ELFTES KAPITEL
Udo Lindenberg sang, es ginge hinter dem Horizont weiter. Ein paar Zeilen des Textes hatte er wohl aus dem Mülleimer geholt.
Krümel kam gerannt und schubberte sich an meinen Beinen. Natürlich ahnte sie, daß wir fahren würden, aber sie wußte nicht, ob ich sie mitnahm. »Es geht nicht«, sagte ich. Und dann nur scharf: »Nein!« Das verstand sie, trollte sich und ging in eine dunkle Ecke, um zu trauern. Ich hatte mir das so zurechtgelegt, viel wahrscheinlicher war, daß sie sich mit einer Horde wüster Bauernkater verabreden würde, um oben auf den Hügel Spitzmäuse zu jagen.
Elsa trödelte herum und konnte sich nicht entschließen, ob Hosen oder Kleid.
»Ich nehme das weiße Kleid und Pumps. Werden wir übernachten?«
»Man sagt, Münsterländer Bauern seien stur. Nimm also die Zahnbürste mit.«
»Wir können nicht sagen, wer wir sind und was wir schon wissen. Wie wollen wir vorgehen?«
»Ich bin gegen Tricks und gegen Türken. Ganz ohne geht es aber nicht. Schau: Ein weißes Kleid und blaue Schuhe und blauer Gürtel, das ist doch gut.«
»Aber dann brauche ich ein blaues Hemd drüber, ein Männerhemd.«
»Es fängt immer sehr harmlos an. Im Schrank sind blaue Hemden.«
»Findest du meine Brüste noch in Ordnung?«
»Ja, sehr. Jedenfalls sind sie makellos gegenüber meinem Bauch.«
»Was ist mit der Naht über dem Auge und hinter dem Ohr?«
»Es pocht, aber es schmückt mich. So in der Richtung schwer angeschlagener, aber standhafter Held.«
»Trotzdem siehst du aus wie ein Strauß Feldblumen.«
Wir fuhren schnell, auf dem ersten Autobahnstück aus der Eifel nach Köln rauschte ich mit einhundertsechzig zu Tal, an Köln vorbei und wurde aufgehalten, wo alle immer aufgehalten werden. Die AI zwischen Köln und Dortmund scheint vernagelt, ist immer im Bau, immer kaputt, feiert Triumphe bei der Staubildung und läßt Straßenbauer in einem miesen Licht erscheinen. Chet Atkins dröhnte auf WDR 2 Like a Crystal in the Night. Eine klare, gute Gitarre, nicht verschwommen durch elektronische Schleifereien.
Jemand referierte über Glücksreisen, was immer das sein mag, und Elsa fragte: »Können wir nicht zusammen in Urlaub fahren, wenn wir die Geschichte hinter uns haben?«
»Bitte, nein«, sagte ich erschreckt.
Sie war ein bißchen beleidigt, und ich setzte schnell hinzu: »Erst die Geschichte, dann sehen wir weiter.«
»Du bleibst also der Alleinunterhalter?«
»Das ist zu befürchten«, sagte ich. »Ich bin nämlich der einzige, dem ich traue.«
»Du tust mir manchmal ganz schön weh.«
»Das ändert nichts an den Tatsachen.«
Erst weit hinter Dortmund war die Strecke frei, und ich konnte mich wieder beeilen. Wir erreichten Kalkdorf gegen zehn Uhr. Es war ein sehr ordentliches, schmuckes Dorf, die Kneipe hieß Zur Linde und hatte ein Schild in den Butzenscheiben hängen: Schinkenbutterbrote. Es war alles so sauber, daß man die Schinkenbutterbrote vom Gehsteig essen konnte. »Zweites Frühstück«, sagte ich. »Sei nett zu mir, wir sind irgendwie verwandt.«
»Du trickst.«
»Uns bleibt nichts anderes«, sagte ich.
Irgend jemand im Radio dröhnte die zweihundertste Version von King of the Road, ich drehte ab. »Zurückhaltung und sanfte, aber wilde Trauer ist angesagt«, sagte ich.
»Scheiße«, sagte sie.
Die Kneipe war urgemütlich, wenn man das Bemühen bedenkt, sie so aussehen zu lassen, als lebten wir knapp nach dem Dreißigjährigen Krieg. Niemand war zu sehen, wir waren die einzigen lebenden Wesen.
»Ein Tisch nahe an der Theke«, flüsterte ich.
Die Wirtin erschien, wünschte ungeheuer forsch: »Schönen Tach auch«, und fragte: »Soll's was Alkoholisches sein?«
»Nein danke«, sagte Elsa. »Wir möchten gern frühstücken, geht das?«
»Würstchen, Eier auf Speck, ein bißchen Mettwurst, Marmelade selbstgemacht, Brötchen?« haspelte sie herunter. Sie war blond und unnötig dick und scheinbar ganz und gar von dem Gedanken beseelt, die Menschen seien eigentlich gut. Sie strahlte unentwegt.
»Ein bißchen von allem«, sagte ich. »Können Sie uns sagen, wo der Friedhof ist?«
»Aber es ist doch gar keine Beerdigung heute«, sagte sie irritiert.
»Das ist es nicht«, sagte ich und trat Elsa leicht auf den Fuß.
»Mein Mann besucht das Grab eines Kameraden«, plauderte Elsa. »Lorenz Monning, wissen Sie. Zur Beerdigung konnten wir nicht kommen.«
Das Lachen glitt von ihrem Gesicht wie ein Wassertropfen. »Der Lorenz«, sagte sie langsam. »So ein guter Kerl, und dann der Unfall.«
»Es trifft immer die Besten«, sagte ich.
»Ich zeige Ihnen den Friedhof«, sagte sie. Dann war sie wieder um Munterkeit bemüht: »Aber erst mal gibt es Frühstück.«
Wir waren unserer Rolle gemäß sehr schweigsam, während sie mit Bienenemsigkeit den Tisch deckte und uns eine kleine Vase mit Blumen hinstellte.
