ACHTES KAPITEL

»Marita ist also wahrscheinlich zu dem Schäfer gefahren«, sagte ich. »Er wird bei seiner Herde in einem Karren sein, wir müssen ihn finden.«

»Ist das schwierig?«

»Nein, überhaupt nicht. Das Problem ist nur, daß Messner uns dabei nicht erwischen darf.«

»Glaubst du, er wird uns besuchen?«

»Keine Frage. Wir haben noch zwei Reisen vor uns: die Mordkommission in Trier und das Dorf der Monnings im Münsterland. Und wahrscheinlich noch einmal Köln. Diese Rebeisen ist mir ein Rätsel.«

»Ich werde erst einmal im Krankenhaus anrufen, wie es Marita geht.« Das tat sie, als wir auf dem Hof waren. Sie erfuhr, daß Besuche nicht gestattet seien, daß es Marita aber den Umständen entsprechend gut gehe.

»Ob sie bewacht wird?«

»Das ist doch egal«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist durchaus nicht egal. Stell dir vor, wir können ein Foto schießen, wie ein Bulle vor ihrem Zimmer sitzt.«

»Du hast wie immer recht«, seufzte ich.

»Mir geht der unheimliche Anblick des Depots nicht aus dem Kopf. Mich erschreckt das. Was weiß man eigentlich von diesen Dingern?«

»Eine Menge«, sagte ich, »und das meiste davon hat die Friedensbewegung herausgefunden. Es gibt im Rahmen der NATO rund 500 Militärdepots in der BRD. Das ist Weltrekord. Die wichtigsten Depots werden direkt von Militär bewacht, die weniger wichtigen von Privatfirmen, die Rentner mit Schäferhunden einsetzen und so ihre Gewinne maximieren. Dann gibt es eine Unmenge von Depots, die gar nicht bewacht werden. Das sind die sogenannten Sprengmittelhäuser, die man mitten in den Wald gesetzt hat oder um die herum man Schonungen anlegte. Die Sprengmittelhäuser sind mit den Ladungen gefüllt, die man braucht, um Brücken und Dämme in die Luft zu jagen, wenn der böse Feind kommt. Alle Depots sind wie eine Zwiebel gebaut. Gewissermaßen hinter der letzten Schale lagern die Munition, die Sprengstoffe, die Raketenköpfe. Jedes Depot ist über eine Alarmeinrichtung direkt mit dem nächsten großen Polizeirevier verbunden. Niemand hat eine Chance, unbemerkt an das Zeug heranzukommen. Vom Depot in Hohbach zum Beispiel ist nur ein Viertel zu sehen, der Rest liegt hinter meterdickem Beton und Stahl tief in der Erde.«

»Und wenn mal ein Flugzeug auf so ein Ding stürzt?«

»Dann gute Nacht, Marie. Darüber laß uns besser nicht spekulieren. Was machen wir jetzt? Ich weiß: frühstücken und eine Runde schlafen.«

»Du bringst mein ganzes ordentliches Leben durcheinander, Baumeister.«

»Sieh mal, wie schön das Land nach Regen und Gewitter aussieht.«

Gegen elf Uhr kam Naumann vorbei und warf uns aus dem Bett. Er besah sich die Naht hinter dem Ohr, zog behutsam die Fäden und murmelte etwas von »sehr gutem Heilfleisch«.

»Wann können wir bei der Mordkommission in Trier eintrudeln?«

Er grinste. »Sie brauchen nicht hin. Da gibt es den Kriminalrat Rodenstock. Der läßt anfragen, wann er kommen darf. Er ist ganz wild auf Sie.«

»Ist er gut für uns?«

»Mit Sicherheit. Er ist stinkwütend, daß der MAD die Mordkommission aus dem Rennen geworfen hat.«

»Sagen Sie ihm bitte, er kann jederzeit kommen. Ich habe noch eine Frage nach den ersten beiden Leichen. Aus welcher Entfernung sind Monning und Kleiber erschossen worden?«

»Höchstens zwei bis drei Meter, schätze ich. Ich habe übrigens noch einen sehr wichtigen Hinweis: Die dritte Leiche, Marianne Rebeisen, war schwanger. Im zweiten Monat. Meine Kollegen aus Bonn haben mir das gesagt.«

»Es wird immer verrückter«, sagte Elsa. »Ob Monning der Vater ist?«

»Monning wird nicht dreißigtausend Mark mit Marita Heims sparen und von einer Kölner Prostituierten ein Kind bekommen«, gab ich zu bedenken.

