mike sie nicht mit der Hand gestützt hätte.
»Warum, Sam?« flüsterte er. »Warum sagst du immer nein? Wie lange soll ich deiner Meinung nach denn noch warten? Verlangst du, daß ich dir erst einen Heiratsantrag machen soll? Denn wenn du das verlangst, wirst du dann . . .?«
Sie legte ihm rasch den Finger auf die Lippen, weil sie den Rest des Satzes nicht hören wollte. Sie wollte nicht über die Gründe reden, die hinter ihrem Verhalten standen - wollte nicht, daß er die Wahrheit über sie erfuhr. Jedenfalls jetzt noch nicht, wo ihre Beziehung noch so zerbrechlich war. Vielleicht später einmal - vielleicht kam der Tag, wo sie ihm die Wahrheit über sich erzählen konnte.
Mit einem Fluch faßte Mike nun nach dem Brötchen, das sie immer noch in der Hand hielt, allerdings befand sich nun mehr Käse auf ihren Fingern als auf dem Brötchen. Sie mußte nun die sie sehr beunruhigende Erfahrung machen, daß sich Mike ihrer Hand statt des Brötchens bemächtigte und anfing, langsam, genüßlich und auf eine sie sehr sinnlich berührende Weise den Käse von ihren Fingern zu lecken.
»Deine Sendung beginnt«, sagte er mit ihrem kleinen Finger im Mund.
»Was, bitte?«
»Deine Sendung. Das Interview. Erinnerst du dich?«
»Interview?« Er leckte gerade ihren Handteller ab.
»Maxie. Jubilee. Tod. Vernichtung. Massaker. Erinnerst du dich?«
»Massaker?«
Mike legte ihre nun saubere Hand auf ihren Schoß und wandte sich dem Fernseher zu. Samantha brauchte einige Sekunden, ehe sie wieder klar sehen und den Bericht über das Leben und die Karriere des hochbetagten Musikers im Fernsehen verfolgen konnte. Die Kamera zeigte Jubilee, der für seine einhundertundeins Jahre sehr lebendig und munter wirkte. Und sein Verstand war offensichtlich so gut wie eh und je.
Mike zog sie an sich, so daß sie mit ihrem Rücken an seiner Brust lehnte, während nun im Fernsehen die kahlen Räume gezeigt wurden, die einmal nicht nur einen in Silber und Blau gehaltenen eleganten Nachtklub beherbergt hatten, sondern auch ein Juwel des Jugendstils gewesen waren. Jubilee erzählte nun vor der Kamera etwas über diesen Klub - von den Künstlern, die dort aufgetreten waren; von den Damen in kostbaren Pelzen und den Männern im Frack, die mit ihren Mätressen dorthin gekommen waren. Doch mit dem Massaker war das alles zu Ende gewesen, und er hatte nie mehr das Geld aufbringen können, das nötig gewesen wäre, um den Klub wieder aufzubauen und einzurichten.
Am Ende des Interviews stellte Samantha den Ton ab und drehte sich zu Mike um. »Ist Harlem sehr weit weg?«
»Philosophisch oder geographisch?«
Sie schnitt eine Grimasse. »In Meilen natürlich.«
»New York ist eine Insel, falls du das vergessen haben sollst. Hier ist nie etwas von etwas weit entfernt.«
»Wenn ich also einem Taxichauffeur sagen würde, ich möchte nach Harlem fahren, würde er wissen, wo er mich hinbringen muß?«
Mike sagte einen Moment lang nichts, sah sie nur unverwandt an. »Ich hoffe, du sagst mir, daß du nicht an etwas denkst, woran du niemals denken solltest.«
Sie stand von der Couch auf. »Ich werde Jubilee besuchen, wenn du das meinst. Und ich werde es sofort tun, ehe ein anderer begreift, daß dieser Mann noch am Leben ist.«
Mike legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du meinst damit den maskierten Mann, der versucht hat, dich umzubringen, nicht wahr?«
Doch daran wollte sie nicht mehr erinnert werden. »Vielleicht weiß Mr. Johnson, warum meine Großmutter in jener Nacht aus dem Klub verschwand und weshalb sie so viele Jahre später ihre Familie verlassen mußte. Vielleicht weiß er etwas, das sie von der Schuld befreit, so viel Leid und Unglück über unsere Familie gebracht zu haben. Vielleicht...«
»Gibt es etwas auf dieser Welt, was dich von diesem Vorhaben abhalten könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Mike. Ich würde es begrüßen, wenn du mit mir kämst, aber wenn du das nicht willst, fahre ich allein dorthin.«
»Nach Harlem? Du kleines weißes Persönchen möchtest dich allein in diesen Teil der Stadt wagen?«
»Ist es so schlimm, wie es eben im Fernsehen gezeigt wurde?«
»Ja.«
Sie schluckte und holte tief Luft. »Ja, ich werde allein dort hinfahren, wenn ich muß.« Noch während sie das sagte, betete sie im stillen, daß Mike sich bereitfinden mochte, sie zu begleiten. Tapferkeit hat ihre Grenzen.