»Der alte Monning ist völlig von der Rolle«, sagte sie. »Und Lorenz' Frau, die Gabriele, mußte sogar zu einem Nervenarzt, damit sie nicht durchdreht, sagen die Leute. Kennen Sie die Gaby?«
Ich schüttelte den Kopf und Elsa sagte: »Nein.«
»Lorenz wollte ja aufhören beim Bund«, sagte sie. »Der wollte zurück zur Frau und den Kindern und die Höfe machen. Gaby hat mir gesagt, er wollte sich auf Kälbermast spezialisieren. Da ist ja noch was zu holen. Es war ja auch die Rede davon, daß er eine Großschlächterei aufmacht. So Wurst aus dem Münsterland. Und nächstes Jahr sollte er Schützenkönig sein.« Sie arrangierte die Butter, die Milch, das Salz, den Pfeffer. »So nette Kinder, so eine nette Frau. Den alten Monning hat das geschmissen. Na ja, was Wunder.« Dann ruckte sie hoch und schrie durchdringend: »Oma, mach mal ein bißchen schneller, die Leute verhungern mir ja.« Dann vertraulich: »In der Küche herrscht unsere Oma. Bleiben Sie länger?«
»Wir hätten gern ein Zimmer«, sagte ich. »Ich weiß noch nicht, wie lange wir bleiben.«
»Ein Zimmer, jawoll. Ich gebe Ihnen eins nach hinten raus, weil heute abend der Gesangverein im Saal ist, und da ist es etwas laut.«
Das Frühstück war gut, die Wirtin rührend besorgt, wir fühlten uns unbehaglich.
»Waren Sie also ein Kollege vom Lorenz?«
»Ja. Eine andere Einheit, aber ich kannte ihn. Panzergrenadiere.« Das war das einzige, was ich locker dahinsagen konnte.
»Ach so«, sagte sie. »Lorenz war ja auch Ehrenmitglied im Kriegerverein. Es war eine schöne Beerdigung, obwohl die Familie ihn ja nicht mehr ansehen konnte. Muß ja ein furchtbarer Unfall gewesen sein.«
»Furchtbar«, sagte ich.
»Aber gelitten hat er nicht«, sagte Elsa.
»Wollen Sie noch Kaffee?«
Wir wollten keinen mehr, rauchten in Ruhe und warteten auf das Stichwort.
Endlich sagte sie: »Sie gehen also die Dorfstraße runter bis zur Volksbank. Dann links, und dann sehen Sie den Friedhof schon liegen. Lorenz' Grab ist im Familiengrab von Monnings, das größte und erste linker Hand. So ein trauriger Fall.«
Als ich die Tür hinter uns schloß, sah ich sie den Telefonhörer abnehmen.
»Ich finde diese Art der Recherche nicht gut«, sagte Elsa.
Wir gingen ordentlich untergehakt durch die Sonne, und die Leute, die uns begegneten, grüßten freundlich. Der Friedhof war zweigeteilt in einen sehr alten und einen sehr neuen Teil. Das Familiengrab der Monnings war so groß wie eine Vier-Zimmer-Wohnung und besetzt mit Findlingen, auf denen ohne kirchliche Sprüche die Namen der Toten, ihre Geburtstage und Sterbedaten in einfachen Bronzelettern eingelassen waren. Unwillkürlich dachte ich an ein Hünengrab, heidnische Rituale. »Das ist der Adel dieser Gegend«, sagte Elsa. »Die großen Bauern sind schweigsam, gottesfürchtig, sauflüstern und geil.«
»Heh, das ist ja ein gewaltiger Spruch.«
»Na ja, ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte mal einen Freund, der von einem der großen Höfe hier stammte. Zuletzt ging es ihm so schlecht, daß er sich pro Tag nur einen grünen Hering erlauben konnte. Aber den servierte er sich bei Kerzenlicht auf einem alten Silbertablett.«
Eine Frau auf einem Fahrrad fuhr zwischen den Gräbern durch und sah uns mit hochgerecktem Hals sehr intensiv zu, wie wir da in der Sonne standen, fuhr dann gegen einen Begrenzungsstein und fiel unendlich langsam um.
Elsa kicherte grell, und ich sagte schnell: »Reiß dich zusammen, lach in der Eifel.«
»Es ist aber so grotesk«, murmelte sie.
Wir blieben eine halbe Stunde, dann gingen wir zurück, und die Art der Leute auf den Dorfstraßen hatte sich kaum merklich verändert. Sie grüßten herzlicher, uns verbunden. Sie wußten alle, weswegen wir gekommen waren, sie verstanden es alle, und sie fanden es gut. Wir ließen uns das Zimmer geben, und ich sagte kein Wort, während Elsa munter plapperte und der Wirtin Komplimente der Art machte, daß sie das Dorf toll fand und das Frühstück toll und den Friedhof toll und die Landschaft toll.
»Du übertreibst etwas«, sagte ich.
»Laß mich und versink in deiner Trauer.«
»Lach mich nicht aus, aber ich glaube, ich hätte diesen Lorenz Monning gern gekannt.«
»Er war sicher ein seltsamer Mann«, sagte sie. »Und ich weiß immer noch nicht, ob er eine Sau oder ein Heiliger war. Was glaubst du, wer wird als erster kommen?«
»Keine Wetten, wir warten.«
Um ein Uhr gingen wir hinunter in den Schankraum. Ein paar Männer standen am Tresen, sprachen miteinander und tranken ihr Bier. Die Tische waren unbesetzt. Es herrschte sekundenlang vollkommene Stille, als wir eintraten. Dann grüßten sie freundlich und wir setzten uns.
