Kapitel 10

Aus Vanessas Tagebuch

Ich hatte Angst, schreckliche Angst. Jeden Moment rechnete ich damit, daß die Folterknechte wiederkommen würden. Und mit ihnen dieser Cordez, der sich Hexenjäger nannte.

Er war ein Teufel in Menschengestalt. Grausam wie ein wildes Tier und unberechenbar.

Lieber Gott, wie hatte er mich gequält. Und er hatte sich an meinen Ängsten geweidet. Er und seine Knechte hattenmich körperlich und seelisch fast geschafft.

Und nun hing ich in diesem Verlies.

Es war stockdunkel um mich herum. Irgendwo tropfte Wasser. Das Klatschen der Tropfen auf den kalten Steinboden vermischte sich mit dem Fiepen der Ratten. Die Biester waren überall, strichen um meinen Körper herum und berührten mit ihren fetten Leibern meine nackten Waden.

Es war grauenhaft.

Immer wieder flehte ich zu Gott, daß er mich aus diesem Gefängnis herausholen möge. Oder daß er mir jemanden zur Befreiung schicken möge. Dann dachte ich wieder an einen Freund, mit dem ich den Zauber der ersten Liebe erlebte. Und er hat doch auch gewußt, daß ich in die Klauen des Hexenjägers geraten war. Warum kam er denn nicht? Warum half mir keiner?

Ich wußte genau, wie das Verlies aussah, in dem ich angekettet war. Die Fackeln der Schergen hatten es ausgeleuchtet, als man mich nach unten geschafft hatte.

Der Raum war nur etwas über einen Meter hoch. Ich konnte nicht aufrecht stehen. Zwei Körperlängen waren es bis zur Tür, und in der Breite maß es die Länge von drei ausgestreckten Armen. Die eisernen Manschetten, mit denen man meine Handgelenke angeschmiedet hatte, hatten schon längst meine Haut aufgescheuert. Die Manschetten besaßen kunstvolle Schlösser, doch die Schlüssel wußte ich in den Taschen des Hexenjägers. Zwei rostige Ketten liefen von den Manschetten bis zu den Halterungen in der dicken Wand. Die Ketten erlaubten mir nur einen geringen Bewegungsspielraum.

Ich hatte Durst und Hunger.

Ich wußte nicht mehr, wie lange es schon her war, seit ich die letzte Mahlzeit zu mir genommen hatte. Tage – Wochen? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Was hatte ich nur getan, daß sich das Schicksal so gegen mich gestellt hatte.

Bilder aus der Vergangenheit tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Ich dachte an Bethela, die Zigeunerin, mit der ich durch die Lande gezogen war, meist als Junge verkleidet. Janko hatte sie mich genannt. Und sie hatte gut daran getan, mich als Junge auszugeben, denn Frauen waren in dem von Kriegswirren erschütterten Land Freiwild. Trotzdem hatte ich manchmal eine schöne Zeit verlebt.

Vor der Tür des Verlieses hörte ich plötzlich Schritte. Meine Gedanken wurden unterbrochen. Ich konzentrierte mich voll auf die Geräusche.

Kamen die Peiniger jetzt zurück, um mich zu holen? Der Angstschweiß brach mir aus.

Dann eine Stimme. »Halt! Keinen Schritt weiter!«

Ich lauschte.

Plötzlich hörte ich ein dumpfes Geräusch. Einen Fall, ein gräßliches Röcheln, dann drehte sich quietschend der Schlüssel im Schloß, und die Holztür wurde aufgerissen.

Ich sah die Umrisse eines Mannes. Er hielt eine Fackel in der Hand. Im ersten Augenblick war ich geblendet, so daß ich nur wenig erkennen konnte.

Der Mann kam auf mich zu. Er mußte wohl die Angst auf meinem Gesicht gesehen haben, denn er sagte mit ruhiger Stimme: »Keine Furcht, Mädchen, ich tu dir nichts.«

Ich schluckte. Mit kaum verständlicher Stimme fragte ich: »Was – was habt Ihr vor, Herr?«

»Das wirst du schon sehen.«

Der Mann kniete nieder, holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und schloß die Manschetten auf.

Ich war frei und schämte mich nicht der Tränen, die übermeine Wangen liefen. Vor Schwäche konnte ich nicht aufstehen. Mein Retter mußte mich hochheben.