»Okay, zieh dich an. Aber etwas Einfaches, nichts, was ein Etikett hat.«
Sie nickte, drehte sich um und ging hinauf in ihr Apartment, um sich etwas anderes anzuziehen.
*
Vor Jubilees Haus war bereits eine Menschenmenge versammelt, als Mike und Samantha dort eintrafen - nicht in einem Taxi, sondern mit einem Mietwagen, den Mike für sie besorgt hatte und der vor dem Haus auf sie warten sollte. Der Fahrer dieses Wagens war ein sehr großer Mann mit einer Haut, die so schwarz war wie Kohle, und einer Messernarbe, die am Haaransatz im Nacken begann und sich über seinen Hals bis in sein Hemd hinein fortsetzte. Der Mann schien ein Freund von Mike zu sein. Samantha lächelte ihm während der Fahrt alle paar Sekunden nervös zu, was den Mann sehr zu amüsieren schien.
Während ihrer Fahrt nach Harlem sah Samantha nicht aus dem Wagenfenster, denn das war ihr ein zu gespenstischer Anblick. Armut von solchen Ausmaßen in unmittelbarer Nachbarschaft eines so immensen Reichtums, wie er im Zentrum Manhattans angehäuft war, überstieg ihr Fassungsvermögen.
Als sie endlich vor Jubilees Backsteinhaus anlangten -das einzige nett aussehende Haus in der ganzen Zeile -seufzte Samantha frustriert; denn es sah aus, als käme es zu einem Tumult. Offenbar hatten die meisten Einwohner New Yorks Charles Kuralts Sendung gesehen und waren nun gekommen, um Jubilee in Fleisch und Blut zu sehen - oder um sich von ihm Geld zu leihen, ihm etwas zu verkaufen oder seine Meinung über ein Lied zu hören, das sie geschrieben oder komponiert hatten.
Unter der Haustür stand eine große, sehr kräftig aussehende Frau mit eisengrauem Haar und einem sehr wütenden Gesicht, das einmal schön gewesen sein mußte. Sie schwang einen Besen wie eine Waffe über dem Kopf und versuchte auf diese Weise offenbar einige Zuschauer davon abzuhalten, die Vordertreppe hinaufzustürmen. Samantha sah, wie sie zwei Männern den Besenstiel um die Ohren schlug.
Mike legte Samantha die Hand auf den Arm. »Ich glaube nicht, daß das jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Besuch ist«, sagte er und begann, sie wieder zum Wagen zurückzuziehen.
Samantha riß sich von ihm los. »Nein! Ich werde jetzt mit ihm reden. Ich glaube nicht, daß ich den Mut aufbringen könnte, ein zweitesmal hierher zu fahren.«
»Das ist die beste Neuigkeit, die ich je in meinem Leben gehört habe.«
»Mike, ob du mich durch diese Menge bis zu der Vortreppe bringen könntest? Wenn ich nahe genug an diese Frau dort herankäme, würde ich zu ihr sagen, daß ich Jubilee etwas über Maxie fragen möchte.«
Mike war zunächst versucht, ihr das auszureden, aber die vorhersagende Vergeblichkeit dieses Bemühens war nicht gerade motivierend. Zudem hätte er, wie er zugeben mußte, Jubilee selbst gern über Maxi ausgefragt. Mike blickte über Samanthas Kopf hinweg zum Wagen hin, wo der große schwarze Mann neben der Beifahrertür stand, und als Mike fragend den Kopf hob, nickte dieser zustimmend.
Binnen weniger Sekunden waren die drei auf dem Weg durch die Menge. Mike bahnte, Samantha im Schlepptau, eine Gasse, während der herkulische schwarze Mann mit der Messernarbe die Nachhut bildete. Sobald Samantha den Fuß der Vortreppe erreicht hatte, ging die Frau mit dem Besen zum Angriff auf sie und ihre beiden männlichen Begleiter über, aber der große schwarze Mann packte den Besenstiel, ehe sie damit Schaden anrichten konnte, und gab so Mike und Samantha genügend Zeit und Gelegenheit, der Frau zuzurufen, daß sie Jubilee etwas über Maxie fragen wollten.
Dem Gesichtsausdruck der Frau mit dem Besen nach zu schließen, mußte sie diesen Namen schon einmal gehört haben; denn sie drehte sich kurz, wenn auch ungnädig, nach einem kleinen Jungen um, der hinter ihr stand und daraufhin im Haus verschwand. Kurz darauf erschien er wieder im Hauseingang und gab ihnen ein Zeichen, daß sie eintreten sollten. Mike und Samantha gingen ins Haus, während ihr schwarzer Chauffeur zu seinem Wagen zurückkehrte.