Die Wirtin kam verschwörerisch heran. »Die Gabriele Monning, die Frau vom Lorenz, hat gehört, daß Sie hier sind. Und sie bedankt sich auch schön für Ihr Kommen und läßt fragen, ob sie mit Ihnen sprechen kann.«
»Selbstverständlich«, sagte ich kurz angebunden. »Wo und wann?«
»Vier Uhr zum Kaffee bei Meier zum Hofe. Das ist ihr Mädchenname. Ich würde Ihnen dicke Bohnen in weißer Soße anbieten. Kartoffeln dazu und ein Schnitzel natur.«
»Toll«, sagte Elsa schon wieder. »Die Gabriele wohnt nicht bei den Schwiegereltern?«
»Nein, nein, die haben sich den alten Hof von ihren Eltern eingerichtet. Der war ja eigentlich ein kleiner Bauer, ein kleiner Krauter, wie man so sagt. Ein bißchen Vieh noch, aber sonst nur das, was man braucht, ein paar Hühner und so. Lorenz hat für Gabriele ihr Elternhaus neu ausgebaut, für sie und die Kinder. Lorenz' Hof soll ja stark vergrößert werden, und sie brauchen das Wohnhaus da ja nicht mehr. Soll wohl ein Wirtschaftsgebäude werden, wenn sie das mit der Großschlachterei machen ...«
»Lorenz wollte wieder hier anfangen?« fragte Elsa schnell.
»Ja sicher. Das war der Plan, und die Gabriele hatte das alles ja fest in der Hand. Die ist tüchtig, die ist das, was die Leute clever nennen, die wollte was Neues anfangen, die hat ja auch Managerkurse in Hamburg belegt und alles so was. Na ja, ich verstehe ja nix davon, aber die war dahinterher und die Gemeinde hat sich gefreut, von wegen Gewerbesteuer und so und neue Arbeitsplätze. Sieht ja hier beschissen aus mit den Arbeitsplätzen. Mein Gott, das war damals eine Hochzeit bei den beiden.«
Die Schnitzel hatten den Umfang einer mittelgroßen Bratpfanne, die Kartoffeln schmeckten nach Kartoffeln, die dicken Bohnen waren ein Genuß, nur die weiße Soße war des Guten zuviel.
»Ich würde hier in einer Woche fett«, sagte ich. »Ich frage mich die ganze Zeit, ob die Geheimdienste hier waren. Es spricht einiges dafür, daß sie die Angehörigen völlig rausgelassen haben, weil Lorenz Monning so gut wie nie hier war.«
»Und was bedeutet das für uns?«
»Das bedeutet, daß sie tatsächlich nichts wissen. Aber vorstellbar ist mir das noch immer nicht.«
»Ich bin auf die Frau gespannt«, flüsterte Elsa. »Wahnsinnig gespannt.«
»Ich bin überhaupt nicht gespannt auf die Dame. Sie wird eine der Hausfrauen sein, die alles für sich und die Kinder und den Mann wollen: liebevolle deutsche Mutter, Geschäftsgründung und die erste Million möglichst schnell. Und sie ist gescheitert. Aber dieser Lorenz Monning wird meinem Hirn immer unerträglicher. Er läßt sich von der Frau scheiden, oder er will das tun. Er verspricht einer zweiten Frau die Heirat und kauft mit ihr einen alten Bahnhof, um eine Kneipe und ein Hotel zu machen. Er kriegt von einer dritten Frau ein Kind, deren Freundin eine Mitspionin ist. Gleichzeitig wartet dieses ganze Dorf darauf, daß er demnächst zurückkommt. Und zwar, weil er nicht nur Schützenkönig werden soll, sondern nebenbei auch noch eine Großschlächterei gründen will. Dieser Mann hat etwa vier Karrieren parallel machen wollen, dieser Mann muß schizophren gewesen sein.«
»Vielleicht war er das«, murmelte sie.
Nach dem Essen gingen wir zwei Stunden spazieren, sahen in der Ferne große Höfe, trödelten herum auf Sandwegen, auf denen stahlblaue Mistkäfer herumtorkelten, lagen unter einer Eichengruppe im samtweichen Gras und wurden immer ungeduldiger.
Wir gingen zu Fuß, nachdem wir uns um einige Schattierungen dunkler angezogen hatten. Die Wirtin hatte mir drei Teerosen aus dem eigenen Garten spendiert, weil es einen Blumenladen nicht gab. Elsa hatte auf Make-up verzichtet und sah bleich und edel aus.
Die Hofanlage sah von weitem gut aus, hatte etwas von deutscher Romantik, lag in einer Eichengruppe. Als wir näherkamen, sahen wir den Verfall. Kein Gerät ohne Rost, der landwirtschaftliche Betrieb offensichtlich aufgegeben, in einem nach vorn offenen Bretterverschlag rosteten zwei Traktoren. Das Wohnhaus war neu, sehr aufwendig aus roten Klinkern hochgezogen. Das roch nach Geld.
Es war offensichtlich die Uroma, die uns empfing, eine Frau mit einem schmalen, zerfurchten Ledergesicht auf unglaublich krummen Beinen. Sie murmelte etwas Burschikoses wie »Kommt man rein« und ging vor uns her. Sie hatten wohl versucht, das Haus so zu bauen, wie man sich vorstellte, daß die Herren dieses Landes einst gehaust hatten: pompös und überladen. Hinter der kleinen Diele lag ein hallenähnlicher Raum, der bis in den Dachstuhl reichte: von dunklen Eichenbalken durchzogene Klinkerflächen. Sechs Türenfenster ließen viel Licht einfallen, dahinter ein Garten, gepflegt, sehr sauber. An der Innenwand ein Kamin aus dunklem Stein. Darin ein Feuer und davor eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder.
Gabriele Monning war eine schmale, zierliche Frau um die Dreißig. Sie trug das dunkelbraune Haar lang herunterhängend ohne Schnörkel, und sie war sehr hübsch in einem dezenten, streng englischen Hosenanzug mit einem einfachen Männerhemd aus weißem Leinen. Ihr Schmuck war von Cartier, was nichts sagt außer über den Preis. Sie hockte in einem der Ledersessel, stand auf, drehte sich zu uns und sagte leise und affig: »Ich danke von Herzen für Ihren Besuch. Setzen wir uns.«
»Wir wollten Ihnen unser Beileid aussprechen«, sagte Elsa. »Er war ein feiner Kerl, mein Mann kannte ihn.«
»Ja, ja«, murmelte sie schnell. Ihr Lächeln kam und ging sehr schnell, als habe sie die Kontrolle über diesen Mechanismus verloren. »Es ist still im Haus. Meine Eltern sind mit den Kindern und Oma Monning nach Sylt gefahren. Hier ... hier ist es zu still und bedrückend. Tee? Kaffee?« Sie hatte plötzlich rote Flecken im Gesicht.
