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Als Mike dann später vor Samanthas Wohnungstür stand, holte er tief Luft, ehe er anklopfte. Er hatte keine Ahnung, ob das, was er jetzt tat, auch richtig war, aber er suchte das Beste daraus zu machen.

Sie reagierte nicht auf sein Klopfen, und eigentlich hatte er das auch nicht erwartet. Also holte er, das Tablett auf einer Hand balancierend, seinen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloß, öffnete die Tür einen Spalt breit und sah, daß kein Licht brannte. Die Augen zum Himmel hebend, murmelte er, als er sich durch die Tür ins Zimmer schob: »Gib, daß sie nichts Weißes anhat!«

*

Samantha kam langsam zu sich, öffnete widerwillig die Augen und blinzelte ein paarmal in dem grellen Licht, das sie blendete. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie wach genug war, um zu erkennen, daß es ihr Hausherr war, der über ihr stand, ein Tablett in den Händen.

»Was machen Sie denn in meiner Wohnung?« fragte sie stirnrunzelnd und richtete sich in eine sitzende Stellung auf. Aber da war nicht wirkliche Angst in ihrer Stimme, nicht einmal Neugierde. Vielmehr war sie so müde, daß ihr die Knochen wehtaten, und nichts konnte sie dazu bringen, noch groß Anteil zu nehmen an dem, was um sie herum vorging.

»Ich habe ihnen etwas zu essen gebracht«, erwiderte er und stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster. »Ein Menü aus einem der besten Restaurants von New York.«

Samantha rieb sich die Augen. »Ich möchte nichts essen.« Als sie nun richtig wach geworden war, sah sie durch das angrenzende Wohnzimmer zu der geschlossenen Tür ihres Apartments hin. »Wie sind Sie denn hier hereingekommen?«

Lächelnd, als wäre das alles nur ein großer Spaß, hielt Mike seinen Schlüssel in die Höhe.

Samantha zog die Bettdecke bis zum Hals herauf. Nun, da sie wieder voll bei Bewußtsein war, erwachte auch ihr Ärger. »Sie haben mich belogen! Sie sagten, sie besäßen keinen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie sagten ...« Ihre Augen weiteten sich, und sie preßte sich gegen das Kopfteil des Bettes. »Wenn Sie einen Schritt näher kommen, schreie ich.«

In diesem Moment brauste ein Rettungswagen die Lexington Avenue hinunter, und der Klang seiner Sirene, der durch das halboffene Fenster hereinkam, war so laut, daß die Schallwellen die Vorhänge bewegten. »Glauben Sie, daß jemand Sie hören würde?« fragte Mike, sie immer noch anlächelnd.

Nun hatte auch Samanthas Wahrnehmungsempfinden wieder voll eingesetzt. Panik stieg in ihr auf, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelte. Sie bemühte sich jedoch, die Ruhe zu bewahren, schlug die Decke zurück und schickte sich an, das Bett zu verlassen. Mike faßte sie am Arm und sagte im beschwörenden Ton:

»Hören Sie, Sam - es tut mir ja leid, daß ich irgendwie den Eindruck bei Ihnen erweckte, ich sei ein Sexualmonster. Ich bin es nicht. Ich habe Sie geküßt, weil...« Mit einem jungenhaften Grinsen brach er mitten im Satz ab. »Vielleicht sollten wir das jetzt lieber auf sich beruhen lassen. Was ich von Ihnen verlange, ist wichtiger als Sex. Vielleicht nicht annähernd so erfreulich, aber letztendlich weitaus wichtiger. Ich kam zu Ihnen in die Wohnung, weil ich mit Ihnen über Tony Barrett reden will. Ich möchte, daß Sie mich so weit informieren, daß ich ihn aufsuchen kann.«

Samantha hielt abrupt in ihren Bemühungen inne, sich seinem Griff zu entziehen, und blickte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Würden Sie gefälligst Ihre Hand von meinem Arm nehmen?«

»Oh, natürlich«, erwiderte er. Er hatte sie nur am Ellenbogen festhalten wollen, damit sie nicht aus dem Zimmer rannte, weil alles darauf hindeutete, daß sie genau das tun wollte, aber statt sie nur festzuhalten, hatte er die Finger gespreizt, und seine Hand bewegte sich nun an ihrem Arm hinauf. Sie sah keineswegs wie die begehrenswerteste Frau aus, die ihm jemals in seinem Leben begegnet war. Offensichtlich hatte sie seit Tagen kein Bad mehr genommen, hatte fettiges, strähniges Haar und dunkle Ringe um die Augen. Doch trotz ihres zur Zeit nicht gerade vorteilhaften Aussehens hatte es Mike in seinem Leben noch nie so sehr danach verlangt, zu einer Frau ins Bett zu steigen, wie das jetzt bei Samantha der Fall war. Vielleicht waren bei ihm die Frühlingsgefühle erwacht. Vielleicht brauchte er ein langes Wochenende im Bett mit einer von Daphnes Freundinnen. Oder vielleicht brauchte er Samantha.