»Lehr mich die Menschen kennen«, sagte sie leise.

»Wie lange werden Sie noch brauchen, um das alles zu entwirren?« fragte der Arzt.

»Keine Voraussage«, sagte ich. »Im Grunde wartet man bei so einem Fall immer auf den Menschen, der einfach sagt: Ich kann das alles erklären. Aber in der Regel muß man sich die Dinge selbst zusammenreimen, weil ein solcher Mensch nie auftaucht.«

»Aber der Mörder weiß alles«, sagte Elsa schnell.

»Ganz falsch«, sagte ich. »Es ist durchaus vorstellbar, daß der Mörder auch nur einen Ausschnitt kennt. Es ist vorstellbar, daß er aus gewissen Einzelheiten die falschen Schlüsse zog, daß gar kein Grund bestand zu morden.«

Sie überlegte das und war erschreckt. »Also kann der Mörder gedacht haben, daß Monning etwas wußte, weil einiges darauf hindeutete, daß er etwas wußte. Und tatsächlich wußte Monning nichts.«

»Das geht noch weiter«, sagte ich. »Es kann sein, daß Susanne Kleiber und Marianne Rebeisen nur ermordet worden sind, weil sie zufällig am Tatort waren. Es kann aber auch sein, daß es Monning zufällig erwischt hat. Und so weiter und so fort in allen Kombinationen. Und dann kommt die schlimmste Möglichkeit: Ein Irrer, absolut ohne erkennbares Motiv, wohnt in der Gegend um Hohbach und will nur einmal ausprobieren, wie seine Schrotflinte funktioniert.«

Der Arzt protestierte. »Warum wurden Sie und Alfred dann verprügelt?«

»Ich habe darüber nachgedacht. Sie spielen auf unseren geliebten Messner an. Es gibt eine sehr einfache Antwort: Messner glaubt, daß hier eine Spionagegeschichte läuft, von der er nichts weiß. Er benimmt sich also wie jeder Platzhirsch, schmettert alles ab, was in sein Revier vorstößt. Und sei es auch nur, um den Überblick zu behalten und die Kontrolle nicht zu verlieren. Auf gut deutsch wurden Alfred und ich einfach verprügelt, um aus der Szene herausgehalten zu werden.«

Naumann nickte langsam. »Und ein Typ wie Messner würde anschließend auch noch einen Orden kriegen.«

»So sind Ordensträger«, sagte Elsa. »Ich leg mich in den Garten und schlafe.«

Ich ging mit Naumann auf den Hof.

»Was geschieht eigentlich, wenn mit Elsa etwas geschieht?« fragte er.

»Dann drehe ich durch«, sagte ich.

Er lächelte bitter und ging zu seinem Wagen. »So fangen Kriege an«, murmelte er.

»Können Sie mir einen Gefallen tun? Wir haben da eine Dame ausgegraben. Marita Heims heißt sie. Sie liegt schwerverletzt in der Klinik in Blankenheim. Können Sie sich erkundigen, was medizinisch mit der los ist?«

Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, Sir. Ich stecke ohnehin bis zum Hals drin. Ich könnte nicht einmal glaubwürdig begründen, weshalb ich nach dieser Dame frage. Nichts für ungut.«

»Schon gut«, sagte ich, »schon gut. Ich werde auch schlafen gehen.«

»Was tun Sie eigentlich nachts?« Er verzichtete auf eine Antwort und fuhr davon.

Ich legte mich unter den Holunder in das Gras und war gleich darauf eingeschlafen. Bevor mein Geist sich in den kleinen Tod fügte, dachte ich darüber nach, wem wohl die Mordwaffe gehörte. Ich hatte sie vollkommen vergessen.