»Wir nehmen Tee«, sagte Elsa.
»Waren Sie in der Kompanie meines Mannes?«
»Nein, nein. Nachbarkompanie, Panzergrenadiere. Wir hatten manchmal dienstlich miteinander zu tun.«
»Lorenz ist in der Arbeit für die Bundeswehr ja völlig aufgegangen«, sagte sie hohl. »Aber gegen Jahresende wollte er zurückkommen. Wir wollten neu anfangen.«
»Wir hörten: eine Großschlachterei«, sagte Elsa lächelnd.
»Nicht nur das«, sagte sie schnell, und sie wirkte plötzlich erstaunlich sicher. »Auch Verarbeitung. Wurst und so. Wir dachten an eine Fünf-Millionen-Investition.«
»Das ist ja wohl zu Ende jetzt«, murmelte ich.
»Durchaus nicht«, sagte sie schnell, »durchaus nicht. Jetzt ziehe ich es allein durch, die Bank will es auch so.«
Elsa warf mir einen warnenden Blick zu, und ich verstand das nicht. »Wenn Sie die Bank hinter sich haben und es sich zutrauen«, murmelte ich, »dann wird es klappen.«
»Die Bank steht hinter mir, die Deutsche Bank. Sie haben mich sogar in die hausinterne Management-Schulung aufgenommen. Bullenmast, Schlachterei, Verarbeitung. Die Bank steht hinter mir, voll und ganz. Das ... das war ...« Da waren wieder die roten Flecken. »Das war ja wohl ein schlimmer Unfall mit Lorenz.«
»Ja«, sagte ich knapp. »Aber er hat nichts gemerkt, es ging so schnell.«
»Das sagte man mir«, sie geriet ins Stottern, wollte eigentlich nicht darüber sprechen.
»Sie müssen sich Zeit nehmen, um den Verlust zu überwinden«, murmelte Elsa schnell. »Vielleicht eine Reise.«
»Wir wollten am Jahresanfang mit den Kindern in die Staaten«, sagte sie. »Lorenz und ich. Um Kraft zu tanken für den Start hier.«
»Er sollte der Praktiker sein und Sie der Manager«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
»Ja, genau so«, sagte sie eifrig. Das war etwas, was sie sicher machte. »Arbeitsteilung, verstehen Sie? Er wußte alles über Mast und Verarbeitung. Ich komme mit Management und Marketingsachen.«
»Ein Traumpaar«, sagte Elsa leise.
Die Uroma kam herein und sah uns nicht an. Sie hatte nur Augen für Gabriele Monning, und sie mochte sie nicht. Sie stellte das Tablett aus Sterlingsilber auf den Tisch und sagte muffig: »Ich geh im Garten Unkraut jäten.«
»Mach man, Oma«, sagte Gabriele Monning. Sie wartete eine Weile. »Sie ist auch noch ganz benommen von Lorenz' Tod.«
»Die Leute im Dorf auch«, sagte Elsa. »Richtig benommen.«
Gabriele Monning goß uns Tee ein, ihre Hände waren vollkommen ruhig. »Meinen Schwiegervater hat es besonders schlimm erwischt. Der läuft wie ein Traumtänzer rum und erzählt überall Sachen, daß man glauben könnte, der Lorenz kommt morgen zurück. Er trinkt wie verrückt.«
»Väter sind immer hilflos«, sagte Elsa seufzend und machte mich wütend mit diesem Gefasel. Aber dann ging sie zum Angriff über und ihre Schnelligkeit und Brutalität erschreckten mich.
»Sagen Sie, waren eigentlich die Marita Heims, die Susanne Kleiber und die Marianne Rebeisen bei der Beerdigung?«
Eine unendliche Weile lang war es ganz still.
Die Flecken in ihrem Gesicht wurden größer und intensiver. »Verzeihung«, sagte sie unnatürlich ruhig, »wer ist das?«
»Verwaltungsangestellte der Bundeswehr«, sagte Elsa freundlich. »Freundinnen von mir. Ich frage nur.«
»Ja, ja, aber ich kenne sie nicht. Damen waren nie hier.« Spätestens jetzt mußte sie wissen, daß irgend etwas mit uns nicht stimmte, aber sie reagierte nicht.
»Es war wohl nur Herr Hauptmann Hartkopf mit dem Ehrenzug der Bundeswehr«, sagte ich lächelnd.
»O ja. Der ist ein treuer Freund, ohne den wäre alles viel schlimmer gewesen, viel schlimmer. Ein treuer Freund. Er kam immer, und er kommt immer noch, wenn der Dienst ihm Zeit läßt, meist am Wochenende. Er ist uns eine riesige Hilfe.« Sie drehte das Armband ihrer Cartier-Uhr hin und her und sah darauf und runzelte die Stirn.
»Wir müssen, glaube ich, gehen«, murmelte Elsa. »Wir danken Ihnen und wünschen Ihnen Kraft und viel Glück.«
Sie gab uns die Hand, sie brachte uns vor das Haus, sie lächelte hektisch mit den roten Flecken im Gesicht.
»Leben Sie wohl«, sagte sie.
Elsa starrte auf die Haustür und murmelte: »Jetzt telefoniert sie mit Hartkopf/Messner. Was wird der tun?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Vielleicht schickt er ein paar Schläger, vielleicht macht er den Fehler noch einmal. Die Monning hat uns erwartet, sie wußte, wer wir sind und wie wir aussehen, und sie hat keine Sekunde geglaubt, daß ich bei den Panzergrenadieren bin. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Psychosomatisch, denke ich.«
»Na sicher. Mich macht das verrückt. Da wird ein kleiner Bundeswehrspion erschossen, und sein Chef kümmert sich rührend um die Witwe. Mich macht das alles krank.«
Dann trödelten wir durch die Sonne zurück.
