VIERTES KAPITEL
Er war nicht allein, er ist nie allein. Ich sah durch das Fenster, daß ein weibliches Wesen in seinem Kielwasser schwamm.
Elsa würde jetzt wahrscheinlich giftig bemerken, daß ich fünf Mark in die Chauvikasse tun müsste, aber dieser Chef hat nun mal ein Kielwasser, das anders zu formulieren wäre gelogen. Also, das Wesen in seinem Kielwasser wirkte auf den ersten kurzen Blick biblisch, oder was wir – von Hollywood erzogen – so biblisch nennen. Sie trug ein langes Tuch um Kopf und Schultern, wahrscheinlich weil in der Eifel immer ein frisches Lüftchen weht, das die schnieken Friseure hassen, von dem sie sagen, es zerstöre den Typ. Das Tuch war durchsichtig und lindgrün. Unter dem erneuten Stoßseufzer »Das ist ja hier am Arsch der Welt« kam der Chef den Flur entlanggesegelt. Dann brüllte er: »Baumeister? Wirtschaft? Wo ist hier ein menschliches Wesen?« Er füllte den Türrahmen. Der Chef ist groß und massig, sein Haar ist schmutziggrau wie altes Eis, seine Augenfarbe hat noch kein Mensch feststellen können, Sekretärinnen sagen entzückt: »Die changieren!« Er hat aber, dies ist verbürgt, strahlende Augen über einer starken Hakennase. Die wiederum thront über einem starklippigen Mund, den Psychologen verletzlich nennen würden. Mit dem Kinn ist nicht viel los, es ist ein wenig schlaff, hängt bedröppelt herunter, ist der negative Teil, die Verkörperung der Erkenntnis, daß seine Reporter immer ein wenig schlechter sind als er selbst, wäre er je Reporter gewesen.
Er stemmte sich mit beiden Armen in den Türrahmen, als wolle er ihn sprengen. Dann dröhnte er: »Liegt im Bett! Auf der faulen Haut! Antriebslos und phantasiegeschwächt! Wo, mein Gott, sind die alten Zeiten, als die Reporter noch so fickerig waren, daß die Stoffe schneller liefen als ihre Gedanken?«
Das alles sagte er und sah mich an. Dann fiel ihm etwas auf, und er wurde schmal in der Tür und atmete ein wenig laut und hastig. »Mein Gott, Junge, hast du einen Unfall gehabt?« Er glitt neben das Sofa, bekam theatralisch schmale Augen und fragte streng: »War der Arzt schon hier?«
Das mag ich so an ihm, er ist wirklich eine Art Übervater. Wenn es gelingt, seinen voluminösen Baßbariton zu stoppen, ist er so sanft und zart, daß man Angst bekommt.
»Was ist passiert? Hast du einen Arzt?«
»Der Arzt geht aus und ein. Und ich bin verprügelt worden.«
Die biblische Frau mit dem lindgrünen Tuch glitt am Rand meines Blickfeldes vorbei und setzte sich gekonnt in einen Sessel.
»In dieser Sache?«
»In dieser Sache.«
»Du siehst zum Fürchten aus. Hast du Schmerzen? Ist das hinter dem Ohr eine Naht?« Seine Stimme hatte das Dröhnen verloren, er schien auch kleiner geworden zu sein.
Ich erzählte ihm sehr genau, was geschehen war, und reichte ihm die Mitteilung des Ministers. »Die Geschichte ist keine Geschichte, die Geschichte ist zu Ende, wenn Sie dem Minister glauben.«
Er las und sagte: »Hah!«, und fing an zu lachen. Er war wieder laut, zuckte unvermittelt zusammen, erinnerte sich. »Das ist übrigens Patricia. Patricia will die Praxis kennenlernen.«
Das war auch nicht neu. Es gab sehr viele junge Damen, denen er unsere Praxis beibringen wollte. Er strafte jedoch alle Schandmäuler Lügen, denn niemals hatte jemand verifizieren können, sie seien seine Freundinnen. Es war wohl so, daß er ihre jugendlich bewundernden Blicke brauchte und sich damit zufriedengab.
»Guten Tag, Patricia«, sagte ich artig.
Sie murmelte irgend etwas und versank wieder in Bedeutungslosigkeit.