Elsa stupste mich irgendwann und sagte leise: »Baumeister, dein Intimfeind Messner ist hier.«

»Sage ihm, ich empfange zur Zeit nicht. Ich dachte immer, die Eifel sei einsam.«

»Aber er hat ganz traurige Augen.«

»Er ahnt seinen Tod.«

Messner saß in einem Sessel, hielt ein Glas Bier fest und sagte: »Schön haben Sie's hier.«

»Ja. Aber bevor wir in Höflichkeiten versinken, möchte ich Sie fragen, was Monning gewußt hat?«

»Wie bitte?« Er war offensichtlich irritiert und hielt den Atem an.

In diesem Augenblick fuhr Elsa mit Vollgas vom Hof, und ich hatte Mühe, so zu tun, als sei das nicht von Wichtigkeit.

»Monning wurde erschossen. Sicherlich nicht grundlos. Er war MAD-Mann, streiten Sie das nicht ab. Sie sind auch einer, abstreiten hat auch keinen Zweck. Also hat er etwas gewußt, was er nicht wissen sollte.«

»Ach so«, sagte Messner. »Das ist ja äußerst interessant. Und sicherlich wissen Sie ungefähr, was er wußte und was andere nicht wissen dürfen.«

»So fragt man kleine Jungen aus. Ich dachte, Sie würden es mir sagen.«

»Ich weiß nichts dergleichen. Es war halt eine Eifersuchtssache.« Sein Gesicht war ähnlich ausdrucksvoll wie das eines Weihnachtskarpfens.

»Übrigens Eifersucht. Wie geht es Marita?«

»Hm.« Er trank einen Schluck Bier. »Sie war eine Tussi, die hinter Monning her war, nichts sonst. Sicher hat er sie ein paarmal beschlafen, ist ja auch einsam in der Eifel.«

Ich sagte nichts auf diese Rede, ich fand ihn nur widerwärtig.

»Na ja, sie war hinter ihm her wie so viele«, setzte er erklärend hinzu. »Ich denke, Sie recherchieren nicht mehr.«

»Das wußten wir schon vorher«, murmelte ich. »Also, wie geht es Marita?«

»Den Umständen entsprechend. Sie wird ohne große Narben aufstehen.«

»Das freut mich aber«, murmelte ich und setzte mich auf die Sofalehne. »Wir haben rein gedanklich gewisse Probleme mit der dritten Leiche, der zweiten Frau. Wie hieß die doch gleich?«

Er lachte kurz. »Sie wollen doch nicht mit mir in ein Verhör gehen, oder? Das war eine Frau, die ebenfalls Monning über den Weg gelaufen ist. Er nahm sie eben kurz mit, der Weiberheld.« Er sagte das so, als sei er stolz auf Monning.

»Diese zweite Frau wurde zweihundert Meter entfernt erschossen. Vor den Morden an Lorenz und Kleiber oder nachher? Und noch etwas: Wo ist dieser LKW-Fahrer aus Dresden abgeblieben?«

Seine Stimme veränderte sich nicht. »Der Reihe nach. Wie Sie wissen, war die zweite Tote eine Freundin der Kleiber. Und ich weiß nur: Sie war nicht astrein. Ich bin aber nicht berechtigt, das weiter auszuführen. Der LKW-Fahrer ist ein entschieden wichtiger Punkt. Er zog kurz nach zehn Uhr an dem Sonntag abend von Hohbach Richtung Depot los, obwohl die Straße für jeden Durchgangsverkehr gesperrt ist. Was wollte der am Depot? Sie sollten sich darüber Gedanken machen, sehr dringend sogar, denn vorher sprach der Mann mit der Kleiber – in der Kneipe. Eine Verabredung, ein Treff? Ich weiß es nicht. Glauben Sie denn zu wissen, daß Monning etwas wußte, das seinen Tod wert war?«

»Na sicher«, sagte ich. »Er war hinter jemandem her, und wir ahnen auch, hinter wem.«

»Das sollten Sie mir aber sagen«, seine Stimme wurde scharf.

»Das behalten wir lieber für uns«, sagte ich sanft. »Wir recherchieren sowieso nicht weiter. Ist rein privates Interesse.«

»Aber die Staatssicherheit könnte berührt sein«, dachte er laut.