Auf den Vater des Lorenz Monning brauchten wir nicht zu warten, der war schon da. Er saß an der Theke, ein grauhaariger Mann wie ein Schrank, und stützte den Kopf in beide Hände. Leicht seitlich von ihm hinter dem Tresen stand die Wirtin und nickte uns freundlich zu, sagte aber nichts.
»Wir gehen uns ausruhen«, sagte Elsa.
»Nicht doch, nicht doch«, lärmte der Mann plötzlich. Er hatte eine rauhe Stimme. »Die Herrschaften sollten mit mir reden, jawoll.« Er drehte sich zu uns und sah uns aus sehr wässrigen Augen in einem roten Gesicht an. »Gestatten, Monning, Rittergutsbesitzer.« Und dann neigte er den Kopf und kicherte sehr hoch. Er war betrunken.
»Herr Monning hat heute gute Laune«, sagte die Wirtin so laut, als stünden wir einen Kilometer entfernt.
»Gute Laune ist wichtig«, sagte Elsa schnell. »Kommen Sie mit auf unser Zimmer, Herr Monning?«
»Das tue ich gern, gnädige Frau«, bellte er. »Das tue ich verdammt gern. Hier in diesem Kaff trifft man ja keinen vernünftigen Menschen. Gestatten, Monning, Rittergutsbesitzer.« Dann neigte er wieder den Kopf, schüttelte ihn langsam hin und her, als könne er diese Welt nicht fassen, und kicherte.
Dann kippte er langsam vornüber, offensichtlich nicht gewillt, sich irgendwo festzuhalten. Ich griff ihn und sagte: »Baumeister. Panzergrenadiere.«
»Ich war nur beim Volkssturm«, lallte er an meiner Brust.
Er war ein Zwei-Meter-Mann, ich hatte meine Schwierigkeiten mit ihm. Er roch sehr intensiv nach Pils und Korn und schweren Zigarren, und er war so an die 65 Jahre alt, gemessen am Alter seines Sohnes und am Volkssturm. Im Treppenhaus sagte er, es sei ihm wesentlich lieber, zu ihm auf den Hof zu gehen. »Da kann ich baden und mir den Scheißalkohol von der Seele waschen.«
Elsa stand oben an der Treppe und nickte heftig.
»Gut, dann lassen Sie uns zu Ihnen gehen«, sagte ich.
»Haben Sie ein Auto?«
»Na, sicher doch«, sagte er.
Es war ein Mercedes-Geländewagen, forstgrün mit einem Drei-Liter-Diesel. Monning hatte eine sympathische Art, den Weg zu weisen. Er sprach kein Wort, wedelte mit gewaltigen Pranken in die gewünschte Richtung, und ich ließ den Wagen rollen. – Der Hof der Monnings war ein nach vorn offenes Geviert, ein Bilderbuchhof. Das Haupthaus im Hintergrund stand unter vier gewaltigen Eichen, die das uralte Ziegelfachwerk im Dämmer hielten.
»Wir haben alles allein für uns«, sagte er müde. »Meine Frau ist weg mit den Enkeln und den Schwiegereltern von Lorenz. Den Leuten habe ich freigegeben.« Dann lächelte er. »Sie können sich wie zu Hause fühlen.« Er stand neben dem Wagen. Sein englischer Pfeffer-und-Salz-Anzug sah so aus, als habe er eine Woche darin geschlafen. »Im Kirchspiel wird dieser Besitz bereits vor sechzehnhundert erwähnt.« Er war jetzt erstaunlich klar, sprach aber über Dinge, an die er wohl nicht dachte. »Wenn Sie mir folgen wollen, setzen Sie sich. Ich gehe mich umziehen und duschen.« Damit stapfte er davon, wütend und entschlossen, das Zwielicht des Alkohols beiseite zu fegen.
»Ein Bullenkerl«, flüsterte Elsa. »Ein Bullenkerl in einem Traumhaus. Davon werde ich noch als Rentnerin träumen. Was ist mit dir? Du bist schon seit Stunden so maulfaul.«
»Ich saufe Milieu«, sagte ich. »Ist dir das mit der Bank aufgefallen, das mit der Deutschen Bank bei Gabriele Monning?«
»Ja, ja, sie war ganz wild darauf, uns mitzuteilen, daß die Bank hinter ihr steht und verlangt, die fünf Millionen auch zu verbrauchen ... Meinst du etwa ...?«
»Ja, das meine ich. Wir werden telefonieren müssen.«
Monning hatte im großen, grünen hölzernen Rundbogen der Heueinfahrt eine kleine, schmale Tür offengelassen. Wir kamen in die alte Diele, und es roch nach Sommer und Heu und geräuchertem Schinken. Es ging durch eine sehr große Küche mit einem riesigen Herd in der Mitte. Über diesem Herd hingen an hölzernen Stangen tatsächlich Würste und Schinken.
»Wie für einen Film«, sagte Elsa entzückt.
Wir kamen in ein Zimmer, das links hinaus in einen Blumengarten führte, rechts an der Wand stand ein großes, grünes Ledersofa vor einem kleinen Tisch, geschnitten aus einer einzigen eichenen Baumscheibe. Dazu dunkelgrüne Ledersessel. An der gegenüberliegenden Wand ein Schrank mit aufgereihten Gewehren. Das alles auf rötlichbraunen Fellen, Damwild wahrscheinlich.
»Das gibt es gar nicht«, sagte Elsa erneut.
Offensichtlich hatte Monning in diesem Raum in den letzten Tagen gelebt und geschlafen. Da lagen zerknüllte Wolldecken auf dem Fußboden, die Aschenbecher waren ungeleert, dreckige Eßteller standen auf einer alten Anrichte. Irgendwo im Haus lärmte Monning herum und sang Gaudeamus igitur, immer einen viertel Ton zu hoch. Dann drehte er ein Radio auf, eine aggressive, nachdenkliche schwarze Stimme kam mit Moon over Bourbon Street.