»Darf ich mal deinen Garten anschauen?« fragte der Chef.
»Na sicher. Patricia, machen Sie uns einen Kaffee? Und, Chef, achten Sie auf meine Mauer. Aus Bruchsteinen, ohne Mörtel. Eine Zuflucht für Weinbergschnecken, große rote und schwarze Wegschnecken, Kerbtiere, Spinnen, Erdkröten, Frösche. Ich warte auf den ersten Feuersalamander.«
»Ja, ja«, sagte er und verschwand. Er hatte gar nicht zugehört, er hört nie zu. Ich hatte ihm die Bilder gegeben und kurz darauf sah ich ihn in der Sonne im Gras sitzen und kopfschüttelnd die Fotos betrachten. Das Mädchen namens Patricia kam ein paarmal herein und fragte schüchtern nach dem Standort des Kaffees, des Zuckers, der Tassen, der Milch. Dann sah ich sie mit einem kleinen Tablett den Flur entlanggehen, wie sie durch das Gras lief, das Tablett neben den Chef stellte, rührend wortlos. Er hockte da und schien nicht von dieser Welt.
Patricia brachte auch mir einen Kaffee. Sie hatte das lindgrüne Madonnentuch irgendwo deponiert und sah nicht mehr so biblisch aus.
»Hatten Sie Angst, als dieser Messner Sie schlug?«
»O ja, ich hatte die Hosen voll.«
»Und Sie werden es ihm heimzahlen?«
»Rache? Ich träume davon.«
»Wenn Sie ihn beschreiben und nennen, schaffen Sie sich einen Feind fürs Leben, nicht wahr?«
»Das hoffe ich«, sagte ich. »Wann machen Sie die erste Reportage?«
Sie lächelte und schürzte ein wenig den Mund. »Wenn er mich läßt, morgen«, sagte sie. »Aber er wird mich nicht lassen. Er wird mich in irgendeine dieser trostlosen Abteilungen stecken für Spesenabrechnungen oder Druckkosten, oder so.«
»Wenn Sie eine Reportage machen wollen, darf niemand Sie aufhalten«, sagte ich. Das klang widerlich begütigend, väterlich, wohlwollend.
»Glauben Sie das wirklich?« fragte sie.
»Na sicher«, sagte ich. »Sie nehmen sich ein Thema, sagen niemandem etwas und machen es.«
Sie schien nie daran gedacht zu haben, sie lächelte und ging hinaus. Wenig später sah ich sie unter einem blühenden Holunder hocken, zehn Meter ab von ihrem Herrn und Meister. Der Chef sah sie nicht einmal.
Alfred kam auf den Hof, ließ den Trecker laufen, kam in die Tür. »Ist was?«
»Nichts. Es ist nur der Chefredakteur.«
»Ich dachte, ich guck mal.«
»Du bist mein Schutzheiliger.«
Es wurde Abend, weitab im Süden über dem Moseltal türmten sich Quellwolken hoch und bildeten bizarre schneeweiße Ränder und fast schwarze Flächen aus. John Dos Passos hat das einmal »die weiße Wolkenkappe über dem Gewitter« genannt. Irgendwo westlich tobten bereits Gewitter, das Dorf war sehr still, der Chef hockte noch immer im Gras.
Das Telefon läutete, es war Elsa. »Ich bin in einer Zelle. Ich bin am Hof vorbeigefahren. Als ich das fremde Auto sah, bin ich einfach weitergefahren. Du brauchst nur mit Ja und Nein zu antworten.«
»Komm her. Es ist der Chef.«
»Na gut, ich dachte nur.«
»Du hast richtig gedacht. Du machst überhaupt alles richtig.«
»Das ist ja ein Kompliment, Baumeister.«
»Ja, ja. Komm endlich her.«
Ich hatte das Gefühl, daß die Welt trotz dreier versteckter, verlogener Leichen sehr still war, sehr zufrieden und desinteressiert. Vielleicht war ich nur ungeduldig, vielleicht stimmte beides.