»Aha«, sagte ich und lächelte ihn freundlich an. Ich suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu verunsichern. Und als ich sie gefunden hatte, atmete ich tief durch. »Wissen Sie denn«, fragte ich langsam, »was die Mitarbeiterin Susanne Kleiber gewußt hat?«

Seine Schultern bewegten sich einige Zentimeter nach vorn, und die Haut rechts und links vom Mund wurde straff. »Wieso Mitarbeiterin?« fragte er.

»Es kursieren viele Gerüchte in der Eifel«, sagte ich, und ich genoß es. »Sie wissen doch, wie das hier so geht. Die Leute sind dankbar für jedes kleine Schwätzchen. Aber wenn Sie nicht wissen, was Lorenz Monning wußte, werden Sie auch nichts wissen, was die Susanne Kleiber betrifft. Mich interessiert da noch eine Frage privat am Rande: Diese Marianne Rebeisen, die angebliche Verkäuferin aus Köln, diese Profinutte, ich meine die, die von vorne erschossen wurde, die im zweiten Monat schwanger war, wie unsere Informanten sagen, also die, deren Namen Sie nicht sagen mögen ... Ich fange besser von vorne an, es wird zu kompliziert.« Ich lächelte offen in sein versteinertes Gesicht, wie das so meine Art ist. »Die Frage ist ganz einfach, für wen hat die gearbeitet? Für den MAD oder den Verfassungsschutz? Die Frage liegt doch nahe, nicht wahr?«

»Finden Sie?« fragte er und hielt den Kopf über sein Bierglas gesenkt. »Ich fange an zu begreifen, warum deutsche Journalisten soviel spinnen. Sie wissen doch in Wirklichkeit gar nichts.«

»Also, das würde ich nicht sagen, und Sie wissen das.« Ich lachte. »Mögen Sie noch ein Bier?«

»Danke, es ist zu heiß. Was wissen Sie denn wirklich? Ich meine, von Lorenz Monning?«

»Ich bin der Meinung, Sie verschwinden jetzt besser«, sagte ich. »Ich bin ein netter, höflicher Mensch, aber wenn Leute wie Sie mich verarschen wollen, fühle ich mich unbehaglich. Und Angeln ist nichts, mein Bester. Ich hätte ständig Angst, Sie würden mich ersäufen.« Ich sah ihn an und bemühte mich, ein warmes, menschliches Gefühl in die Augen zu bekommen. Aber er achtete wohl nicht darauf.

Er stand auf und stellte das Bierglas so heftig auf die Kupferplatte des kleinen Tisches, daß es zerbrach. Er ging hinaus, und nach den Bewegungen seiner Hüften zu urteilen, litt er an drohendem Durchfall.

Ich mußte eine volle Stunde warten, ehe Elsa wieder auf den Hof gefahren kam. Sie hatte ein seltsam erregtes Gesicht. Sie ging an mir vorbei und sagte: »Ich habe in der Küche eine Flasche Pernod gesehen, so ein Lakritzwasser wird mir jetzt guttun. Und schimpf nicht, Baumeister. Als ich Messner so sah, hatte ich die Idee: Wenn der nicht in Hohbach ist, kann ich mal nach Hohbach fahren.« Sie ging vor mir her in die Küche und machte sich einen Pernod zurecht. »In Hohbach gibt es einen schönen Tante-Emma-Laden, da war ich drin. Ich habe ein Vermögen ausgegeben. Du hast sechs Tüten voll Zeugs im Auto, das wir irgendwann mal gebrauchen können. Vom Toilettenpapier bis Haarspray. Je mehr ich einkaufte, um so mehr hat die Frau im Laden erzählt. Eine richtig gute Zeitung, die Frau.« Sie trank den Pernod, als sei es Sprudel. »Natürlich kam es mir auf die Susanne Kleiber an. Die war mit Sicherheit die bestgehaßte Frau in Hohbach. Alle Weiber glauben, daß ihre Männer es mit ihr trieben. Ja, ja, wir beide wissen, daß das wohl nicht so war, aber gegen Eifersucht ist wenig zu machen. Sie war in der Kneipe nicht nur Bedienung, sie hat auch in der Küche gearbeitet. Und sie ging dauernd mit Soldaten spazieren. Mal mit ganzen Trupps, mal mit einem allein. Und sie hatte keinen Freund, was die Hohbacher Frauen natürlich besonders mißtrauisch gemacht hat. Ich habe gesagt, ich wäre eine Frau vom Campingplatz, das machte sich ganz gut. Gerüchteweise haben die Frauen gehört, Susanne Kleiber wollte in der Kneipe aufhören und abhauen. Sie erzählen auch empört, die Kleiber habe was mit dem Monning gehabt, obwohl der doch die Marita Heims hatte. Und sie haben immer wieder gehört, in Hohbach hätten sich Spione aus der DDR herumgetrieben. Das war es.«