Das Treppenhaus sah so aus, als habe man die Decke und das Geländer unzählige Male gestrichen, ohne vorher die alte Farbe zu entfernen oder auch nur den Staub abzuwischen, der sich mit der Zeit dort niedergeschlagen hatte. Die Stuckmotive an der Decke waren unter den dicken, teilweise abblätternden Farbschichten kaum noch zu erkennen, und auch das Schnitzwerk an den Geländerpfosten war von Firnis eingeebnet.
Sie folgten dem Kind über steile, schmale Stufen bis in das oberste Stockwerk des Hauses hinauf, wo es heiß war und sonnig und alles so wirkte, als sei es seit Jubilees Geburt nicht mehr verändert worden. Auf dem Weg dorthin hatte ein Mann der ihnen auf dem zweiten Treppenabsatz begegnete, Samantha fast zu Tode erschreckt. Es war ein großer schwarzer Mann, und er hatte die zornigsten Augen, die Samantha je bei einem menschlichen Wesen gesehen hatte. Es war nicht nur ein augenblicklicher, sondern ein lebenslanger Zorn auf alles und jeden, der aus seinen Augen leuchtete.
Nach einem verächtlichen Blick auf Samantha und einem Blähen seiner Nasenlöcher verschwand er.
Das Kind öffnete im obersten Stockwerk eine Tür, gab Samantha und Mike zu verstehen, daß sie eintreten sollten, und ließ sie dann allein. Samantha gefiel das Zimmer auf den ersten Blick. An den Seitenwänden befanden sich zwei von dem Boden bis zur Decke reichende, mit Notenblättern vollgestopfte Regale, die offenbar, wenn man den von Fach zu Fach zunehmenden Grad des Vergilbens und des Abgegriffenseins ihrer Deckblätter bedachte, alle von der Steinzeit bis zur Gegenwart komponierten Musikstücke enthalten mußten. Beherrscht wurde dieses Zimmer jedoch von einem gewaltigen Konzertflügel - eines von diesen im satten Schwarz erstrahlenden Pianos, auf denen Männer im schwarzen Frack zu spielen pflegten. Es war offensichtlich ein mit viel Liebe gehegtes und gepflegtes Instrument; denn es war auf Hochglanz poliert und wies nicht den kleinsten Kratzer auf. Dem Piano gegenüber standen ein paar Polsterstühle mit zerschlissenen Armlehnen, aus denen graue Polsterwolle quoll.
Sowohl Samantha wie Mike waren so sehr damit beschäftigt, sich im Zimmer umzuschauen, daß sie das Männchen, das hinter dem Piano auf einem Klavierschemel saß, fast übersehen hätten, weil dessen Kopf kaum über den Notenständer des Flügels hinausragte. Der Fernsehkamera war es offenbar gelungen, den Mann etwas größer erscheinen zu lassen, zudem ein paar Falten aus Jubilees Gesicht wegzudrücken und auch die Tatsache zu verschleiern, daß er kein Fleisch mehr auf den Knochen hatte, sondern nur noch dunkle, pergamentartige Haut. Der Mann glich eher einer Mumie als einem Menschen, und seine glitzernden Augen schienen so gar nicht zu diesem ausgezehrten Körper passen zu wollen.
Samantha ging lächelnd auf den alten Mann zu, der ihr mit einem Grinsen entgegenschaute und zwei phantastische Reihen falscher Zähne entblößte.
»Mein Name ist Samantha Elliot und ich bin Maxies Enkelin«, sagte Sam, dem alten Mann ihre Hand hinstreckend.
»Ich würde Sie überall erkannt haben. Sie sehen genauso aus wie sie.« Jubilees Stimme war gut, und Samantha hatte den Eindruck, daß er sie ebenso gepflegt haben mußte wie sein Piano. Die Haut seiner Hand fühlte sich an wie ein Stück hochwertiges Leder. Während er sprach, spielte er leise und auf eine geistesabwesende Weise, als sei er sich gar nicht bewußt, was seine Hände taten. Offenbar war das Klavierspielen für ihn etwas so Selbstverständliches wie das Atmen.
Mike begann Jubilee zu erklären, warum sie hierhergekommen waren, erzählte ihm von Doc und Maxie, von Samanthas Vater und der Biographie, die er schreiben wollte.
Während Mike sprach, spielte Jubilee mit einem entrückten Blick unentwegt weiter auf dem Piano, als hörte er ihm gar nicht zu. Als Mike mit seinem Vortrag zu Ende gekommen war, schaute der alte Mann Sam an. »Maxie sang Blues«, sagte er. »Keine Frau auf der Welt hätte ihn besser singen können.«
Da begann Samantha lächelnd das Lied anzustimmen, das Jubilee soeben auf dem Flügel gespielt hatte.