»Das ist doch wie im Märchen«, murmelte Elsa.
Draußen vor der ersten Tür in den Garten war ein Beet mit blühendem Rittersporn. Das Unkraut war hochgeschossen und bildete einen dichten grünen Grundteppich.
Hinter den Blumenbeeten stand ein Backhaus, dann ging es hinab in eine Senke, aus der sich vier große Pappeln reckten.
»Ich habe vergessen, das Gras in meiner Mauer zu gießen«, sagte ich. Ich stopfte mir die Punto d'oro von Savinelli, sie schien mir angemessen.
Monning kam eine knarrende Treppe hinunter, stapfte hinein und murmelte: »Entschuldigen Sie bitte meine Entgleisung«, und stellte sich neben mich an das Fenster und sah hinaus in den Garten. Er hatte einen anderen Anzug angezogen. »Wollen wir uns eine Vesper machen? Mettwurst, Schinken, Schwarzbrot? Ich könnte was vertragen.«
»Das klingt gut«, sagte ich. »Mein Name ist Baumeister.«
»Habe ich nicht vergessen«, sagte er knapp. Dann drehte er sich zu Elsa. »Wenn Sie einen Kaffee machen, richte ich die Platte. Sie sind bei den Panzergrenadieren?«
»Ja. Bei Bitburg.« Ich wußte nicht, ob bei Bitburg Panzergrenadiere standen, aber plötzlich war mir das auch ganz egal.
»Kann es sein, daß Lorenz mal Ihren Namen erwähnt hat?«
»Das kann sein.«
»Wie war eigentlich dieser Unfall. Erzählen Sie mal, jetzt werde ich es durchstehen.«
»Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei. Ich habe nur von seinem Tod gehört.«
»Ist ja auch egal«, sagte er schnell. »Kommen Sie, wir machen uns was zu essen.«
Während er mit Elsa hinausging, setzte ich mich in einen der Sessel und rauchte. Elsa kam mit Geschirr und dem Kaffee, und Monning legte Holzbretter vor uns hin. In die Mitte des Tisches kam eine große Holzplatte mit Schinken, Mettwurst und schwarzem Brot.
»Wie fanden Sie meinen Sohn?«
»Ich mochte ihn«, sagte ich.
»Guter Junge«, murmelte er. Er legte die Handteller flach auf den Tisch und lächelte uns an. »Sie müssen nicht auf das Geschwätz der Leute hier hören, und schon gar nicht auf das Geschwätz meiner Schwiegertochter. Lorenz wollte nicht hierher zurückkehren, er war kein Bauer, er war nie ein Bauer. Die ganze Gegend träumt davon, daß er Bullenmast macht und eine Großschlachterei aufzieht. So ein Quatsch! Was man auch sagt, keiner will den großen Traum aufgeben.«
»Moment mal«, sagte ich heftig, »es geht uns ja nichts an, aber die Leute können doch nicht alle verrückt sein. Die reden doch von Tatsachen. Ihr Sohn wollte zurückkommen und was Neues aufziehen.«
»Das war ursprünglich so. Vor mehr als einem Jahr«, lächelte er. »Stimmt ja auch. Er hat mit Banken verhandelt, damals, die wollten auch einsteigen. Aber dann hat er sich entschieden, weil die Ehe kaputt war und weil er letztlich kein Bauer ist und kein BuUenmäster und kein Großschiachter. Man kann es ihm ja nicht übelnehmen, daß er mal geglaubt hat, er könne die Ehe noch retten, oder? Nein, wir haben geredet, er wollte nicht zurück.«
»Und seine Frau hat die Investition von fünf Millionen für sich allein gekriegt?« fragte ich.
»Sie hat das gedeichselt, und ich will sie nicht stoppen, und sie ... sie ist ... sie ist mir unheimlich. Sie war mir immer schon unheimlich. Es ist ... irgendwie ist es für sie so, als wäre Lorenz nie dagewesen.«
»Eine harte Frau, nicht wahr?« fragte Elsa.
»Hart? Hart ist gar kein Ausdruck«, sagte er. »Sie war schon immer so, und eigentlich habe ich Lorenz nie verstehen können. Sie ist der Typ, der beim Bumsen, Entschuldigung, der beim Bumsen bemerkt, er hätte nicht genug Bargeld bei sich.«
»Das muß doch eine große Enttäuschung für Sie gewesen sein«, murmelte Elsa.
»Das war es, das war es wirklich«, sagte er. Er wandte sich zu mir: »Worin bestand eigentlich Ihrer Meinung nach seine Stärke?«
»Erst mal war er ein guter Soldat«, sagte ich. Zum erstenmal dachte ich flüchtig daran, daß es ein gutes Gefühl sein müsse, jederzeit ohnmächtig werden zu können. »Als Mensch war er einfach verläßlich und sehr freundlich. Kein Muffelkopf, kein Kriegertyp.«
»Das denke ich auch«, sagte er langsam, als sei er allein. »Als Vater sieht man ja leicht an der Wirklichkeit vorbei, aber für seine Freunde war er immer da – egal, wie der Hase lief.«
Elsa sah mich kurz an und fragte dann: »War er denn auch Ihr Freund?«
Er lächelte. »Das ist eine berechtigte Frage.« Er räusperte sich. »Ja, wir waren Freunde, Gott sei Dank, ich weiß, daß das selten ist. Ich habe ja seit Jahren gemerkt, daß er kein Bauer war und auch nie einer sein würde. Wir haben in der letzten Zeit viel darüber geredet. Sehr viel. Wir haben uns auch mal angebrüllt. Und zuletzt habe ich ihn verstanden. Er hatte zwar die Höfe hier, aber er brachte es nicht, wie man so sagt. Er sagte immer: Vater, wenn es dir ganz beschissen gehen sollte, komme ich und helfe dir. Das sagte er immer wieder, und darauf war Verlaß. Er wußte schließlich auch, daß unser Berufsstand in die Binsen geht. Das machte ihm Kummer.«
»Ihnen denn nicht?« fragte ich.