»Das war Klasse, das war sehr gut.«

»Und wie war Messner?«

»Messner muß jetzt glauben, daß wir sehr viel mehr wissen, als wir eigentlich wissen dürfen. Und morgen haben die Ministerien mein Schreiben und dann wird er beruflich für den Rest seines Lebens ein sehr toter Mann sein.«

Sie trank den Rest ihres Pernods. »Messner wäre so himmlisch als der große geheimnisvolle Spion, der hinter allem steckt. Und ich träume davon, daß du ihn mit der Messerschärfe deines Verstandes zur Strecke bringst.«

»Du wirst mir unsympathisch«, sagte ich.

Sie stand da und starrte auf die Fliesen. »Die Frau in dem Tante-Emma-Laden in Hohbach findet übrigens den Lastwagenfahrer aus Dresden sehr nett. Der kommt jedes Jahr mal vorbei und kauft bei ihr Kinderspielzeug und Sachen für seine Frau und so.«

»Ja und?«

»Nichts weiter. Nur so. Sie mag ihn. Sie sagt, er ist ein netter Kerl und lacht dauernd und macht Spaße.«

»Zieh mich nicht auf, da ist noch was.«

»Richtig«, sagte sie. »Sie haben ihn nicht mehr erwischt. Er ist losgefahren, ist in Herleshausen über die Grenze in die DDR und verschwunden. Er ist Messner und Konsorten durch die Lappen gegangen.«

»Das kann doch gar nicht sein«, sagte ich. »Die Kleiber hat Lorenz Monning bestellt, weil sie sich den Lastwagen ansehen wollten. Der ist bis zur DDR-Grenze fünf bis acht Stunden unterwegs. Wieso konnte er ihnen entkommen?«

»Das ist die Frage«, murmelte sie. »Liebe Hausfrau, ergänzen Sie: Ohne Flei- kein Prei-.«

Ich rief Alfred an und fragte, wie man herausfinden könne, wo der Schäfer sei. Er sagte, ich solle es in der Staatlichen Domäne versuchen, der die Herde gehöre. Aber dort wußten sie nur, daß der Schäfer in den großen Steinbrüchen am Ostrand der Kalkmulde sei, irgendwo in der Gegend. Als ungefähre Richtung reichte das.

Wir fuhren nach Westen und ließen den Wagen oberhalb des ersten kleinen Steinbruchs stehen. »Wenn wir Glück haben, sind es zwei, drei Kilometer, wenn wir Pech haben, das Dreifache.«

»Sieh mal, die Farbe der Steine ist phantastisch«, sagte Elsa begeistert.

»Die meisten Steinbrüche hier liegen still, und ein paar Idioten warten darauf, daß sie voll Wasser laufen. Sie träumen von Bratwurstbuden und Colaverkauf an Leute, die auf zweihundert Quadratmetern surfen wollen. Das nennt man Strukturwandel, nachdem es gelungen ist, die bäuerliche Kultur kaputtzumachen.«

Nach zwei Kilometern hörten wir die Klarinette.

Der Schäfer hatte seinen Karren auf die erste Sohle eines dreistufigen Steinkraters gestellt. Er hockte vor einem mattblau rauchenden Feuer, über dem ein Kessel hing. Und er spielte den Basin Street Blues.

»Das glaubt uns keiner«, sagte Elsa atemlos, und sie schraubte das vierhunderter Rohr auf die Kamera und fotografierte den Mann. »Wie gehen wir vor?«

»Harmlos wie immer«, sagte ich. »Am besten als Leute, die hier rumkraxeln und keine Ahnung haben.«

Die Klarinette schraubte sich in schnellen Sprüngen hoch, ging dann Blue Velvet an, wenig später den Trumpin Blues. Als wir nach dem Abstieg suchten, verlor sie sich im St. Louis Blues. Kein Zweifel, der Mann spielte sehr leicht und gekonnt, die Läufe perlten wie ein Gebirgsbach.