Sie loslassend, trat er von ihrem Bett zurück. »Ich glaube, wir müssen miteinander reden.«

Als Samantha auf den Wecker auf ihrem Nachttisch blickte und feststellte, daß es zehn Minuten nach elf Uhr abends war, holte sie tief Luft.

»Als wir uns zum erstenmal begegneten, haben Sie mich attackiert. Heute benutzen Sie einen Schlüssel, den Sie angeblich gar nicht besaßen, um sich auf gesetzwidrige, um nicht zu sagen sittenwidrige Weise mitten in der Nacht Zutritt zu meiner Wohnung zu verschaffen. Und nun fragen Sie mich nach einem Mann, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Und Sie wundem sich, daß ich mich aufrege. Mr. Taggert, haben Sie schon jemals das Wort Privatsphäre gehört?«

»Ich habe schon viele Worte gehört«, erwiderte er, ihren Kommentar ignorierend, als ob seine Anwesenheit in ihrer Wohnung nichts zu bedeuten hätte. Statt auf ihre Rechte Rücksicht zu nehmen, setzte er sich auf den Bettrand und sah sie an.

Samantha versuchte erneut, das Bett zu verlassen. »Ihr Verhalten ist unerträglich.«

»Ich bin froh, daß Sie wütend sind. Zumindest ist das besser, als wenn Sie Ihr Leben verschlafen.«

»Was ich mit meinem Leben anfange, geht Sie nichts an«, fauchte sie, während sie aus dem Bett stieg und nach dem Bademantel ihres Vaters griff.

Sich zu dem Tablett umdrehend, das hinter ihm auf dem Tisch stand, nahm Mike die Serviette von dem Brotkorb und holte ein Hörnchen heraus. Er biß in das köstliche Backwerk und sagte dann mit vollem Mund: »Ziehen Sie diesen Bademantel nicht an, er ist viel zu groß für Sie. Haben Sie denn nichts - nichts Mädchenhaftes, das Sie anziehen können?«

Sie blickte ihn ungläubig an und schob trotzig die Arme durch die Ärmellöcher des Bademantels. Dieser Mann war wirklich eine Zumutung! »Ich würde Ihnen empfehlen, wenn Sie etwas - Mädchenhaftes - was für ein altmodisches Wort! - suchen, sich woanders umzuschauen.«

Ihr schneidender Tonfall, ihre feindselige Haltung, ihre direkte Aufforderung, ihre Wohnung zu verlassen, schienen ihn nicht im mindesten zu beeindrucken. Er verzehrte seelenruhig sein Hörnchen und sagte: »Altmodisch oder nicht - es stünde Ihnen besser. Und das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen.«

Samantha hatte die Hand auf den Türgriff gelegt, und als er sie jetzt warnte, hatte sie zum erstenmal Angst vor ihm. Ihm den Rücken zukehrend, merkte sie, daß ihre Hand zu zittern begann.

»Ach, Sam«, rief er mit einer Mischung aus Gekränktheit und Ärger, »Sie brauchen sich doch nicht vor mir zu fürchten! Ich würde Ihnen niemals etwas antun.«

»Und das soll ich Ihnen glauben?« flüsterte sie, bemüht, Ruhe zu bewahren und ihre Angst zu verbergen, was ihr nicht gelingen wollte. »Sie haben mich belogen. Sie besitzen einen Schlüssel zu meiner Wohnung.«

Mike konnte ihrer Stimme anhören, daß sie sich vor ihm fürchtete, und das war das letzte, was er sich wünschte. Sich langsam vom Bett erhebend - nur keine unbeherrschte Bewegung! - ging er zu ihr, aber sie wollte sich noch immer nicht umdrehen. Ganz sacht legte er ihr die Hände auf die Schultern und runzelte die Stirn, weil sie unter seiner Berührung zusammenzuckte, als erwartete sie, von ihm gewürgt oder geschlagen zu werden. So vorsichtig, als wäre sie ein verletztes Tier, führte er sie zum Bett zurück und schlug die Decke auf, damit sie sich wieder hinlegen konnte. Dabei lächelte er sie auf eine Weise an, die sie, wie er hoffte, beruhigen sollte.

»Nein«, flüsterte sie, und ihre Stimme war fast heiser vor Angst.

Es war offenkundig, daß sie glaubte, er wollte sie nur im Bett haben, damit er sich leichter über sie hermachen konnte. Noch nie zuvor hatte ein weibliches Wesen ihn für einen Frauenschänder gehalten. Bisher hatte auch noch kein weibliches Wesen vor ihm Angst gehabt, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Wichtiger noch: Er hatte es keineswegs verdient, daß sie sich vor ihm fürchtete.