Ich hörte, wie Elsa auf den Hof rollte und gleich in den Garten ging. Wenn ich meinen Hals reckte, konnte ich sehen, wie sie beim Chef im Gras hockte und ernst auf ihn einredete. Dann standen beide auf, er legte den Arm um ihre Schulter und sprach mit ihr. Sie wanderten vor meinem Fenster hin und her. Sie sahen aus wie Psychiater, die sich über den Fall Baumeister unterhielten. Und Patricia hockte noch immer unter dem blühenden Holunder. Endlich kamen sie herein. Der Chef sagte munter: »Ich habe die Kleine losgeschickt. Sie soll in einem Gasthaus was Anständiges zu futtern holen. Tja, mein Lieber, ich denke, wir machen hier so etwas wie eine Kommandozentrale und ziehen die Geschichte durch. Schnell und hart.«
»O Scheiße«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel und weil ich genau das erwartet hatte.
»Keine Widerrede«, sagte er schnell. »Es bleibt deine Geschichte, und du sollst sie auch schreiben. Aber wir machen es schnell und hart. Wenn wir nämlich langsam und betulich vorgehen, kommt irgendein Heini vom Verteidigungsministerium, alarmiert die Geheimdienste, und die lassen uns dann richterlich verbieten zu recherchieren. Sehen Sie das auch so?«
»Das sehe ich auch so. Aber das ist nicht entscheidend. Die können uns das noch verbieten, wenn wir schon im Druck sind. Und sie werden es erfahren, und sie werden es tun.«
»Aber die haben doch keine Ahnung, wieviel wir wissen. Also: sechs oder acht Rechercheure ran, die besten Jungens, die ich habe. Jeder auf eine Spur. Und du sitzt hier wie die Spinne im Netz und nimmst alles entgegen.«
»Und wann wollen Sie fertig sein?«
»In einer Woche.«
Ich sah Elsa an, die ernst und ein wenig bedrückt auf einem Stuhl hockte. Aber sie gab mir kein Zeichen, sagte nichts, schüttelte nicht den Kopf, nickte nicht, sah nicht ergeben zur Decke, nichts.
»Das geht nicht«, sagte ich. »Das ist mir ein paar Nummern zu groß und ein paar Nummern zu schnell. Was ist, wenn wir auf Barrieren stoßen? Auf Informanten, die nicht erzählen wollen, weil sie irgendwie verstrickt sind?«
»Die kaufen wir«, entschied er lapidar. »Geld spielt keine Rolle. Das ist ein dickes Ding, das will ich im Blatt haben.«
»Dann machen Sie es ohne mich«, sagte ich. »Das ist mein letztes Wort. Ich will nichts schreiben, was andere recherchieren. Ich kann das auch nicht. Ich kann nur schreiben, was ich selbst erfahren habe. Und ich will keinen Menschen kaufen.« Ich grinste. »Ich weiß schon: Ihr wollt es schnell und hart machen, um zu verhindern, daß ich erneut verprügelt werde. Richtige Heilige seid ihr. Sie haben mir die Geschichte gegeben, ich gebe sie also zurück. Die Bilder teilen wir. Ich mache die Sache auf meine Weise oder gar nicht. Mit anderen Worten: Ich mache sie leise, oder es ist nicht meine Geschichte.« Ich glaubte, in den Augen von Elsa ein Lachen zu sehen.
Patricia hatte sich an meinen Schreibtisch gehockt und starrte sicherheitshalber ins Nichts. Der Chef schwieg, es war sehr still. Krümel ahnte etwas und schnürte schmal und nervös hinaus.