»Und wie!« sagte er. »Ich kann mich bei meinem großen Betrieb noch eine Weile halten, aber auf Dauer bleibt nichts beim alten. Die kleinen Bauern hier sind längst kaputt, und manchmal erlebst du, daß einer sich drei oder vier Kühe hält, nur um nicht zu vergessen, wer sein Vater war. Diese Scheißpolitik hat uns kaputtgemacht. Wenn ich ein Altenheim für Bauern aufmache, kann ich massig Geld verdienen. Aber dann bin ich von Depressiven umgeben und gehe selbst ein. Ich bin zu alt, um noch was Neues anzufangen. Ich habe also der Gaby den Hof gegeben, sie will diese Mastindustrie aufbauen, und auf diese Weise kriegen meine Enkel, was sie sowieso gekriegt hätten. Hat Lorenz mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein«, sagte ich. »Er war zu zurückhaltend.«
»Ja, er war kein Plappermaul.«
»Da sind aber viele Träume in den Arsch gegangen«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Das kannste laut sagen«, murmelte er. »Trinken wir ein Bierchen und einen Klaren? Ich sehe, Sie rauchen Pfeife, das gefällt mir.«
»Für mich einen Sprudel oder so was, ich trinke keinen Alkohol. War Lorenz nie mit den Kameraden seiner Einheit hier?«
»O doch. Er brachte seine Truppe zum erstenmal vor anderthalb Jahren hierher. Dieser Hartkopf war auch dauernd dabei, der sich um meine Schwiegertochter kümmert. Na ja, ich mag den Kerl nicht, aalglatt, Sie kennen ihn ja. Die Truppe ging damals immer in die Sandgrube saufen. Das war tierisch, war das. Aber Lorenz war bloß höflich, der mochte den Hartkopf nicht. Wissen Sie, warum?«
»Keine Ahnung, vielleicht berufliche Konkurrenz?«
»Glaube ich nicht, dazu war mein Sohn viel zu selbstbewußt. Aber ich muß ja auch nicht alles kapieren.«
»Hartkopf kam immer mit der Truppe?«
»Anfangs ja, später kam er allein. Schon seit einem Jahr oder so, kam er immer allein. Eigentlich finde ich das ja rührend. Da gibt mein Sohn langsam seine Frau und seine Familie dran, und sein Kumpel springt ein. Hat sich wirklich doll um Gabriele bemüht, hat ihr auch später manchmal bei der Projektplanung geholfen, ist auch mit den Kindern spazierengefahren und so. Irgendwie gut. Aber ich kann ihn nicht ausstehen.« Er stand auf, klapperte nebenan in der Küche herum und stellte Bier und Schnaps und Sprudel auf den Tisch. Unser Gespräch wurde seltsam flach, weil wir flache Gedanken austauschten und alle an Lorenz Monning dachten.
Ich sah Elsa und Monning wie Lebewesen in einem Aquarium. Sie hatten nichts mehr mit meiner Welt zu tun. Ich hörte ihn sagen: »Mein Lorenz war in vollem Umfang für diesen Staat ...«, ich hörte Elsa sagen: »Vielleicht konnte er einfach mit dieser Frau nicht leben ...« Aber ganze Sequenzen ihres Gespräches hörte ich gar nicht, sah nur, wie sie den Mund bewegten. Bilder überschnitten sich. Ich sah, wie Susanne Kleiber in strömendem Regen den Mund vor Entsetzen aufriß, ich sah, wie Marianne Rebeisen in panischer Angst in den Wald rannte, ich sah den Schäfer Meier geschockt auf zwei Leichen ohne Kopf in dem Jeep starren, ich sah, wie Messner das Gewehr langsam anlegte. Dann hatte plötzlich Gabriele Monning das Gewehr in der Hand und zielte irgendwohin, dann war es der Schäfer Meier, der schoß, dann wieder hatte Lorenz Monning das Gewehr auf Messner/Hartkopf gerichtet.
Ich öffnete die Augen, und Elsa sagte erstickt: »Mein Gott, ich bin vollkommen blau.« Sie versuchte aufzustehen, aber es klappte nicht. Sie sah mich schuldbewußt lächelnd an, und ich sagte schnell: »Macht doch nichts.«
»Das tut mir aber leid«, dröhnte Monning und lachte. Wir packten Elsa auf das Sofa, und sie jammerte, alles um sie herum drehe sich, aber dann schlief sie ein und atmete schwer.
»Gehen wir an die frische Luft«, sagte Monning, nahm die Schnapsflasche und steckte sie in die Jackentasche. »Kommen Sie mal, ich zeige Ihnen was.« Er wirkte verschmitzt wie ein kleiner Junge und war jetzt sehr betrunken.
Er ging durch die Diele auf den Hof, dann durch die Sonne in den Stall.
»Hier waren mal Schweine drin«, sagte er und hielt sich an einer von der Decke baumelnden rostigen Kette fest. »Schweinekoben aus Stein, noch ganz im Original. Und es riecht noch immer nach Schwein, obwohl fünfzig Jahre vorbei sind.« Er stapfte nach vorn auf ein riesiges Paket zu, das mit einer groben Sackleinwand verhüllt war, und zog daran. Eine Staubwolke flog auf.
Es war ein schwarz-grauer Wanderer, ein wunderschönes altes Auto.
»Toll, was?« Er lachte, und seine Augen funkelten vor Vergnügen. »Baujahr vierunddreißig. Reiselimousine. Die stand bei einem Kollegen oben in Husum, aber die Maschine war verreckt. Und in Berlin sitzt jemand, der die Motoren nachbaut. Ich habe einen bestellt und einbauen lassen. Ein Vermögen, sage ich dir, ein Vermögen. Aber ist es nicht ein Traum? Das waren noch Autos, was? Alles Originalteile. Und alles für meinen Lorenz, der jetzt endlich zurückkommen wollte.«
Er machte die Tür an der Fahrerseite auf und ließ sich seitlich in den Sitz fallen. Er nahm die Schnapsflasche und trank eine unglaubliche Menge. Dann verschluckte er sich, hielt sich an der Tür fest und ließ seinen Kopf auf den Arm sinken.