»Oh, zum Teufel!« sagte Mike, während er sie nun mit einem unsanften Schubs ins Bett beförderte. Er hatte es satt, von ihr als abartiger Triebtäter betrachtet zu werden, der regelmäßig über seine Mieterinnen herfiel, um sich an ihnen zu vergehen. Er rückte zwei Schritte vom Bett ab, drehte sich um und funkelte sie an. »Okay, Sam, lassen Sie uns ein paar Dinge klarstellen. Ich habe Sie geküßt. Vielleicht sollte ich Ihrer Meinung nach dafür gehenkt werden, oder zumindest kastriert. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die in dieser Beziehung sehr freizügig ist. Was kann ich dazu noch sagen? Daß es Leute gibt, die Drogen an Kinder verkaufen, Serienmörder, Kinderschänder? Und solche Leute wie mich, die hübsche Mädchen küssen, die mich so anschauen, als wollten sie von mir geküßt werden? Bedauerlicherweise sind solche Triebtäter wie ich vor dem Gesetz nicht schuldfähig.«

Die Arme schützend vor ihrer Brust kreuzend, preßte Samantha ihre Lippen zu einem Strich zusammen. »Und worauf läuft das Ganze hinaus?«

»Darauf, daß Sie und ich einen Auftrag durchführen müssen, und ich es leid bin, damit so lange zu warten, bis Sie an die Oberfläche kommen, um Luft zu holen.«

»Auftrag? Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Er brauchte eine Minute, ehe er begriff, daß sie ihm die Wahrheit sagte.

»Haben Sie denn das Testament Ihres Vaters nicht gelesen?«

Ärger und Schmerz wallten in ihr auf, doch es gelang ihr, den Schmerz niederzukämpfen. »Natürlich habe ich es gelesen. Ich wußte auch so schon, was drinsteht.«

»Also haben Sie es nicht gelesen.« Seine Frustration wuchs von Sekunde zu Sekunde.

»Ich wünsche jetzt wirklich, daß Sie gehen.«

»Aber das werde ich nicht, also können Sie sich die Worte sparen. Ich bin es leid, mir noch länger mit anzusehen, wie Sie durchs Haus schleichen, nichts essen wollen, kein Interesse mehr für irgend etwas haben. Wie lange ist es her, seit Sie zuletzt dieses Haus verlassen haben?«

»Was ich tue oder nicht tue, geht Sie gar nichts an. Ich kenne Sie ja nicht einmal.«

»Möglicherweise nicht, aber ich bin Ihr Vormund.«

Samantha sah ihn an, öffnete den Mund, um zu sprechen, schloß ihn wieder und öffnete ihn erneut. Dieser Mann war verrückt! Vormünder gab es doch nur noch in Schauerromanen. Im wirklichen Leben kamen sie nicht mehr vor. Und selbst in diesen Romanen wurden sie nicht für achtundzwanzigjährige geschiedene Frauen bestellt. Wenn es ihr endlich gelang, ihn aus ihrer Wohnung hinauszubefördern, würde sie sofort ihre Sachen packen und dieses Haus für immer verlassen.

Es war nicht schwer für Mike, ihr von den Augen abzulesen, was sie dachte, und das machte ihn wütend. Sie würde ihn anhören, und wenn er sie an ihrem Bett festbinden mußte! Statt sie jedoch zu fesseln - wofür sie ihn zweifellos vor Gericht gebracht hätte -, nahm er das Tablett mit dem Essen, das er für sie bestellt hatte, und setzte es auf ihrem Schoß ab. »Essen«, befahl er.

Samantha wollte sich weigern, hatte aber zu große Angst vor ihm, so daß sie es nicht wagte, sich seinem Befehl zu widersetzen. Als sie jedoch noch immer zögerte, strich er etwas auf eine kleine Scheibe Toast, hielt ihr diese vor den Mund und machte dabei ein Gesicht, als müsse sie damit rechnen, daß er ihr die Nase zuhielt und sie zwangsernährte, wenn sie nicht ihren Mund öffnete. Was sie dann, wenn auch widerstrebend tat. Es war ein Toast mit Gänseleberpastete, eine der köstlichsten Dinge, die sie jemals in ihrem Leben gekostet hatte. Während sie ihren ersten Bissen kaute, entspannte sie sich ein wenig und nahm ihm den Toast, den er ihr nun reichte, aus der Hand.

»Und jetzt«, verkündete Mike, »werde ich reden, und Sie werden zuhören.«

»Habe ich denn eine andere Wahl?« Sie war bereits bei ihrem zweiten Toast. Vielleicht war sie tatsächlich ein bißchen hungrig.    

»Nein. Keine. Sie sind keine sehr gute Zuhörerin, nicht wahr? Sie haben offensichtlich nicht zugehört, als Ihr Anwalt Ihnen sagte, daß Sie das Testament Ihres Vaters lesen sollen.«