»Komm mit«, sagte er, »wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Er faßte mich an der Hand. Ich folgte ihm blindlings. Ich wäre überall mit ihm hingegangen, so dankbar war ich.

Vor der Tür sah ich einen Wärter liegen. Er war tot.

Mein Retter führte mich durch einen engen Gang. Dann ging es eine Treppe hoch, danach durch eine Geheimtür, und anschließend mußten wir kriechen.

Doch dann hatten wir es geschafft. Der Gang führte ins Freie, tauchte aus einem von Gestrüpp verdeckten Höhleneingang auf.

Ich wollte noch einen Blick auf das Gebäude werfen, doch der Mann zog mich weiter.

Er hatte gut daran getan.

Plötzlich hörten wir hinter uns ein mörderisches Getöse. Ich warf einen raschen Blick über die Schulter zurück und sah, daß das Schloß in seinen Grundfesten erbebte. Die Mauern bekamen Risse, knickten weg und fielen zusammen in einer riesigen Staubwolke, die das Licht des Mondes verdunkelte.

Mein Gefängnis gab es nicht mehr. Und auch keinen Hexenjäger. Die Trümmer hatten ihn und seine Schergen begraben. Mich durchschoß eine Woge der Erleichterung.

Mein Retter ließ mir keine Zeit für lange Überlegungen. Er tauchte mit mir in einen finsteren Wald ein. Wir mußten uns durch dichtes Unterholz kämpfen. Mehr als einmal peitschten Zweige und kleinere Äste mein Gesicht. Ich spürte den Schmerz, doch er war nichts gegen den, den ich hinter mir hatte.

Ich weiß nicht, wie lange wir gelaufen waren. Plötzlich gelangten wir zu einer kleinen Lichtung, in deren Mitte ein Haus stand. Es war aus Baumstämmen zusammengezimmert worden. Das Dach war schief, und in den Fensteröffnungen befand sich kein Glas.

Mein Befreier schloß die Tür auf. Dann brannte er ein Windlicht an und bat mich, die Hütte zu betreten.

Nach dem Verlies kam sie mir wie das Paradies vor. Es gab zwei Stühle, einen kleinen Tisch, eine alte Kommode und in der Ecke ein Lager, das mit Fellen bedeckt war.

»Nimm Platz«, sagte der Mann zu mir und deutete auf einen Stuhl.

Ich setzte mich schüchtern und strich die langen roten Haare aus der Stirn.

Der Mann betrachtete mich einige Minuten. Ich sah ein seltsames Glitzern in seinen Augen. So hatte mich noch nie ein Mann angesehen. Ich wußte nicht, was ich machen sollte.

Verlegen saß ich auf der vorderen Kante des Stuhls.

»Ich danke Euch«, flüsterte ich. Es waren die einzigen Worte, die mir einfielen.

»Schon gut«, sagte der Mann und strich über mein Haar. »Du wirst sicher hungrig und durstig sein.«

Ich nickte.

Aus der Kommode holte mein Befreier einen Laib Brot, gesalzenen Speck und eine Flasche Wein. Er fand auch noch einen Becher. Er stellte alles vor mich hin und bedeutete mir, zu essen und zu trinken.

Während ich seiner Aufforderung nachkam, blickte er mich wieder so seltsam an. Das Windlicht stand zwischen uns, und ich konnte sein Gesicht erkennen.

Es war ziemlich hager. Selten hatte ich eine so bleiche Haut gesehen. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Brauen waren buschig und schwarz wie Kohle. Die schmalen Lippen erinnerten mich an einen Strich. Die Finger der Hände waren lang und sahen sehr gepflegt aus. Sicherlich war dieser Mann ein besserer Herr, und doch gab es etwas an ihm, das mich vorsichtig werden ließ. Vielleicht war es seine Ausstrahlung, eine Aura des Bösen, die von ihm ausging – ich weiß es nicht.

Als ich einen Schluck Wein trank, lächelte er. Es war ein bestätigendes, keineswegs freundliches Lächeln.

Ich leerte den Becher, aß den Laib Brot bis zur letzten Krume auf und ließ nur etwas von dem Speck übrig.

»Hat es dir geschmeckt?« fragte der Mann, von dem ich nicht einmal den Namen wußte. Ich traute mich auch nicht, ihn danach zu fragen.