»Sie sollten das Geld bedenken«, sagte er schließlich. »Ich zahle Ihnen achttausend für jeden Monat, die ersten achttausend sind unterwegs. Aber es geht weiter: Wir werden in dieser Sache Rechte und Nachrichten verkaufen. Und vielleicht wird es eine Fernsehproduktion. Ich gebe Ihnen fünfzig Prozent der Rechte. Wir machen es schnell und hart mit vereinten Kräften.«
»Sie zahlen mir die ersten achttausend. Sie zahlen die Kosten für den Arzt und das Krankenhaus, und ich bin mit der Hälfte der Bilder draußen. Schluß.«
»Aber allein die ersten Nebenrechte werden zwanzigtausend bringen.«
»Es ist nicht das Geld«, sagte ich. »Geld ist es nicht. Es ist eine brutale, verdeckte Geschichte, die Geduld verlangt.«
»Kann ich denn Ihr Haus als Kommandozentrale benutzen?«
»Nein.«
»Seit wann sind Sie kleinkariert und engstirnig?«
Ich war zornig, wütend und enttäuscht, und ich mochte seine Art Journalismus nicht. Ich schrie ihn an: »Verdammt noch mal, dies ist eine brutale Geschichte, und die Gegenseite ist Vater Staat! Und wenn die Gegenseite merkt, daß Sie schnell und hart mit Ihren blöden Rechercheuren einsteigen, wird Vater Staat dieses Haus stürmen und jeden Stein umdrehen. Von diesem Haus wird nichts mehr bleiben, und sie werden auch meinen Garten zertrampeln. Ich habe an dem Garten vier Jahre gefummelt. Da steckt Zen-Buddhismus drin und Taoismus, und es ist mir scheißegal, ob Sie mir glauben oder nicht. Dies ist mein Zuhause und Sie kriegen es nicht für Ihre schnelle, harte Geschichte. Die Gegenseite wird merken, daß Sie loslegen, und sie wird alles wasserdicht machen, alles. Und ich traue Ihren Rechercheuren nicht. Die werden viele Dinge übersehen, weil der Chef einen schnellen Erfolg will. Der Chef braucht eine höhere Auflage, der Chef will in den Nachrichten von ZDF und ARD erwähnt werden. Nehmen Sie Ihre Geschichte und hauen Sie ab!«
Er war blaß, und ich war nahe dran, irgendeine Entschuldigung zu murmeln, daß ich ihn begreifen könne, daß er aber auch mich begreifen müsse und dergleichen mehr. »Geht nicht so miteinander um«, murmelte Elsa. »Du mußt zugeben, Baumeister, daß man ein paar Informanten auch kaufen kann.«
»Natürlich kannst du Informanten kaufen. Jeder Tausendmarks chein wird aus einem Furz einen Taifun machen. Ich habe hier jeden Stein ausgesucht, nach Farbe und Fossilien ...«
»Ich weiß doch, daß du das hier liebst«, sagte sie. »Aber geht denn nicht ein Kompromiß?«
Der Chef nahm das rechte Knie hoch, stützte die Arme drauf und legte sein Gesicht in die Hände. »Du hast ja recht, wir brauchen eine gute Geschichte, wir brauchen hundert gute Geschichten, wir brauchen Auflage. Und ich brauche sie schnell, weil mein Aufsichtsrat ... ach, Baumeister, scheiß drauf, du verstehst nix von meinen Sorgen.«
»Wie kann er das, wenn er sie nicht kennt?« fragte Elsa empört. »Außerdem hat er ständig Schmerzen und sagt nichts, der Indianer.«
»Raus hier«, sagte ich. »Ich habe die Schnauze voll von harten, schnellen Geschichten, die sich hinterher so lesen, als spielten nur Roboter mit.«
Der Chef stand auf. »Nein, Baumeister, ich flehe dich nicht an, ich schmeiße dich aus der Geschichte raus und mache sie selbst. Wir sind geschiedene Leute. Ich habe es nicht nötig ... ach, verdammt noch mal, du könntest dir eine goldene Nase verdienen.«
»Mit einer goldenen Nase kann ich nicht mehr riechen«, sagte ich giftig. »Und nun nehmen Sie Ihren Troß und verschwinden Sie.«
»Sie sind ein Sturkopf mit heiligen Regeln über edlen Journalismus. Wir sind zivilisierte Leute ... Lassen Sie mich es anders sagen: Es wird einen Mann oder eine Frau geben, die genau weiß, was geschah, und die den gesamten Hintergrund kennt. Und den oder die kaufen wir. Notfalls gegen ein Einfamilienhaus ...«
»Ja, leider. Haut ab.«
Elsa beugte sich vor. »Dir geht es doch schlecht, Baumeister, du wirst ...«
Das Läuten des Telefons unterbrach unser Bauerntheater. »Herr Baumeister«, sagte Alfreds Mutter, »ich hätte da eine Bitte. Der Steuersachverständige ist gekommen, und Alfred wußte das, aber Alfred ist nicht da. Ich weiß auch nicht, was der sich so denkt. Oben hinter dem Sportplatz will er Heu machen, und da kann ich ihn ja nicht erreichen. Nicht daß ich was von Ihnen will, aber Alfred muß ja herkommen, es geht ja um die Jahressteuer. Und Alfred vergißt doch so was nie, und ich weiß nicht ... Ob vielleicht Ihre Bekannte mal zum Sportplatz rauffahren kann, und ob sie Alfred das sagt, weil ich ja weiß, daß Sie flachliegen. Wie geht es Ihnen denn?«
»Mir geht es gut, Mutter Melzer. Sie machen sich Sorgen, nicht wahr?«
»Na ja, ein bißchen.«
»Ich erledige das schon«, sagte ich und legte auf.
