Kapitel 9

Gonny verriet sich nicht mit dem leisesten Geräusch. Noch nie hatte er einen so prächtigen Sarg gesehen. Er war aus feinstem Marmor. Der schwere Deckel lehnte an der Wand, und Gonny konnte einen Namen lesen, der in den Deckel hineingehämmert war: DIABLO NEGRO.

Das mußte der Name des Mannes sein, der in dem Sarg lag. Er war auf rotem kostbarem Samt gebettet worden. Unter seinem Kopf lag ein weißes Kissen.

Diablo Negro war ein Vampir.

Er hatte den Mund etwas geöffnet. Gonny erkannte deutlich die beiden spitzen Zähne, die dieser Blutsauger in den Hals seines Opfers treiben würde.

Für Gonny war es eine schreckliche Entdeckung.

Der Vampir war altmodisch gekleidet. So lief man heute nicht mehr herum. Ein schwarzer Umhang lag um seine schmalen Schultern. Der Kragen war steif wie Pappe. Diablo Negro trug eine schwarze Hose und dazu eine weiße Weste. An einem blauweißen Band lag ein goldenes Amulett vor seiner Brust. Es glänzte.

Atemlos beobachtete Gonny weiter. Er glaubte zu träumen.

Jetzt hob der Vampir seine rechte Hand. Er faßte nach Serenas Arm und zog sie zu sich.

»Erzähle«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme.

Serena kniete sich hin. In ihren Blicken lag völlige Hingabe, als sie den Vampir ansah.

»Heute ist jemand in unsere Burg gekommen. Ein Mann«, berichtete sie.

Die anderen Frauen lachten. Sie hatten sich vorgebeugt und hörten gespannt zu.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?« wollte Diablo Negro wissen.

»Noch nichts. Wir spielen mit ihm.« Bei dem letzten Wort bleckte Serena die Zähne. Gonny sah zwei lange Vampirhauer, und er bekam es mit der Angst zu tun. Wenn er daran dachte, daß Carmen, die sich um ihn gekümmert hatte … Gonny wollte den Gedanken nicht fortspinnen.

»Wann wollt ihr ihn denn zur Ader lassen?« erkundigte sich Diablo Negro. »Ich wette, ihr giert nach frischem Blut. Es muß doch bald soweit sein. Immer kann der ›normale‹ Zustand ja nicht andauern. Wann braucht ihr wieder Blut?«

»Bald«, flüsterte Serena, »aber erst einmal werden wir uns mit ihm vergnügen. Er ist auch nicht allein gekommen.«

»So?«

»Ja, ein Freund war noch bei ihm, aber das kann Carmen besser erzählen, sie hat sich seiner angenommen.«

Carmen trat dichter an den Sarg. »Der Kleine ist harmlos. Ein Aufschneider, ein leichtes Opfer. Fast schon ein zu leichtes. Der schläft in jeder Lage und bei jeder Gelegenheit.«

Gonny platzte oben in seinem Versteck fast vor Wut. Wie diese Weiber von ihm sprachen! Aber denen würde er es zeigen. Er würde keine Gnade kennen. Er wünschte ihnen alle Schrecken der Hölle. Sie sollten etwas erleben!

Gonny hörte gar nicht mehr, was die Frauen noch sagten. Er hielt es kaum in seinem Versteck aus und machte sich aus dem Staub. In der Bibliothek glaubte er sich sicher.

Es war ein großer, ziemlich finsterer Raum.

Er besaß hohe Fenster mit Scheiben, die durch Bleiglasrahmen mehrmals unterteilt waren. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und der am Himmel stehende fahle Mond schickte einen bleichen Lichtstreifen in die Bibliothek.

Gonny sah sich sicherheitshalber um. Er war allein.

Dann machte er sich auf die Suche nach Vanessas Tagebuch. Die hohen Regale reichten bis zur Decke. Sie waren vollgestopft mit alten Büchern und Folianten. Auf vielen Lederrücken war die Schrift schon nicht mehr zu erkennen. Staub und kleine Spinnweben hatten eine Schicht über die Bücher gelegt.

Gonny war kein Dummkopf. Er ging systematisch vor und stellte sehr schnell fest, daß innerhalb der Regale peinliche Ordnung herrschte.

Die Bücher waren nach Jahrgängen geordnet.

Innerhalb von wenigen Minuten hatte Gonny das Buch gefunden. Es war ziemlich groß und in weiches Leder eingebunden. Gonny bezähmte seine Neugierde und blätterte es nicht durch, er wollte auf dem schnellsten Weg zu Jeff Harper.

»Komm herein, es ist nicht abgeschlossen«, antwortete Jeff auf das Klopfen.