»Danke, sehr gut«, erwiderte ich, ließ mich auf dem Stuhl zurücksinken und lehnte mich an. Die Müdigkeit kam wie angeflogen. Ich konnte kaum noch die Augen offenhalten. Ich sah, wie der Mann aufstand und auf mich zukam. Ich wollte etwas sagen, doch da hatte mich der Schlaf bereits übermannt.

Ich merkte nicht mehr, wie mich der Mann zum Lager trug und langsam darauf niedergleiten ließ …

***

Vogelgezwitscher weckte mich am anderen Morgen. Durch das Fenster schien die Sonne und malte einen breiten hellen Streifen auf den festgestampften Lehmboden der Hütte.

Ich setzte mich auf.

Im ersten Augenblick wußte ich nicht, wo ich war, dann fiel mir wieder meine unerwartete Rettung ein – und …

Mein Befreier war verschwunden!

Ich sah an mir herab. Ich trug noch immer die gleiche Kleidung, es war alles wie am Abend vorher – bis auf eines …

Ja, bis auf das komische Kitzeln in meiner Kehle. Es war ein komisches Gefühl. Ich wollte mir die Kehle freiräuspern, das Kitzeln blieb. Auch spürte ich seltsame, nie gekannte Schauer, die meinen Körper durchrieselten. Sie waren nicht etwa unangenehm – nein, das Gegenteil war der Fall.

Und doch fühlte ich mich ziemlich matt, als hätte ich am Abend vorher zuviel getrunken. Aber es waren nur zwei Becher Wein gewesen. Die halbvolle Flasche stand noch auf dem Tisch.

Ich stieg vom Lager und reckte mich. Dabei fühlte ich meine Glieder schwer wie Blei werden. Auch hatte ich leichte Kopfschmerzen. Das Windlicht auf dem Tisch war ausgegangen. Ich verließ die Hütte, spürte die wärmenden Sonnenstrahlen, doch mein Zustand besserte sich nicht.

Von meinem Retter sah ich keine Spur.

Ich ging wieder zurück in die Hütte. Meine Kleidung war zerfetzt. So konnte ich mich nicht unter die Leute wagen. Ich hatte eine Idee und zog die beiden großen Schubladen der Kommode auf.

Ich fand andere Kleidungsstücke. Es waren Männersachen, aber die zu tragen, war ich gewohnt.

Die Kniehosen waren etwas zu weit, aber das machte nichts. Dafür paßte das bunte Hemd, und auch das Wams saß gut. Ich fand auch noch eine Kappe, unter der ich mein langes Haar verbarg, und ein paar weiche Stiefel fielen mir ebenfalls in die Hände. Sie hatten zwar nicht meine Größe, aber ich konnte darin laufen.

Trotz meines kränklichen Zustands hielt mich nichts in der Hütte. Ich wollte weg. Wohin? Das wußte ich selbst nicht, aber ein unerklärlicher Drang zog mich in Richtung Süden.

Mutterseelenallein begab ich mich auf Wanderschaft.

***

Ich ging den gesamten Tag über. Als es dunkel wurde, begab ich mich in einer mit Gras und Moos bewachsenen Mulde zur Ruhe. Bevor ich einschlief, hatte ich eine Vision.

Ich sah eine Burg vor mir, tief in den Bergen gelegen und mit zwei stolzen Türmen. Und plötzlich wußte ich, daß diese Burg mein Ziel sein mußte.

Mit dieser Gewißheit schlief ich ein.

Am anderen Morgen – die Sonne war kaum aufgegangen – rissen mich Stimmen aus dem Schlaf. Verwirrt und noch müde richtete ich mich auf und sah plötzlich die beiden Männer auf mich zukommen.

Es waren wilde Kerle, groß, stämmig und mit dichten Bärten. Die Mütze war während des Schlafes verrutscht, so daß ein Teil meiner roten Haare bis auf die Schultern fiel.

Überrascht blieben die Männer stehen.

Und dann grinsten sie.

Sofort wußte ich, was sie von mir wollten.

Ihre Kleidung war abgerissen. Lang und ungepflegt hingen ihnen die Haare bis auf die Schultern. In den breiten Ledergürteln, die ihre Taille umspannten, steckten Degen.

»Ein Mädchen«, sagte der rechte der beiden plötzlich, war mit zwei Schritten bei mir, hob mich hoch und umfaßte meine Hüfte. Dicht zog er mich zu sich heran. Ich konnte seinen säuerlichen Atem riechen, ekelte mich und drehte den Kopf zur Seite.