»Kann sein, daß das unser Waterloo wird«, sagte ich. »Jemand, der so spielt, ist einfach zu gut. Und Schafhirte ist der auch nicht.«

Dann sahen wir die Herde in einer großen Wiese liegen. Ein schwarzer großer Hund kam schnell wie ein Strich heran.

Ich sagte hastig: »Streichel ihn nicht!«, aber sie war starr vor Angst und bewegte sich überhaupt nicht. »Du sollst dich natürlich verhalten«, sagte ich. »Das ist doch kein Horrorfilm.«

»Ich benehme mich ja natürlich«, sagte sie. »Ich hab Angst, und der guckt so heimtückisch.«

Der Hund trollte sich, als habe er etwas gehört, das wesentlich interessanter war als wir. Dann fanden wir den Abstieg und gingen auf den Hirten zu, der uns entgegensah und dabei eine Zigarette drehte. Die Klarinette hatte er auf einen großen rötlichweißen Bruchstein neben sich gelegt.

»Ich hoffe, Sie haben einen Schnaps bei sich«, sagte er fröhlich. »Wir haben Sonntag.«

»Aber es ist nicht Sonntag«, sagte Elsa irritiert.

»Es ist so«, erklärte er, »die Gewerkschaft hat festgestellt, daß Schafe auch einen Sonntag brauchen. Wir haben durchgesetzt, daß wir selbst bestimmen können, wann Sonntag ist. Also: Heute ist Sonntag.«

Er war ein Mann Ende Dreißig, mit dichtem dunkelbraunem Vollbart, einer roten Zinkennase und in vielen Lachfalten versunkenen Augen.

»Wir streunen hier herum«, sagte ich. »Und leider haben wir keinen Schnaps, aber beim nächsten Mal denken wir daran. Lohnt sich denn die Schäferei noch?«

Er trug das, was wir in grauer Vorzeit ein Buschhemd genannt hätten, darunter Lederhosen, die über die Knie reichten, und schwere Schuhe mit dicken roten Wollstrümpfen – so, als friere er untenrum, als sei ihm obenrum zu warm.

Er deutete auf eine Weide. »Dahinter ist ein Tümpel, das ist mein Eisschrank. Da steht ein Träger Bier. Bedienen Sie sich.«

»Das mache ich schon«, sagte Elsa.

Er sah ihr nach und murmelte ungeniert mit seinen klaren Augen: »Ein schönes, munteres Reh ist das aber. Ihre Frau?«

Elsa kam mit drei Flaschen Bier zurück und teilte sie aus.

»Wieviel Köpfe hat die Herde?« fragte ich.

»Etwas über vierhundert«, sagte er. »Und es lohnt sich kaum noch.«

»Sie leben ja direkt bei Mutter Natur!« Elsa strahlte ihn an.

Er nickte bedächtig. »Messner hat mir genau erklärt, wie Sie sich benehmen würden«, murmelte er. »Und er hatte recht. So benehmen Sie sich auch. Sie machen so ein bißchen auf deppert, wie man in Bayern sagt.«

»O Scheiße!« sagte ich, fand es aber nicht angebracht, unhöflich zu sein. Ich öffnete meine Flasche und gab sie ihm. »Ich lebe alkoholfrei. Was hat Messner sonst noch gesagt?«

Er grinste. »Eigentlich nur, daß Sie kommen würden.«

»Ein präpariertes Mannsbild also«, murmelte Elsa.

»Dieser Messner geht mir auf die Nerven«, sagte ich.

»Das kann ich verstehen, aber er arbeitet eben für Vater Staat«, sagte er. »Und Staatsdiener sind gründlich.«

»Ich habe eine Bitte«, sagte ich. »Spielen Sie uns ein bißchen auf der Klarinette?«

Er lachte, und das sah beängstigend echt aus. »Man geht dem Künstler um den Bart.«

»So nicht«, murmelte ich abwehrend. »Sie haben so eine Art sauberen Ackerbilk-Sound, wenn Sie den Vergleich erlauben. Ich weiß ja Ihren Namen nicht.«

»Den glauben Sie mir nicht«, lächelte er. »Ich heiße Meier.«

»Wie schön für Sie«, sagte Elsa.