»Ist was mit Alfred?« fragte Elsa.
»Nein, nein«, sagte ich schnell. »Ich möchte mal in den Garten. Holst du mir Jeans und ein Hemd?«
Sie sah mich mißtrauisch an und rührte sich nicht.
»Ich soll trainieren, mich zu bewegen, hat der Arzt gesagt.« Ich schlug die Wolldecke zurück und lag da nackt und zugepflastert.
»O weia«, sagte der Chef genüßlich, »das müssen wir fotografieren.«
»Aber nur gegen Honorar«, sagte ich. »Ich bin jetzt ein Spitzenmodell.« Es ging einigermaßen, ich stand, die ersten Schritte liefen flott.
»Ich hol dir die Sachen«, sagte Elsa hastig.
Patricia stand mit einem Paket in Alufolie in der Tür und murmelte zaghaft: »Sie hatten nix Vernünftiges außer Wildschweinbraten mit Bratkartoffeln und rote Bete.«
»Dann eßt mal schön«, sagte ich. Ich war so wütend, daß ich schmerzlos über die beiden ersten Treppenstufen kam.
Elsa sagte scharf hinter mir: »Es ist nicht notwendig, die Menschheit zu verfluchen, nur weil der Chef eine andere Meinung hat. Ich hole dir die Sachen, und hör auf, den Helden zu spielen. Da ist doch was mit Alfred, oder?«
»Da ist nichts, ich brauche nur frische Luft. Und der Chef ist nicht mein Chef.« Ich hockte mich auf die Treppe und ließ sie vorbei.
Patricia blieb auf dem Weg in die Küche vor mir stehen und sagte: »Ich weiß nicht, ich mag diese alten, verwundeten, faltigen Krieger.«
»Er ist kein Krieger, er ist nur ein irregeleiteter Macho«, sagte Elsa über mir auf der Treppe. Sie war sehr wütend. Dann wurde sie unvermittelt ein wenig sanfter.
»Hör mal, du Sturkopf. Laß dir wenigstens kurz erklären, was mit dieser zweiten Toten ist, dieser Marianne Rebeisen. Ich sagte dir am Telefon, sie sei eine Nutte. Sie war Vollprofi. Die Bruderstraße Nummer 23 in Köln, in der sie gemeldet ist, ist ein Puff. Sie arbeitete in einem Zimmer im ersten Stock und hat oben unter dem Dach eine kleine Wohnung. Die Puffmutter ist ein Mann. Ich habe ihm gesagt, die Rebeisen sei eine alte Freundin von mir. Er wußte wenig von ihr, erzählte aber, daß Männer da waren, die alles über sie wissen wollten. Sie schaffte gut an, eine Spitzenkraft, sagt er, mit sehr viel Stammkundschaft. Ihre privaten Freunde sind Zuhälter und andere Nutten, die meisten kennt er. Er behauptet, daß sie mit ihrem Zuhälter nichts hatte, daß er nicht weiß, wie ihr Freund heißt. Er vermißt sie, hat aber keine Ahnung, wo sie ist. Kannst du dir vorstellen, wie eine Profinutte nachts zu dem Depot in Hohbach kommt und dort mir nichts, dir nichts erschossen wird, achtzig Kilometer vom Puff entfernt?«
»Das ist der Punkt«, sagte ich. »Wir müssen herausfinden, wie sie nach Hohbach kam. Da gibt es keinen Bus und keine Eisenbahn. Wie ist die Nutte Rebeisen in den Wald gekommen? Mir fällt ein, daß der Doktor erwähnte, die Rebeisen sei die Freundin der Kleiber gewesen, also ist es vielleicht normal, daß sie in Hohbach war. Vielleicht wurde sie zufällig umgebracht, weil sei zufällig beim großen Schlamassel anwesend war. Und jetzt laß mir meine frische Luft.«
Ich zog mühsam die Jeans an und ein Hemd, dann noch Sandalen. Ich kroch langsam durch den Flur vor die Tür und sagte: »Nun eßt mal schön, ich komme gleich.« Elsa war zu wütend, um hinter mir herzukommen. Sie hatte den Schlüssel stecken lassen. Ich ließ den Wagen an und gab Gas. Es war ein gutes Gefühl, nicht mehr hilflos auf einem Sofa zu liegen, und die Schmerzen hielten sich in Grenzen.