»Ho ho«, rief der Kerl, »auch noch eingebildet, die Kleine, was? Na, dir werde ich es zeigen.« Mit der anderen Hand faßte er nach meinem Kopf und drehte ihn so, daß er mich küssen konnte.

»He, laß mir auch noch was«, rief sein Kumpan.

»Keine Angst, du kommst noch dran.«

Der Kerl – ich nahm an, daß es ein Söldner war – wollteseine Lippen auf meinen Mund pressen. Ich konnte nichts dagegen tun, hing wehrlos in seinem Griff.

Da packte mich plötzlich ein unwiderstehlicher Drang. Ganz dicht sah ich seine Kehle vor mir, die gebräunte Haut des Halses, und sah eine Ader darunter zucken.

Ich biß zu.

Der Mann schrie. Ich spürte sein Blut an meinen Lippen. Der Griff lockerte sich. Ich stieß den Kerl weg. Er taumelte auf ein Gebüsch zu, schrie und hielt sich den Hals.

Sein Kumpan wußte im ersten Augenblick nicht, was los war. Dann begriff er aber, sprang vor und zog noch in der Bewegung seinen Degen.

Wutschnaubend stürzte er sich auf mich.

Ich hatte mich blitzschnell gebückt und einen faustgroßen Stein aufgehoben.

Ich schleuderte den Stein noch in der Drehung.

Der Kerl bekam ihn vor die Brust. Sein Gesicht verzerrte sich in wahnsinniger Wut, er fuchtelte wild mit dem Degen, wollte mich mit der Schneide durchbohren, doch ich tauchte geschickt unter dem Stoß hinweg.

Dann war ich bei ihm. Ich packte ihn und warf ihn ungestüm zu Boden. Übereinander fielen wir ins Gras. Er lag unter mir und versuchte verzweifelt, meinen Körper zur Seite zu wälzen.

Wieder biß ich zu.

Der Mann zuckte zusammen, seine Augen weiteten sich erstaunt, dann blieb er schlaff liegen.

Ich stand auf. Meine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Dann ging ich zu den beiden am Boden liegenden Männern und sah sie mir an.

Sie waren tot.

Im ersten Augenblick bekam ich einen Schreck. Als ich die Leichen genauer betrachtete, sah ich, daß sich ihre Kehlen bläulich verfärbt hatten und geschwollen waren. Auch entdeckte ich jeweils zwei nadelspitze Einstiche in Höhe der Schwellungen.

Ich versuchte erst gar keine Erklärungen zu finden, sondern ließ die Leichen liegen und rannte davon.

Ich lief den ganzen Tag über, mied größere Orte und Ansiedlungen, doch gegen Abend – die Sonne sank schon dem Horizont entgegen – verspürte ich Hunger. Es war das erstemal seit meinem Weggang von der Hütte, daß mich dieses Gefühl überkam, für mich auch ein Zeichen, daß es mir wieder besserging, und das, je weiter ich in Richtung Süden ging.

Ich trug keine Karte bei mir, nichts, das mir den Weg weisen konnte, und doch wußte ich, wohin ich zu gehen hatte. Irgendwann in der Nacht – ich hatte mein Hungergefühl erfolgreich bekämpft – schlief ich in einem Wald ein.

Erst gegen Mittag des anderen Tages wachte ich auf. Ich ging weiter, Tag für Tag und oft auch die Nächte durch. Je mehr ich nach Süden kam, um so stärker wurden meine Kräfte. Manchmal lief ich sogar sehr beschwingt. Ich sang und fühlte mich außerordentlich wohl …

Was ich an Nahrung zu mir nehmen mußte, besorgte ich mir. Dann – ich wußte nicht, wieviel Tage ich schon unterwegs gewesen war, und die Menschen redeten in einer mir fremden Sprache – erreichte ich einen Fluß, den ich unbedingt überqueren mußte.

Er war sehr breit, und seine Fluten wälzten sich träge nach Süden. Als ich den Fluß sah und die Schiffe, die darauf fuhren, hatte ich eine Idee: Auf einem Schiff würde ich vielleicht viel schneller mein Ziel erreichen.

Ich ging bis zur nächsten Ortschaft. Hier feierte man wohlein Fest, auf jeden Fall strömten die Menschen scharenweise dem Ort zu.