Der ungläubige Blick, mit dem Jubilee Samanthas Gesang zunächst begleitet hatte, wurde nun von Freude abgelöst - einer ganz besonderen Freude; denn hier erlebte ein alter Mann, wie etwas, das er für unwiederbringlich verloren gehalten hatte, seine Wiederauferstehung feierte, und einen Moment lang glaubte Samantha, Tränen in den Augen des alten Mannes blinken zu sehen. »Du hörst dich an wie sie, Mädchen«, sagte Jubilee und griff nun energisch in die Tasten. »Kennst du das?«
»>Weepin Willow Blues<«, erwiderte Samantha leise, als der alte Mann ein paar Takte vorspielte. Da konnte nicht mehr viel Kraft in diesem gebrechlichen Körper stecken; doch was davon noch übrig war, konzentrierte sich in den Händen.
Samantha öffnete den Mund, um zu singen, schloß ihn dann aber wieder, als durch das Fenster die klagenden Töne einer Stopftrompete kamen. Einen Moment lang sah sie Mike an, um sich zu vergewissern, daß sie sich noch in den neunziger Jahren befand; denn eine Stopftrompete gehörte nicht zu den Instrumenten einer modernen Jazz-Band.
»Hör nicht hin, Mädchen«, sagte Jubilee ungeduldig. »Das ist nur Ornette. Kennst du nun dieses Lied oder nicht?«
Samantha wußte, ohne Jubilee erst fragen zu müssen, daß der Trompeter dieser junge Mann war, der sie auf der Treppe so verächtlich gemustert hatte. Und sie wußte auch, daß er sie jetzt auf die Probe stellen wollte. Wenn dieser junge Mann etwas so Altes und Obskures wie den Weepin’ Willow Blues spielen konnte, dann mußte er ihn aus Liebe zu dieser Musik eingeübt haben und nicht, weil er damit Geld verdienen wollte. Und sie wußte weiterhin, ohne daß man ihr das erst sagen mußte, daß dieser junge Mann mit den zornigen Augen nicht glaubte, daß eine junge weiße, blauäugige Frau Blues singen könne.
Und so öffnete Samantha den Mund und sang das alte traurige Lied von einer Frau, die ihren Mann verloren hatte.
Als sie geendet hatte, sagte Jubilee kein Wort. Doch sie konnte ihm an den Augen ansehen, daß sie offenbar den richtigen Ton getroffen hatte.
Während Jubilee und Mike sie staunend ansahen, als hätten sie ein kleines Wunder erlebt, ging Samantha, einem Impuls folgend, ans Fenster und rief in herausfor-derndem, zornigen Ton in die Richtung, aus der die Trompetenklänge gekommen sein mußten: »Habe ich bestanden, Ornette?«
Da brachen sie beide, Mike und Jubilee, in ein Gelächter aus. Jubilee hörte sich dabei an wie ein altes Akkordeon mit einigen Löchern im Blasebalg.
»Sie singt nicht nur, sondern ist genauso wie sie«, sagte Jubilee, der vor Lachen fast erstickte. »Maxie hat sich auch vor niemandem gefürchtet.«
»Sie hatte aber Angst vor etwas«, meinte Mike mit nüchterner Stimme, »und wir wüßten gern, was das gewesen ist.«
Jubilee wollte ihnen aber nichts über Maxie sagen. Er fuhr fort, auf dem Klavier zu spielen und Samantha zu fragen, ob sie dieses oder jenes Lied kenne, und beteuerte einige Male, er habe Maxie seit dem Abend des Massakers nie wiedergesehen. Als Samantha ihn fragte, ob er denn eine Vorstellung habe, warum Maxie in jener Nacht verschwunden sei, murmelte er, nein, die habe er nicht.
Einhundertundeins Jahre alt, dachte Samantha bei sich, und er hatte noch immer nicht gelernt, überzeugend zu lügen. In Gedanken versuchte sie sich bereits auszurechnen, wie oft sie wohl noch herkommen müsse, bevor Jubilee sich bereitfand, ihr zu sagen, was er über Maxie wußte.
Als Samantha und Mike sich von Jubilee verabschiedeten, gab Samantha ihm einen Kuß auf die alte, lederartige Wange und sagte, sie glaube, daß sie sich bald Wiedersehen würden.