»Im Ernst. Sebastian Meier. Das mit der Klarinette erklär ich Ihnen noch. Was wollen Sie denn hören?«

»Kennen Sie die Klarinettenversion von Sinatras My Way} Das wäre jetzt gut, ich bin so schön wütend.«

Er nickte, spielte es lang und gut. Dann verlor er sich in einer Bachschen Fuge, und Elsa hauchte: »Toll.«

»Die Herde ist ruhig, wenn ich spiele«, sagte er.

»Sind Sie ein Berufsklarinettist?« Vielleicht gefiel ihm die Frage.

Er sah mich an, nahm einen kleinen Stein und warf ihn in das Feuer. »Ich bin Lehrer. Kunstgeschichte und Musik. Ich sage Ihnen das nur, weil Sie das sowieso rauskriegen würden. Mein Vater hat diese Domäne gepachtet, ich habe nie einen guten Job gekriegt und bin dann auf eine agrarwissenschaftliche Schule gegangen. Umgeschult also. Ich bin Schäfer mit Diplom. Was die andere Sache betrifft, wegen der Sie hier sind: Ich kann nichts sagen, weil ich unterschrieben habe, nichts zu sagen. Das geht einfach nicht, ich rede mich nicht um Kopf und Kragen.«

»Also haben Sie etwas gesehen?« fragte ich. »Oder anders gefragt: Sie sind der einzige Zeuge? Sie waren da, das wissen wir mit Sicherheit.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe Weiden gefunden, auf denen Schafe gezogen sind. Ich habe mit Vergnügen Schafscheiße entdeckt und Wolle auf den Zäunen. Und außerdem hatten Sie bereits Besuch von einer blonden Frau namens Marita Heims aus Blankenheim. Das war in der letzten Nacht.«

»Pressemenschen sind irgendwie verrückt«, sagte er. Es lag widerwillige Anerkennung darin. »Aber das darf ich wohl sagen: Ich bin der einzige Zeuge. Aber: Was ich gesehen habe, habe ich nicht verstanden.«

»War der Jeep geschlossen oder auf?«

»Ich sage nichts.«

»Sie sind ein Schofel«, sagte Elsa hell.

»Nicht doch!« wehrte er sich beleidigt. »Ich sitze auf einer ABM-Stelle, das Arbeitsamt finanziert mich, und die EG finanziert meine Herde. Ich kann mich doch nicht um meine Existenz reden.« Er grinste.

»Sie möchten das aber«, sagte ich schnell.

»Wie bitte?« fragte er irritiert. Dann sah er mich an, und ich sah das Verständnis in seinen Augen.

»Also: War der Jeep geschlossen oder offen?«

»Oh, Mann, Sie bringen mich in Verlegenheit. Können Sie etwas damit anfangen, wenn ich sage: beides?«

»O ja, damit kann er etwas anfangen«, sagte Elsa zufrieden. »Vielen Dank.«

»Aber mehr sage ich nicht.«

»Eines können Sie aber sagen: ob es eine Spionagegeschichte ist.«

Er sah mich an und lächelte. »Glauben Sie, die Kameraden von der Bundeswehr würden um eine Eifersuchtsgeschichte soviel Wirbel machen?«

»War der Täter ein Mann oder eine Frau?«

»Und wenn Sie mich totschlagen: beides!«

»Heißt das zwei Täter?«

Er schüttelte den Kopf. »Es heißt: beides.«

Er war sehr belustigt. »Jetzt mache ich Sie vollkommen verrückt, was?«

»Es ist eher komisch«, sagte ich. »Und es wäre sicher sehr komisch, wenn nicht soviel Brutalität dabei wäre.«

»Ja, das ist schlimm.« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben aber einen interessanten Beruf.«

Ich weiß nicht, was sich die Menschen unter dem Beruf des Journalisten vorstellen. Wahrscheinlich unentwegte Reisen in die hintersten Winkel dieser Erde, unglaublich interessante Menschen in nicht zu verdauender Schnelligkeit kennenlernen, das Wahnsinnsabenteuer in einer gleichförmigen Welt.