Die meisten waren zu Fuß. Ich sah aber auch hochbeladene Wagen oder Gespanne und edle Herren, die auf ihren Pferden die staubige Straße entlangpreschten.

Auf mich achtete niemand. Die Menschen hielten mich in meiner Männerkleidung für einen jungen Mann. Den letzten Rest der Strecke setzte ich mich auf das hintere Trittbrett eines mit Körben beladenen Marketenderwagens.

Damit ließ ich mich in die Stadt fahren, deren Hafen ich schon aus der Ferne gesehen hatte.

Vor dem großen Marktplatz sprang ich vom Wagen. Im Nu sah ich mich inmitten einer Menschenmenge. Die Leute strömten auf den Mittelpunkt des Platzes zu.

Ich lief mit. Frauen hielten ihre Kinder an den Händen. Söldner, Offiziere, Soldaten, Bürger, alles war vertreten. Und dann sah ich den Scheiterhaufen.

Die große Holzplattform stand etwas erhöht. Darunter befand sich Reisig, das wohl bald angezündet werden sollte.

Ich kam nicht mehr weiter. Die Menge versperrte mir den Weg. Aber ich hatte Glück und konnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, den Pfahl auf der Plattform sehen.

Man hatte den Verurteilten dort schon angebunden. Eine schwarze Binde verdeckte die Augen. Der Mann schrie wilde Beschimpfungen, bis ein Stadtwächter auf die Plattform kletterte und ihm ins Gesicht schlug. Da war der Mann ruhig.

Die Menge starrte und gaffte. Eine Hinrichtung ließ sich niemand entgehen. Dann wurde eine Gasse aus Menschenleibern gebildet, damit die Honoratioren der Stadt durchkamen.

Voran schritt der Herold. Er trug einen flachen Hut miteiner geschwungenen Feder auf dem Kopf. Er hatte den rechten Arm ausgestreckt. Die Hand hielt eine Trompete. Er führte sie zum Mund und schmetterte ein Signal in den klaren Morgenhimmel.

Hinter dem Herold gingen der Richter und der Bürgermeister, ältere Leute mit verschlossenen Gesichtern. Vor der Plattform blieben die drei Männer stehen. Der Bürgermeister verlas mit lauter Stimme das Urteil. Als er geendet hatte, johlte und pfiff die Menschenmenge begeistert.

Drei Schergen liefen herbei und zündeten den Reisighaufen an. Im Nu loderten die Flammen auf.

Rauch und Qualm nahmen mir die Sicht.

Dann hörte ich die Schreie des Opfers. Sie gellten mir noch in den Ohren, als ich bereits den Hafen erreicht hatte.

Dort herrschte ebenfalls reger Betrieb. Marktstände waren aufgebaut, und Händler boten ihre Waren an. Ohne mich erwischen zu lassen, stahl ich zwei Äpfel. Ich kauerte mich auf ein altes Faß und aß sie mit Heißhunger auf.

Plötzlich hörte ich Pferdegetrappel. Zehn Berittene sprengten über das holprige Pflaster.

»Die Werber kommen!« brüllte eine Stimme. »Flieht, die Werber kommen!«

Der Schrei des Warnenden verstummte. Man hatte den Mann einfach niedergeritten.

Ich versteckte mich hinter dem Faß. Die Reiter sprengten vorbei. Ich riskierte es, hob den Kopf und sah, daß die Wege zum Hafen hin ebenfalls von Werbern abgesperrt waren.

Wenn ich den Leuten in die Hände fiel, war ich verloren.

Ich verließ meine Deckung, mischte mich unter die schreienden Leute und rannte auf den steinernen Kai zu, von dem einige Holzstege bis zu den angelegten Booten führten.

Ohne daß mich jemand beachtet hätte, huschte ich aufeinen der schweren Kähne. Er hatte noch keine Segel gesetzt. Auf Deck sah ich auch keinen Menschen, und es gelang mir, mich im Bauch eines Schiffes zu verstecken.

Es war ein Loch, in das ich geraten war. Nicht viel größer als mein Verlies auf Schloß Mummelsee. Durch eine winzige Öffnung fiel Licht in mein Versteck. Ich sah eine alte Truhe, auf der eine Taurolle lag. Mit großer Kraftanstrengung gelang es mir, die Truhe zur Seite zu schieben. In dem Spalt zwischen Truhe und Wand hockte ich mich nieder.