Draußen auf dem Treppenabsatz erwartete sie bereits der kleine Junge, um sie ins Erdgeschoß hinunterzubringen, und diesmal tat er etwas, daß Samantha seltsam vorkam: Er wollte, daß Mike ihn an die Hand nahm. Nun hatte Samantha zwar schon erlebt, daß Mike offenbar einen guten Draht zu Kindern hatte, aber die Verhaltens-weise dieses Jungen schien ihr doch etwas ungewöhnlich zu sein. Erst als sie wieder im Freien waren und sie bemerkte, wie Mike die Linke, in der er die Hand des Jungen gehalten hatte, in die Tasche schob, wurde ihr klar, daß das Kind Mike einen Zettel zugesteckt haben mußte. Von Ornette wahrscheinlich, dachte sie bei sich. Und ihr war ebenso klar, daß Mike versuchen würde, das, was auf diesem Zettel stand, vor ihr geheimzuhalten.
Und so benahm sie sich auf der Rückfahrt im Wagen so, als wüßte sie nichts von diesem Zettel. »Ornette«, bemerkte sie leichthin, »ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört.«
»Ornette Coleman. Tenorsaxophon«, sagte Mike, aus dem Wagenfenster blickend.
Zu Hause angekommen, verschwand Mike sofort in seinem Schlafzimmer, und Samantha war überzeugt, daß er es kaum erwarten konnte, die Botschaft zu lesen. Als er wieder aus dem Zimmer kam, war er mit Shorts und einem T-Shirt bekleidet und hatte die Sonntagsausgabe der New York Times unter den Arm geklemmt. Sie verzehrten anschließend, beide die Zeitung lesend, draußen im Garten ihren - von einem Lieferanten ins Haus gebrachten - Lunch, und hielten dann im Liegestuhl Siesta -Mike immer noch in seine Zeitung vertieft, in der er offenbar stundenlang den Börsenteil las und Aktienkurse studierte, während Samantha den Laptop-Computer auf den Knien hielt und versuchte, alles einzugeben, was sie bisher über Maxie wußte.
Das war nicht viel. Maxie war - oder möglicherweise auch nicht - in zwei oder sogar drei Männer verliebt gewesen, wenn sie Cal hinzurechnete. Wie viele es letztendlich auch gewesen sein mochten: am Ende hatte sie sie alle verlassen. Wo war sie hingegangen und weshalb?
Alle paar Minuten unterbrach Samantha ihre Arbeit, erhob sich, etwas von einer Diskette murmelnd, die sie angeblich benötigte, aus ihrem Liegestuhl und verschwand im Haus, wo sie so lange, wie sie das meinte vertreten zu können, nach dem Zettel suchte. Sie suchte in den Kleidern, die Mike am Morgen getragen hatte, sah in allen Schubladen im Gästezimmer nach, schob sogar die Hand in seine Schuhe, ob er vielleicht dort etwas versteckt hielt.
Es war bei ihrem sechsten Ausflug ins Haus, daß sie in seiner Brieftasche nachzusehen wagte, denn irgendwie schien ihr das Durchstöbern einer Brieftasche die gröbste Verletzung der menschlichen Intimsphäre zu sein. Sie zögerte eine Weile, ehe sie seine Brieftasche von der Kommode nahm und sie öffnete. Sie entdeckte darin drei Kreditkarten, alle in Gold, und zwölfhundert Dollar in bar, was sie ein wenig rascher atmen ließ, fand aber kein Verzeichnis mit Telefon- oder Kontonummern. Doch als ihr einfiel, wie spielend leicht Mike fünf- und sechsstellige Zahlen im Kopf multiplizieren konnte, fand sie das Fehlen eines solchen Verzeichnisses nicht mehr verwunderlich. Vermutlich hatte er alle Nummern, die er brauchte, im Kopf.
Als sie die Brieftasche schon wieder auf die Kommode zurücklegen wollte, erinnerte sie sich daran, daß ihr Vater, als sie noch ein Kind gewesen war, eine Brieftasche mit einem Geheimfach besessen hatte, und als sie nun Mikes Brieftasche auf ein Geheimfach hin untersuchte, wurde sie fündig und zog das Papier heraus, das darin steckte.
Fast hätte sie sich auf den Fußboden gesetzt, als dieses Papier sich als ein Foto von ihr als Schulkind entpuppte. Sie wußte sofort, daß Mike dieses Foto aus ihrem Haus in Lousville mitgenommen haben mußte. Hatte ihr Vater es ihm geschenkt ? Oder hatte er es gar aus ihrem Zimmer entwendet, wo er, wie sie wußte, damals gewohnt hatte? Und weshalb bewahrte er dieses Foto in seiner Brieftasche auf?
Schuldbewußt schob sie das Foto in das Geheimfach zurück; aber als es dabei auf einen Widerstand stieß, wußte sie, daß sie den Zettel, den sie suchte, endlich entdeckt hatte.