Gonny betrat Jeffs Zimmer. Harper saß am Tisch undrauchte. Das Licht einer Kerze strich über sein scharf geschnittenes Gesicht. Die sonst grünen Augen des Mannes sahen dunkel und geheimnisvoll aus.

Gonny schloß die Tür.

Jeff sah ihm an, daß er etwas Schreckliches erlebt hatte. Gonny war noch völlig aufgelöst. Das Tagebuch legte er vor Jeff auf den Tisch.

Harper ließ es dort erst einmal liegen und erkundigte sich, was passiert war.

Gonny berichtete mit atemloser Stimme von den Entdeckungen, die er gemacht hatte. Daß die Frauen Vampirinnen seien und einen gewissen Diablo Negro verehrten, der innerhalb eines Kellergewölbes in einem prunkvollen Marmorsarg schlief.

»Und du hast wirklich gesehen, daß die Frauen Vampirinnen waren?« hakte Jeff nach.

»Ja.«

»Seltsam«, murmelte Harper. »Ich habe bei ihnen die typischen Merkmale vermißt.«

»Vielleicht werden sie nur nachts zu Blutsaugern«, vermutete Gonny.

»Möglich.«

Gonny fuchtelte wild mit den Armen. »Ich verstehe dich nicht, daß du hier so ruhig sitzen bleiben kannst. Wir müssen fliehen. Wir haben gegen die Vampirinnen keine Chance. Komm, laß uns sofort verschwinden. Ich will in der Sonne liegen und pennen, nicht mich mit Sachen rumschlagen, die es nicht gibt.«

Gonny eilte schon zur Tür.

Jeff blickte auf Vanessas Tagebuch. Ihr Name stand auf dem Buchrücken und war noch relativ gut zu lesen. Jeffmußte Gonny recht geben. Eigentlich hielt ihn nichtsmehr auf der Burg. Das Tagebuch hatte er gefunden. Es würde ihm Aufschluß über Vanessas weiteren Verbleib geben.

Jeff stand auf und steckte das Buch unter seine Jacke.

»Okay«, sagte er, »gehen wir.«

Gonny war erleichtert. Er öffnete die Tür, peilte in den Gang, drehte dann den Kopf und flüsterte: »Los, die Luft ist rein. Kein Weibsbild zu sehen.«

Jeff verließ ebenfalls das Zimmer und schloß die Tür. Gonny war schon ein paar Meter vorgelaufen. Er konnte es nicht erwarten, die Burg zu verlassen.

Unangefochten erreichten sie die Treppe. So leise es ging, huschten sie die Stufen hinunter – und erlebten in der Halle eine böse Überraschung.

Sie wurden erwartet.

Sechs Frauen stellten sich ihnen in den Weg. Sie mußten etwas geahnt haben und hatten im Dunkeln gelauert. Rasch kreisten sie die beiden Urlauber ein.

Carmen war die Wortführerin.

»Wo wolltet ihr denn hin?« fragte sie mit falscher Freundlichkeit. Sie mußte beim Sprechen zwangsläufig den Mund öffnen, doch Jeff sah keine Vampirzähne.

»Wir wollten nur etwas frische Luft schnappen«, erwiderte er so gelassen wie möglich.

Abermals kamen ihm Zweifel, ob er es tatsächlich mit echten Vampirinnen zu tun hatte. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte er keine Sekunde gezögert, sich den Weg freizukämpfen, so aber wollte er erst einmal abwarten. Es konnte durchaus sein, daß nicht alle Frauen Blutsaugerinnen waren, und Jeff Harper hatte noch nie in seinem Leben Unschuldige verletzt oder gar getötet.

Carmen blieb weiterhin freundlich. »Geht bitte wiederzurück auf euer Zimmer. Ihr könnt nicht nach draußen. Es wäre zu gefährlich.«

Jeff hätte gern gefragt, was daran so gefährlich war. Er unterließ es aber und fügte sich. Die Frauen sahen den beiden Männern nach, als sie die Treppe hochgingen.

Gonny bekam es wieder mit der Angst zu tun. Er klammerte sich an Jeff und rief entsetzt: »Sie werden uns das Blut aussaugen. Sie werden uns töten und wir …«

Jeff öffnete die Tür zu seinem Zimmer.

»Nimm dich zusammen!« sagte er. »Setz dich an die Tür und paß auf, daß niemand kommt.«

Gonny raufte sich die Haare.

»Du hast Nerven«, sagte er, tat aber dann doch, was Jeff ihn geheißen hatte. Er brummelte unverständliche Worte vor sich hin.

Jeff nahm wieder am Tisch Platz. Er holte Vanessas Tagebuch hervor, rückte das Licht näher und begann zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen hatte er das Gefühl, die Zeit wäre um einige hundert Jahre zurückgedreht worden …