Ich fuhr in das Unterdorf hinunter, am Dorfbrunnen vorbei, auf eine alte, schmale Landstraße. Nach sechshundert Metern bog ich in einen Feldweg ab, fuhr am Dorfrand vorbei zurück und bog dann auf die schmale Betonpiste ein, die zum Sportplatz hochführte. Überall waren die Bauern im Heu und grüßten freundlich, wie sie es immer tun.
Auf den ersten Blick war mit Alfred alles in Ordnung. Sein Trecker stand vor dem Heubinder am Waldrand und lief. Lerchen waren über mir.
Alfred reparierte irgend etwas am Hinterrad des Treckers, er schien gebückt an der Achse zu fummeln. Ich konnte nicht näher heran als etwa achtzig Meter.
»Hallo, Landmann!« schrie ich.
Aber dann begriff ich, daß er sich gar nicht bewegte. Er rührte sich einfach nicht.
Ich gab Gas und wurde fast ohnmächtig, als der Wagen auf einer Graswelle hochsprang und zurückfiel, aber ich schaffte es bis zu ihm.
Er konnte nicht fallen, weil er den rechten Arm bis zur Achsel über die Antriebswelle des Heubinders gelegt hatte. Er kniete auf dem linken Knie, das rechte Bein lag bizarr ausgestreckt. Er mußte so ausharren – selbst wenn er tot war.
Da war Blut an seinem Kopf und sehr viel Blut auf seinem hellgraukarierten Hemd.
Er bewegte den Kopf träge zur Seite und lallte etwas. Er hob die Lider mit unendlicher Mühe, aber es wurde kein Blick daraus.
»Alter Mann, hilf uns jetzt«, sagte ich laut. Ich drehte den Treckermotor ab und kniete mich dann vor Alfred. »Was ist denn, verdammt noch mal? Hast du mal wieder im Fahren die Kerzen ausgewechselt?«
Er grinste, es war nicht zu fassen, er versuchte zu grinsen. Aber es blieb ein Versuch, und wahrscheinlich wurde er vor lauter Erleichterung ohnmächtig. Er hatte das Gesicht voller Platzwunden.
Ich machte meine rechte Wagentür auf, schob den Sitz ganz nach vorn und legte ihn flach.
»Komm jetzt«, sagte ich matt. »Ich bin selbst kein Herkules in diesem Moment. Wir müssen dich irgendwie in die Karre kriegen. Los, komm schon.« Aber er kam nicht, er war ohne Bewußtsein.
Ich griff ihn unter den Achseln und hob ihn von der Antriebswelle herunter. Dann konnte ich ihn nicht mehr halten, weil meine Bauchmuskeln nicht mitspielten, und er fiel flach auf den Rücken. Er lallte etwas, aber er war nicht zu verstehen.
»Du mußt das jetzt aushalten«, keuchte ich. »Wir haben hier schließlich kein Telefon.«
Er versuchte wieder zu grinsen und sah einen Augenblick lang tatsächlich so aus, als sei er nur total betrunken. Ich zog ihn langsam Zentimeter um Zentimeter an den Wagen heran. Dann hob ich ihn an den Schultern hoch, so daß sein Kopf in den Wagen pendelte. Es war mühsam, und ich redete ununterbrochen auf ihn ein. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte und dachte. Endlich lag er mit dem Kopf auf der Sitzfläche und dem Hintern vor dem Sitz.