Jetzt hieß es warten.

Das Klatschen des Wassers an der Bordwand des Schiffes machte mich schläfrig, und es dauerte gar nicht mal lange, da waren mir die Augen zugefallen.

Ich erwachte durch Stimmengewirr. Männer schrien über mir auf Deck Befehle. Und wenig später legte der Kahn ab.

Ich hoffte nur, daß er in Richtung Süden fuhr und hoffte weiter, daß niemand diesen Raum, in dem ich mich befand, betrat.

Doch mein zweiter Wunsch ging nicht in Erfüllung.

Über mir wurde eine Luke geöffnet. Dann sprang ein Mann in mein Versteck. Er hatte die Luke nicht geschlossen, und ich sah den Sternenhimmel funkeln.

Ich wagte kaum zu atmen.

Der Mann, ein ziemlich fetter Kerl mit einem gewaltigen Schmerbauch, machte sich an der Truhe zu schaffen.

Noch hatte er keinen Verdacht geschöpft, und ich betete, daß es so blieb.

Plötzlich stutzte der Mann. Ihm war aufgefallen, daß etwas nicht stimmte. Er beugte sich weiter vor. Eine Wolke von Schweißgeruch streifte meine Nase. Ich machte mich so klein es eben ging.

Aber nicht klein genug.

Der Mann entdeckte mich.

»Ha!« rief er. Dann schoß seine Pranke vor. Er riß mir die Mütze vom Kopf. Seine Finger wühlten in meinem langen roten Haar.

Wie eine Puppe zog er mich hoch. Er mußte Bärenkräfte besitzen. Er sagte irgendetwas, das ich nicht verstand und schlug mir mit der freien Hand ins Gesicht.

Ich schrie, er lachte.

Dann warf er mich gegen die andere Wand.

Schwerfällig kam er näher. Sein Blick war starr auf meinen Körper gerichtet. Mir war klar, was er von mir wollte, und da überkam es mich wieder.

Ich ließ ihn dicht an mich heran, und als er dachte, leichtes Spiel zu haben, biß ich zu.

Der fette Kerl stöhnte, dann fiel er zurück.

Ich setzte mir meine Mütze wieder auf den Kopf, sprang hoch und bekam mit beiden Händen den Rand der Luke zu fassen. Ein Klimmzug, und ich war an Deck.

Nur wenige Laternen brannten, aber ihr Lichtschein reichte aus, um den zweiten Mann zu sehen, der – wohl durch die Schreie und Geräusche angelockt – auf die offene Luke zustürmte.

Er hielt eine Axt in der Hand.

Ohne ein Wort zu sagen, schlug er zu. Es gelang mir auszuweichen, und die scharfe Schneide splitterte das Holz des Lukenrandes auf. Ich war schnell in seinem Rücken, und mein Tritt traf seine Hüfte.

Er fluchte, wollte sich herumwerfen, aber da war ich schon über ihm, und der Drang war wieder in mir.

Jetzt befanden sich schon zwei Tote auf dem Schiff.

Ich rollte die Leiche in die Luke. Dann sah ich mich um. Das Schiff fuhr tatsächlich in Richtung Süden. Ich erkannte es an den Gestirnen. Meine Hoffnung stieg wieder. Selten hatte ich mich so gut gefühlt wie in diesen Augenblicken. Am Heck des Schiffes sah ich das hölzerne Steuerhaus und die Umrisse des Steuermanns, der das Ruder hielt.

Über mir blähte der Nachtwind die Segel. In deren Schutz schlich ich auf das Steuerhaus zu.

Der Mann am Ruder bemerkte mich nicht. Er wurde erst stutzig, als ich mich dicht hinter ihm befand.

Rasch drehte er sich um.

Da hatte ich ihn schon gepackt. Die Überraschung war auf meiner Seite. Ich drückte ihn vom Ruder weg, preßte ihn gegen die Wand des Steuerhauses und biß rasch zu.

Er stieß nicht einmal einen Todesschrei aus. Leblos sackte er zusammen. Ich schleifte die Leiche aus dem Steuerhaus und hievte sie über die Bordwand.

Der Mann bereitete mir keine Sorgen mehr.

Ich begab mich wieder in das Steuerhaus. Obwohl ich von der Seefahrt keine Ahnung hatte, traute ich mir doch zu, das Schiff die Nacht hindurch zu steuern.