»Lorenz hat sich so was sein Leben lang gewünscht, und jetzt sollte er es kriegen.«
Da war plötzlich Wut in mir, und ich sagte laut und ganz ohne Beherrschung: »Verdammt noch mal, Bauer. Irgendeiner hier muß doch auf dem Teppich bleiben. Dein Sohn wollte nicht zurückkommen. Nie!«
Sein Kopf kam hoch, er sah mich verschwiemelt an und versuchte zu lächeln, aber es wurde nur ein Zähnefletschen. »Doch, doch«, sagte er schwer. »Wort ist Wort. Ist ja gut, Junge, daß deine Frau besoffen ist. Ist auch nix für Weiber, was ich dir zu sagen habe. Lorenz wollte kommen, nachdem die Sache mit dem Krankenhaus war, weißt du? Guck mal, guck dir das mal an!« Er kam mühsam schnaufend hoch, machte den Gürtel seiner Hose auf, ließ die Hosen auf die Füße sacken, hob das Hemd und deutete theatralisch auf eine kleine rote, quer über seinen Unterbauch laufende Narbe. »Die haben mich aufgemacht, verstehst du? Diesen Frühling. Sie haben mich wieder zugemacht und gesagt, alles wäre in Ordnung. Aber ich habe den Doktor an den Kanthaken genommen und gesagt: Mit mir nicht, Doktor, mit mir nicht. Was ist los? Und dann hat er zugegeben, daß ich Krebs habe und daß eigentlich nichts mehr zu machen ist. So ist das.« Er versuchte sich die Hosen hochzuziehen, und als das nicht klappte, half ich ihm. Er sank in den Sitz zurück und keuchte.
Es war sehr still im Stall, nur ein paar Schmeißfliegen hatten sich verirrt und machten ihren Lärm.
»Und du bist zu deinem Lorenz und hast ihm das gesagt. Und er hat geglaubt, du wolltest ihn erpressen. Er hat gesagt: Ich komme nicht! Und dann hast du es getan!«
Sein Kopf kam hoch, und sein ganzes Gesicht fiel in Falten, als er sich quälend bemühte zu verstehen, was ich gesagt hatte. Er verstand es nicht. »Ich bin sechsmal zu Lorenz in die Eifel. Also nicht zum Depot oder so, mal in Bonn, mal in Gerolstein, mal in Adenau, mal in Köln. Wir haben uns getroffen, verstehst du? Wir haben geredet wie Freunde, verstehst du? Ach so, ach so, jetzt verstehe ich das mit der Erpressung. Nix Erpressung. Er hat es verstanden, er hat gesagt: Unter diesen Umständen komme ich für ein paar Monate und helfe bei der Übergabe. Ich habe ihm, na ja, ich habe ihm vorgeschlagen, er soll doch diese Hotelidee mit dem Scheißbahnhof in Walsdorf sein lassen, er kann doch mit der Marita hierherkommen und die Sache hier aufziehen. Er konnte doch drauf bestehen, daß die Gaby mit den Kindern verschwindet, denn ohne sein Erbe, verstehst du, ohne sein Erbe, ohne meinen Hof und mein Land ...«
»Ohne das alles kann sie nichts machen«, sagte ich.
»Richtig. Und ich glaube, er hat daran rumüberlegt. Auf jeden Fall wollte er ab Januar helfen, daß alles in die richtigen Bahnen kommt, verstehst du?«
»Wer wußte das?«
»Ich weiß nicht, die Familie weiß das, ich hab ja drüber geredet, ganz offen drüber geredet. Und ich kann die Gaby nicht ab, ich ... na ja, sie hat die Kinder. Meine Enkel, verstehst du? Für meine Enkel...«
Sein Kopf fiel vornüber, und er begann zu weinen. Da war kein Geräusch außer diesem erstickten, grauenhaft hilflosen Weinen.
Nach einer Weile kam er mit einem ganz grauen Gesicht zu sich, ließ sich von mir aus dem Auto helfen, und dann deckten wir die staubige Plane wieder über sein Geschenk.
Er ging steif wie ein Ladestock vor mir her aus dem Stall und setzte sich auf die Bank unter der Eiche. Ich setzte mich neben ihn, und wir sahen zu, wie die Sonne vom Himmel kam.
»Ich habe in der letzten Zeit dauernd Angst vor der Nacht. Vor jeder Nacht.« Er preßte die Lippen aufeinander und blies die Luft aus sich heraus. »Deshalb saufe ich soviel, deshalb quatsche ich auch soviel. Die Angst macht mich verrückt. Man sagt doch immer, die Münsterländer sind schweigsam. Sind sie nicht. Nicht, wenn sie Angst haben. Lorenz hätte dieses Weib nicht heiraten dürfen, niemals. Die wollte nur den Hof, die hatte nur diese Scheißgroßschlachterei im Kopf, von Anfang an. Die hat die Kinder gekriegt wie eine Pflichtübung. Und als Lorenz das begriff, ist er weggeblieben. Klar, wäre ich auch, wäre ich verdammt auch.« Er schluchzte und sagte: »O Scheiße, o Scheiße, o Scheiße!«
»Und dir fehlt jetzt ein Gewehr, nicht wahr? Eine zweiläufige Mauser Schrot, nicht wahr?«
»Ja, aber ist doch nicht wichtig, ist doch alles nicht mehr wichtig. Es ist so schwer, mitansehen zu müssen, wie hier alles vor die Hunde geht. Ich kann nichts mehr machen, ich bin ein alter Mann, und ich bin müde. Wenn ich könnte, würde ich sie alle umlegen, einfach alle.« Dann weinte er wieder lautlos und wiegte sich in seinem Schmerz hin und her.