Nelson - Paddy´s Bar im Village - Montag - acht
Blitzschnell steckte sie den Zettel wieder in das Fach und kehrte in den Garten zurück, wo sie sich in ihren Liegestuhl neben Mike niederließ. Ihre Neugierde ließ sie aber nur ein paar Minuten lang stillsitzen, ehe sie ihn fragte, ob er die Telefonnummer vom Büro seines Vaters wisse. Ohne von der Zeitung aufzusehen, rasselte er eine sechsstellige Zahl samt Vorwahlnummer herunter.
»Die Telefonnummer deines ältesten Bruders?«
»Seine Privatnummer? Oder die seines Autotelefons? Oder seine Büronummer in Colorado? Oder seine Büronummer in New York? Oder die seines Wochenendhauses in den Bergen?«
»Alle fünf.«
Mike legte seine Zeitung in den Schoß und sah sie an. »Soll das ein Test sein?«
»Wie lautet meine Versicherungsnummer?«
Mit einem schiefen Grinsen nannte er sie ihr.
»Und kennst du auch die Nummer meines Bankkontos auswendig?«
Er hielt sich die Zeitung wieder vors Gesicht, ehe er ihr die Nummer nannte und auch die Geheimzahl, die sie eintippen mußte, wenn sie mit ihrer Kontokarte Geld aus einem Geldautomaten holen wollte. Aber er wollte ihr nicht verraten, wie er diese herausbekommen hatte.
»Vanessas Telefonnummer«, begehrte sie schnaubend zu wissen.
»Da bin ich überfragt. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie mir damals überhaupt gemerkt habe.«
Er log natürlich, aber als sie wieder auf ihren Computerschirm hinuntersah, lächelte sie ein wenig.
Um drei Uhr nachmittags verließ Samantha ihren Liegestuhl, ging in die Küche und begann dort in den Schrankfächern zu kramen.
Als Mike sie in der Küche rumoren hörte, fragte er sich verwundert, was sie denn dort machte, erhob sich ebenfalls aus seinem Liegestuhl und fand Samantha in der Küche ratlos auf dem Boden sitzend, umgeben von einem halben Dutzend Töpfen.
»Überlegst du dir, was man damit anstellen könnte?« fragte er grinsend.
»Ich versuche herauszufinden, wie man ein Sidecar macht.«
»Dazu brauchst du einen Schweißapparat.«
»Ah, wie witzig«, erwiderte sie, stand vom Fußboden auf und begann, die Töpfe wieder in die Fächer einzuräumen. »Ich hoffte, du hättest eines von diesen Rezeptbüchern für Getränke.«
»Ahhh — so ein Sidecar meinst du. Möchtest du dir etwa einen Schwips antrinken?« fragte er in erwartungsvollem Ton.
»Nein. Ich will eine große Kanne mit Sidecars zubereiten und sie meiner Großmutter mitnehmen, wenn ich sie heute abend besuche.«
Bei dieser Ankündigung verschlug es Mike die Sprache. Er starrte sie sekundenlang verblüfft an, ehe er stotternd fragte: »Wa ... was meinst du damit?«
Sie hielt einen Moment im Aufräumen der Töpfe inne, um ihn anzusehen, ehe sie seine Frage, ihre Arbeit wieder aufnehmend, folgendermaßen beantwortete: »Aus irgendeinem Grund, Mike, scheinst du anzunehmen, daß ich ein wenig beschränkt bin, und du mir Dinge vorenthalten könntest, ohne daß ich das bemerken würde. Aber ich wußte vom ersten Moment an, als ich Abby sah, daß sie meine Großmutter ist. Sie sieht aus wie mein Vater, bewegt sich wie mein Vater, und zieht sogar die Mundwinkel hoch wie mein Vater, wenn sie sich über die Schwester mokiert.«
Sie neigte sich ein wenig zu ihm. »Und du wußtest ebenfalls, wer sie ist. Es stand dir im Gesicht geschrieben. Du warst so erschrocken, daß du zuerst kein Wort herausbringen konntest, als Abby dich etwas fragte.«
Mike nahm nun, nachdem Samantha den letzten Topf verstaut hatte, ihre Hände in die seinen und drückte sie heftig. »Ich habe es dir nicht aus dem Grund, weil ich dich für beschränkt halte, nicht gesagt, sondern weil ich . . .«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn und lächelte ihn an, »weil du nicht willst, daß mir etwas passiert. Weil du glaubst, es wäre gefährlich für mich, wenn ich sie besuchte.«
»Genau.«
Sie holte tief Luft. »Mike, du bist ein Glückskind. Du hast so viele Verwandte, daß du sie gar nicht alle zählen kannst. Aber meine Angehörigen sind alle tot. Maxie und ich sind die einzigen, die von meiner Familie übriggeblieben sind, und sie liegt ganz allein in diesem schrecklichen Heim, während ich hier ... Und sie hat nicht mehr lange zu leben.«
Als sie zu zittern begann, nahm Mike sie in die Arme.