Was der andere Tag brachte, mußte ich erst einmal abwarten.

***

Ich fand mich mit der Steuertechnik des Schiffes ganz gut zurecht. Zudem war das Wasser des Flusses – er hieß Thöne, wie ich hinterher erfuhr – ziemlich ruhig. Es gab keine Strudel oder Stromschnellen. Zu meinem Glück frischte auch der Wind nicht auf, so daß der schwerfällig wirkende Kahn gleichmäßig die Wellen durchschnitt.

Ich hatte mich die Nacht über im Steuerhaus aufgehalten. Meine Befürchtung, daß der Kahn von irgend jemand gestoppt werden könnte, hatte sich nicht bewahrheitet. Als die Sonne langsam über den Horizont kletterte, wurde es Zeit für mich, das Schiff zu verlassen.

Mit einigem Geschick gelang es mir, den Kahn in Ufernähe zu steuern. Links und rechts des Flusses ballte sich noch das Grau der Dämmerung. Zusätzlich trieben die Schwaden von Morgennebel über das Wasser. Mir war lange kein Schiff mehr begegnet, und so konnte ich sicher sein, daß auch mein Verlassen des Kahns nicht bemerkt wurde.

Ich sprang kurzerhand ins Wasser.

Es war kalt. Ich sah zu, daß ich schnell ans Ufer kam und kroch auf allen vieren eine sanft geschwungene Böschung hoch.

Ich fror jetzt. Die nasse Kleidung klebte mir am Körper. Um mich aufzuwärmen, begann ich zu laufen. Das Haar es war ebenfalls naß geworden – hatte ich wieder unter der Mütze versteckt.

Schon bald wurde mir wärmer. Meine Kleidung begann zu dampfen. Die ersten Sonnenstrahlen glitten über das Land und verbreiteten den Zauber eines wunderschönen Morgens.

Nach Süden, immer nur nach Süden, das war meine Parole.

Ich ließ die Flußauen hinter mir, und gegen Mittag sah ich in der Ferne die Gipfel einiger Berge. Klar und deutlich hoben sie sich gegen den Himmel ab.

Davor begann ein weites, mir unendlich lang erscheinendes Hügelland, das langsam in die Ausläufer der Berge hineinwuchs.

Verteilt zwischen den Hügeln lagen kleinere Orte und Städte. Ich stand etwas erhöht, und die Häuser wirkten wie Spielzeuge.

Auf meiner weiteren Wanderung begegnete ich zahlreichen Menschen. Sie sahen anders aus als in Deutschland. Ihre Haare waren meist schwarz, die Haut war von der Sonne gebräunt. Mir fiel ein, daß Bethela mir mal von einem Land berichtet hatte, das Spanien hieß, und in dem die Kirche und die Inquisition einen sehr großen Einfluß hatten. Sollte es das Land hinter den Bergen sein? Lag dort mein Ziel?

Wie dem auch sei, nicht mehr lange, dann würde ich es erreicht haben.

Aber es dauerte noch über eine Woche, bis die Berge endlich näher rückten. Die Menschen, die hier lebten, waren ärmlich gekleidet und sehr mißtrauisch.

Als ich auf einem Bauernhof einmal um ein Glas Wasser bat, jagte man mich mit Hunden vom Hof.

Ich ging weiter, näherte mich immer mehr meinem Ziel. Ich hörte in meinem Innern schon die Lockrufe. Ich wußte, daß auf der Burg Freunde und Gefährten auf mich warteten.

In meinen Träumen sah ich die Burg immer vor mir. Ja, ich hätte sie sogar malen können.

Die letzte Wegstrecke wurde immer schwieriger, doch die Nähe des Ziels beflügelte mich. Ich sah jetzt Berge, so hoch, daß sie fast den wolkenlosen Himmel zu berühren schienen. Der Anblick überwältigte mich immer wieder.

Und dann stand ich endlich vor der Burg.

Sie befand sich dicht vor meinen Augen und sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Vor Freude erfaßte mich ein Taumel. Mit weichen Knien ging ich auf das große Tor zu. Ich hatte es noch gar nicht erreicht, da wurde es geöffnet.

Er stand vor mir.

Mein Retter!

Er sah noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Groß, hochgewachsen, mit schwarzgrauem Haar. Er trug einen dunklen Umhang mit einem hohen steifen Nackenkragen. Die enge Hose war ebenfalls schwarz, die Weste weiß.