»Scheiß drauf, Liebling«, sagte ich, »es geht nicht besser, dein Arsch ist mir zu schwer.«
Ich fuhr von der Wiese herunter und nahm dann den Weg vom Sportplatz hinunter in das Dorf. Es war etwas weiter, aber der Weg war asphaltiert. Ich mußte am Hof vorbei, weil es eine andere Möglichkeit nicht gibt, und sah sie erregt gestikulierend und wild winkend vor der Tür stehen: Elsa, den Chef und die biblische Patricia. Am Dorfausgang gab ich Vollgas in Richtung Gerolstein. Ich sah, wie Alfreds Hand sich in die Polsterung krallte, und schrie: »Bleib ruhig, Junge, gleich sind wir da.« Ich hatte rund sechzehn Kilometer vor mir, und die Straße schien ein Treffpunkt aller Eifelbauern zu sein, die gemütlich mit ihren Treckern des Weges zogen, zufrieden mit des Tages Arbeit.
Ich fluchte lang und anhaltend und versuchte, so zu fahren, daß ich scharfes Bremsen vermeiden konnte. Aber die schnellen Laster mit dem Geroisteiner Sprudel, die mir in Richtung Ruhrgebiet entgegenzogen, schienen sich einen Sport daraus zu machen, mich zu behindern. Ich schaltete alle Lichter an, die Notbefeuerung eingeschlossen, und ging nicht mehr von der Hupe. Ich spürte, wie Alfred sich neben mir bewegte, und dann hörte ich ihn unflätig fluchen, und immerhin verstand ich ihn jetzt. »Sei ganz ruhig«, brüllte ich. »Wir sind gleich in Gerolstein. Wer war es?«
»Bbbunnnesweeer«, lallte er. »Sssiemlich viele, vier, sechs, weisss nich.« Sein Kopf klappte zur Seite ab.
»Einfach so? Oder haben die was gesagt?«
»Biller«, lallte er, und ich wußte nicht, was er meinte.
»Noch mal.«
»Bbbilllerbbbillller.«
»Die Bilder. Du meinst, die Fotos.«
Er nickte.
»Laß es gut sein, macht nix. Wir müssen erst mal wissen, was mit dir ist.«
Ich kam jetzt in das Industriegebiet, in dem der Verkehr erheblich dichter war. Ich mußte mit der Geschwindigkeit heruntergehen. Ich fuhr eine lange Einbahnstraße in die verkehrte Richtung, um abzukürzen. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, ich weiß nur, daß ich an der Notaufnahme des Krankenhauses zu spät auf die Bremse ging und voll in das hohe geschlossene Rolltor krachte. Rechts von mir sah ich schemenhafte Bewegungen, und ein Mann schrie dauernd: »Der ist doch besoffen, der ist doch besoffen ...«
Links von mir erschien ein Gesicht, das ich kannte. Es war der Arzt, der mich geröntgt hatte.
»Sieh mal an«, sagte er munter und gut gelaunt, »wen haben wir denn da schon wieder?«
»Der da braucht Sie«, sagte ich, »ich bin o. k.«
»Schafft den Beifahrer raus und in die Ambulanz!« schrie er. Dann bückte er sich erneut zu mir. »Kommen Sie mal mit«, sagte er. »Sie sind so blaß um die Nase. Ist das jetzt eine Fortsetzung?«
Neben mir nahmen sie Alfred behutsam heraus, legten ihn auf eine Bahre und trugen ihn im Laufschritt davon.
»Was ist mit ihm? Unfall?«
»Verprügelt«, sagte ich. »Wie ich.«
»Steigen Sie mal aus«, sagte er und grinste.
»Ich bleib sitzen, mir geht es gut.«
»Das denke ich mir. Sie sehen ja auch blendend aus.«
»Ich bin vollkommen in Ordnung.«
»Na gut«, sagte er gemütlich und riß die Tür ohne Vorwarnung auf.
Ich verlor den Halt und kippte aus dem Wagen. Ich hörte noch, wie er befriedigt »Siehste!« schnaufte.