»Ruhig, Liebling. Es ist ja okay. Wir werden sie heute abend besuchen, wenn du möchtest.«
»Du mußt nicht mit mir hingehen, Mike.« Wie immer, fühlte sie sich auch jetzt sicher in Mikes Armen.
»Natürlich muß ich nicht«, erwiderte er, ihr Haar streichelnd. »Ich werde dich allein gehen lassen, damit du irgendwo in einer Drehtür hängenbleibst.«
Lächelnd blickte sie zu ihm auf. »Ich hoffte, du würdest mitkommen. Und jetzt verrate mir bitte«, sagte sie geschäftig, ihn von sich wegschiebend, »wie man Sidecars macht.«
»Samantha, du kannst ihr doch unmöglich Schnaps ins Pflegeheim mitbringen. Es widerstrebt mir zwar, dich daran zu erinnern, aber sie ist eine sehr kranke alte Dame. Ich glaube nicht, daß ihr Arzt ihr erlauben wird...«
Sie legte ihm rasch den Finger auf die Lippen. »Mein Großvater Cal pflegte zu sagen: Was kann einem denn noch schaden, wenn man weiß, daß man stirbt? Er hatte mit fünfzig aufgehört zu rauchen, aber an dem Tag, an dem sein Arzt ihm sagte, daß er nur noch wenige Wochen zu leben habe, kaufte er sich eine große Kiste sehr teurer Zigarren und rauchte täglich eine davon, bis er starb. Mein Vater gab ihm die Kiste mit den restlichen noch ungerauchten Zigarren mit ins Grab.«
Mike konnte sie nur anstarren. Sie hatte Dinge erlebt, an die er nicht einmal zu denken wagte. Sie war in einer Atmosphäre des Todes aufgewachsen, umgeben von sterbenden Menschen, und ihr Vater hatte von ihr, als sie noch ein Kind war, verlangt, in einem Haus mit verdunkelten Fenstern zu leben.
Ohne ein Wort zu sagen, griff er in das oberste Schrankfach und holte ein kleines gelbes Buch herunter, das sich als Sammlung von Cocktailrezepten entpuppte. »Laß mal sehen. Zu einem Sidecar braucht man Cointreau, Zitronensaft und Cognac. Ich denke, das haben wir alles reichlich im Haus.«
»Oh, Mike, ich liebe dich«, rief Samantha lachend und wurde dann ganz verlegen, weil sie das gesagt hatte.
Er blickte nicht von seinem Rezeptbuch auf. »Das möchte ich auch hoffen«, meinte er leichthin, als hätte das, was sie soeben gesagt hatte, keinerlei Bedeutung für ihn. Doch sein Hals schien sich ein bißchen dunkler zu färben, so, als wäre ihm das Blut ins Gesicht geschossen.
Samantha holte Zitronen aus dem Kühlschrank und suchte mit einem Wortschwall von ihrer Verlegenheit abzulenken: »Ich hoffe doch, daß uns das Pflegeheim keine Schwierigkeiten machen und uns erlauben wird, so lange wie möglich bei ihr zu bleiben. Weißt du, was ich machen möchte, Mike? Ich habe oben einen großen Karton mit Fotoalben und losen Fotos von meinem Vater, meiner Mutter, Großvater Cal und mir. Die möchte ich ihr zeigen. Die meisten davon wurden aufgenommen, nachdem Maxie uns verlassen hatte. Du meine Güte - Mike ich darf meine Großmutter ja nicht einmal mit ihrem richtigen Namen anreden, nicht wahr? Wie soll ich sie denn nur nennen, Mike?«
»Abby«, erwiderte Mike. »Solange sie nicht möchte, daß du erfährst, wer sie wirklich ist, solltest du sie mit Abby anreden. Und du darfst dir nicht anmerken lassen, daß du längst weißt, wer sie in Wirklichkeit ist. Die arme Frau denkt wahrscheinlich, sie müsse dir ihre wahre Identität verschweigen, weil sie sonst dein Leben gefährden würde und . . .«
Er hielt inne und starrte Sam an.
»Samantha«, er war plötzlich wieder ernst, »von Anfang an war es deine Absicht - oder vielmehr die Absicht deines Vaters -, herauszufinden, was aus deiner Großmutter geworden ist. Dieses Ziel hast du inzwischen erreicht. Du weißt, daß sie sich in einem Pflegeheim befindet und dort an Schläuchen und Apparaten hängt. Wenn du das schon gestern abend gewußt hast, warum sind wir dann heute morgen zu Jubilee gefahren, um uns bei ihm über Maxie zu erkundigen?«
»Ich weiß, wo sich Maxie befindet, aber nicht, warum sie dort ist«, erwiderte sie leise.