Die Sonne war mittlerweile schon versunken. Ein letzter Strahl noch fiel in den kleinen Talkessel und brach sich auf dem Amulett, das mein Retter an einem blauweißen Band auf der Brust trug.

»Willkommen, meine Treue«, sagte er und breitete die Arme aus. »Ich sehe, du bist meinem Ruf gefolgt.«

Ich lief auf ihn zu. Die Mütze hatte ich abgenommen. Mein langes rotes Haar wehte wie eine Fahne hinter mir her.

Er umarmte mich. Unter dem Druck seiner Hände fühlte ich mich ungeheuer geborgen. Vergessen waren die Strapazen der langen, beschwerlichen Reise, für mich gab es nur noch ihn.

Ich erlaubte mir eine Frage.

»Wie heißt du?« wollte ich wissen.

»Ich bin Diablo Negro«, erwiderte er. Seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Aber jetzt komm«, sagte mein Retter, »ich werde dich den anderen vorstellen.«

Arm in Arm gingen wir auf das Schloß zu.

Die anderen warteten in der Halle. Es waren nur Frauen, eine schöner als die andere.

Ich bekam Namen genannt, konnte sie mir aber nicht merken.

»Bereitet ihr ein Bad«, sagte mein Retter, »und danach schickt sie zu mir.«

Zwei Frauen kümmerten sich sofort um mich. Sie brachten mich in die Badestube. Ich konnte noch immer nichts sagen. Die Pracht des Schlosses hatte mich überwältigt.

Die beiden Frauen halfen mir beim Auskleiden. Ich fand gar nichts dabei.

»Du hast einen schönen Körper«, sagte diejenige, die sich mit dem Namen Arabella vorgestellt hatte. »Der Meister wird sich freuen.«

Ich lächelte verschämt und stieg dann in die Wanne. Arabella wusch mich, während die andere Frau frische Kleidung besorgte.

»Dir zu Ehren werden wir heute nacht ein Fest feiern«, teilte Arabella mir mit. »Du wirst aufgenommen in unseren Kreis und von diesem Zeitpunkt an für immer zu uns gehören. Dein Leben« – sie betonte das Wort Leben besonders »wird in anderen Bahnen verlaufen. Du bist eine der Auserwählten. «

Ich war glücklich.

Nach dem Bad zog ich ein langes Kleid an. Es war aus einem duftenden Stoff genäht und schimmerte hellblau. »Und jetzt gehen wir zu ihm«, sagte Arabella.

Ich nickte freudig.

Der Meister lebte in einem der unterirdischen Räume der Burg. Er lag in einem Sarg aus Marmor. Sosehr mich dieser Anblick im ersten Moment befremdete – er erschreckte mich nicht. Die Frauen hatten Fackeln angezündet. Sie hielten sie hoch und leuchteten damit das Gewölbe aus.

Als der Meister mich sah, richtete er sich auf. Zwei Frauen halfen ihm aus dem Sarg.

Diablo Negro kam auf mich zu. Seine Lippen strichen über meine Wange.

Sie waren eiskalt.

Aber seltsamerweise schauderte ich nicht zurück, die Berührung erregte mich.

Der Meister führte mich tiefer in das Gewölbe hinein. Ichsah zahlreiche Nischen, in denen Steinsärge standen. Die Särge waren mit weißen Kissen gepolstert. Am Fußende standen jeweils die Namen.

Vor dem letzten Sarg in der langen Reihe blieben wir stehen. Ich senkte den Blick.

VANESSA las ich.

»Es ist dein Sarg«, hörte ich die Stimme des Meisters. »Ich habe ihn nur für dich anfertigen lassen. Gefällt er dir?«

»Ja«, sagte ich. »Mir gefällt alles, was du machst. Hätte ich sonst die lange Reise unternommen?«

Er lächelte. »Du konntest nicht anders, Vanessa.«

Ich sah zu ihm hoch. Der Fackelschein hatte einen blutroten Schimmer über sein Gesicht gelegt.

»Warum konnte ich nicht anders?« wollte ich wissen.

»Darum nicht.«

Er öffnete plötzlich den Mund. Und da sah ich die beiden langen Vampirzähne, deren Spitzen bereits seine Unterlippe berührten.

Diablo Negro war ein Blutsauger, und ich sollte seine Geliebte werden …