Als ich erwachte, lag ich auf einer harten dunkelgrünen Liege in einem Raum, der vollkommen gefliest war. Jemand dicht über meinem Kopf sagte mit Genuß: »Der Mann hat tatsächlich nichts. Ist bloß vollkommen überarbeitet, total verprügelt und ansonsten total im Eimer.«
»Was ist mit Alfred?«
»Wer ist denn Alfred?«
Mein Blickfeld wurde klarer, es war ein Arzt. »Was ist mit dem Mann, den ich hergebracht habe?«
»Na ja, wie das so ist bei Prügeleien ohne Handschuhe. In welcher Kneipe war das denn?«
»Das sage ich nicht.«
»Schade«, grinste er. »Fühlen Sie sich o. k.?«
Ich kam hoch und setzte mich hin. »Es geht schon. Was ist mit dem Mann?«
»Eigentlich nichts weiter. Schwere Gehirnerschütterung, zwei bis drei Dutzend Platzwunden. Habt ihr einen Profiin eurer Gegend?«
»Ja. Wie komme ich zu Alfred?«
»Geht nicht. Wird unter Narkose versorgt.«
»Dann warte ich eben.«
»Helden wie in einem Wildwestfilm«, schnaufte er und schüttelte den Kopf. »Bleiben Sie noch eine Weile liegen. Es ist doch noch gar nicht so lange her, daß ich Sie verbunden habe, oder?«
»Und es geht ihm gut? Nicht gefährlich?«
»Im Prinzip alles in Ordnung«, sagte er und ging hinaus. Dann kam eine unförmig dicke Frau in einem pink-farbenen Pullover, grauen Rock und diesen entsetzlichen weißen Krankenhaus-Gesundheitsschluffen. Sie sah mich nicht an, hockte sich mit einem Formular auf einen Stuhl und fragte: »Name? Vorname? Kasse? Betriebsunfall?«
»Moment mal«, stotterte ich.
»Sie liegen aber doch bei uns.«
»Nicht freiwillig«, sagte ich.
Sie lächelte böse und murmelte: »Wer liegt hier schon freiwillig? Also gehen Sie wieder? Ich muß den Arzt fragen. Na ja, fangen wir mal an. Behandelnder Arzt?«
»Ihr seid hier schlimmer als das Finanzamt«, sagte ich. »Ich verschwinde.« Ich ließ mich vorsichtig von der Liege herunter und ging hinaus.
Draußen auf dem Krankenhausflur war niemand zu sehen. Ich wanderte eine Weile und richtete mich nach einem grünen Pfeil. Ich erreichte so etwas wie eine trostlose Halle mit Gummibäumen, die so aussahen, als hätten sie die Intensivstation nötig. Da waren sie einträchtig versammelt: Elsa, der Chef, die biblische Patricia und Dr. Naumann.
»Ich habe Dr. Naumann verständigt«, sagte Elsa süßsauer. »Wir dachten, du seist ausgeflippt und wolltest ein Autorennen veranstalten.«
»Ist Alfred irgendwo?«
Naumann sagte: »Ja, aber der schläft noch. Ich bringe ihn nach Hause, wenn er entlassen wird.« Er sah so aus, als sei er entnervt. »Sie sollten sich heimfahren lassen.« Er zog mich beiseite. »Was war denn eigentlich?«
»Bundeswehr.«
»Aber Soldaten prügeln doch nicht.« Er hatte ein graues Gesicht. »Diese Brutalität macht mich ganz krank, die müssen eine Menge zu verbergen haben. Sind die aufgehetzt worden?«
»Sicher. Aber das wird nicht zu beweisen sein. Wer melkt Alfreds Kühe?«
»Ich kümmere mich darum, ich finde jemanden im Dorf. Sie sollten jetzt wirklich nach Hause fahren. Was ist da bloß gelaufen? Gehen Sie heim und schlafen Sie.« Er ging davon und verschwand hinter einer Tür.
Elsa fragte: »Fahren wir jetzt?«
»Ja«, sagte ich.
Der Chef stand da und hielt sein Kinn fest. »Machen Sie die Geschichte, wie Sie wollen«, sagte er matt. »Wenn Sie Geld brauchen, ist das kein Problem. Unterrichten Sie mich privat und passen Sie auf sich auf.«
»Danke«, sagte ich.
Er ging davon auf den Ausgang zu, die biblische Patricia im Schlepptau.
»Er hatte richtig Angst«, sagte Elsa leise.
»Ich auch«, sagte ich. »Und du auch. Laß uns fahren.«