Mike stöhnte. »Samantha, ich bitte dich ...«
Sie wußte, daß es ihm keinesfalls recht war, wenn sie ihre Nachforschungen fortsetzte, aber je mehr sie über Doc und Maxie und Michael Ransome und Jubilee und wen es da sonst noch alles gab, erfuhr, um so mehr verlangte es sie danach, herauszufinden, was denn in jener Frühlingsnacht des Jahres 1928 wirklich passiert war. Die Zeit, als sie noch voller Haß an ihre Großmutter gedacht hatte, weil sie ihre Familie scheinbar grundlos verlassen und ihr großes Leid zugefügt hatte, lag erst ein paar Wochen zurück. Doch nun hatte sie ihre Großmutter wiedergefunden und die Tränen in ihren Augen gesehen, als sie, Sam, ihren Großvater Cal erwähnte, und da hatte sie, Sam, sofort erkannt, daß ihre Großmutter Maxie Großvater Cal sehr, sehr geliebt haben mußte. Und was noch wichtiger war: Maxie liebte sie, ihre Enkelin. Den Beweis dafür hatte sie ihr mit ihrer Reaktion geliefert, als Mike erzählte, daß jemand versucht hatte, ihre Enkelin umzubringen.
»Ich wünschte, ich wüßte, was meine Großmutter gerne ißt«, sagte Samantha. »Ich wünschte, ich könnte ihr einen Schokoladenkuchen oder so etwas Ähnliches mitbringen -etwas, das sie wirklich mag und was ihr nicht schadet und was sie ganz bestimmt nicht in diesem schrecklichen Heim bekommt.«
Da legte ihr Mike die Hände auf die Schultern und blickte ihr ernst in die Augen.
»Kann ich denn gar nichts sagen, was dich davon abhalten kann? Wenn ich dich nun darauf hinweise, daß der Mann, der dich umbringen wollte, dieses Haus und dich noch immer beobachten könnte? Und daß du dann damit rechnen mußt, daß er dich bis zu dem Pflegeheim verfolgt? Glaubst du, daß deine Großmutter noch kräftig genug wäre, so ein Attentat, wie du es erlebt hast, heil zu überstehen?«
Samantha hatte auch daran schon gedacht und das Für und Wider gegeneinander abgewogen. »Wie lange, glaubst du, hat sie noch zu leben?«
»Als ich das erstemal Kontakt mit ihr aufnahm«, antwortete Mike, er es für unverantwortlich hielt, ihr in diesem Punkt die Wahrheit zu verschweigen, »sagte mir ihr Arzt, er gäbe ihr höchstens noch drei Monate.«
Samantha holte tief Luft. »Wenn du Maxie wärest, viele, viele Jahre allein gelebt hättest und nun die Chance bekämst, ein paar Wochen mit jemandem zusammen sein zu können, den du liebst - würdest du das riskieren?«
Er wollte Sam darauf hinweisen, daß man aus der Tatsache, daß Maxie vor siebenundzwanzig Jahren ihre Familie in Louisville verlassen hatte, nicht unbedingt folgern könne, sie habe seither immer allein gelebt - aber er sagte ihr das nicht. Vielmehr fragte er sich jetzt, als er daran dachte, in was für einem scheußlichen Heim Maxie untergebracht war, ob Samantha mit ihrer Vermutung nicht recht haben könne und Maxie tatsächlich all die Jahre über allein gelebt hatte. Sie konnte doch ihre Familie aus Angst vor Entdeckung verlassen haben, und dann machte es wenig Sinn, wenn sie an einem anderen Ort durch rege Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben Aufsehen erregte - oder etwa nicht?
»Sollten sich unter diesen Aufnahmen auch irgendwelche Nacktfotos von dir befinden?« fragte er.
Lachend bewegte sie sich von ihm fort. »Ja - im Alter von achtzehn Monaten auf einem Eisbärenfell.«
»Hm, wie wäre es mit einem auf dem du achtzehn Jahre alt bist - noch immer jung, aber schon heiratsfähig?«
»Was soll das heißen? Daß ich jetzt nicht mehr jung bin?«
Mike zuckte mit den Achseln. »Jung im Körper, alt im Geist. He! Meinst du, daß Maxie gern Kaviar essen würde? Wir könnten an der Russischen Teestube anhalten und Blinis kaufen.«
Samantha war mit ihren Gedanken noch immer bei dem jungen Körper, in dem ein alter Geist wohnte. »Ich könnte mir vorstellen«, erwiderte sie, »daß sie Kaviar mag. Es hört sich zumindest gut an. Ich hoffe nur, daß uns das Heim nicht zu große Schwierigkeiten machen wird.«
In diesem Moment kam Mike, wie er hoffte, eine gute Idee. »Überlaß das Heim nur mir«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß man sie essen läßt, was immer sie will, und daß man sie in Zukunft nur noch gut behandeln wird.«