»Ich dachte immer, daß kluge Menschen eine solche Bemerkung nicht machen«, sagte ich.

»Ich bin ja nicht klug«, sagte er sanft. »Ich bin nur ein neugieriger Eifelbauer. Sie sind sauer, nicht wahr?«

»Ziemlich. Aber das hat weniger mit Ihnen zu tun als vielmehr mit diesem Messner. Er hat mich verprügelt.«

»Das hat er mir aber nicht gesagt.«

»Sie sollten ihn nackt sehen«, sagte Elsa empört. »Er hat immer noch ein Dutzend Pflaster!«

»Warum hat er Sie denn verprügelt?« fragte er.

»Weil ich Journalist bin und weil er die Hosen sehr voll hat«, sagte ich. »Wissen Sie etwas über die dritte Leiche, die Marianne Rebeisen?«

»Jetzt weiß ich endlich, wie sie heißt«, sagte er. »Vor zehn Sekunden wußte ich das noch nicht. Ich weiß nichts über die, absolut nichts. Sie war eben da.«

»Zu welcher Uhrzeit war das eigentlich?«

»Das war ziemlich genau um 23.45 Uhr.«

»Und ein alter Bauer hat die Toten entdeckt?«

»Ein Bauer hat sie gar nicht entdeckt«, grinste er. »Der Bauer ist eine Erfindung. Ich war das.«

»Hat es zu diesem Zeitpunkt geregnet?«

»Bindfäden. Aber jetzt sage ich nichts mehr, sonst macht mir Messner das Leben schwer. Er hat übrigens gesagt, es wäre Ihnen von der Bundesanwaltschaft verboten worden, die Sache zu untersuchen.«

»Das ist richtig«, sagte ich. »Das ist sehr richtig. Eine Frage noch: Als Sie die Toten entdeckten, war da alles passiert? Oder haben Sie zugeschaut, als es passierte?«

»Sie sind pingelig, was?« Er lächelte. »Das zweite, das zweite. Und ich würde an Ihrer Stelle vorsichtig sein. Die Jungens in dem Depot sind stinksauer. Messner hat ihnen gesagt, wenn ein schiefes Licht auf die fällt, ist das Schuld der Presse.«

»Immer dieselbe Leier«, sagte Elsa zornig. »Ein Vogel scheißt ins Nest, wir schreiben drüber und sind anschließend die Scheißer. Verzeihung. Rufen Sie uns denn an, wenn Ihre Schweigsamkeit vorbei ist?«

»Eine Frage noch«, sagte ich. »Die Marita Heims hat Sie heute nacht besucht. Auf dem Nachhauseweg ist sie schwer verunglückt. Wußten Sie das?«

»Ich hab gehört, sie ist aus einer Kurve geflogen. Sie wollte dasselbe wissen wie Sie. Aber ihr habe ich nichts gesagt, nichts angedeutet. Sie war ja wohl hinter dem toten Leutnant her.«

»Diese Geheimdienste sind einfach beschissen«, sagte ich. »Erinnern Sie sich an den schwulen General Kießling, der nie schwul war. Die Schwulität war eine Erkenntnis unserer teuren Nachrichtendienste. Und in diesem Fall hören wir dauernd, daß die Marita Heims geil auf den Lorenz Monning war. Tatsächlich war er aber genauso geil auf sie. Er hatte nämlich die Scheidung eingereicht, um die Heims zu heiraten. Das ist beweisbar.«

Das traf ihn, das machte ihn nachdenklich. Er blinzelte in die Sonne und murmelte vage: »Na ja, alles können die bei der Bundeswehr ja auch nicht wissen.«

»Das ist aber doch sehr wichtig, verdammt noch mal«, sagte ich heftig. »Damit steht und fällt doch ein Motiv für den Massenmord. Na, ist ja Wurscht. Sie erwischen mich hier in der Eifel.« Ich gab ihm die Karte.

»Wieso? Ich denke, die Redaktion ist in Hamburg.«

»Ich sitze hier und bereite mich auf die Rente vor. Dann will ich vier Heidschnucken und ein Dutzend Zwergziegen.«

Er wollte einen Witz machen, aber er sah, daß ich das ernst meinte. »Das habe ich nicht gewußt.«

»Macht ja nichts. Ist ja nur ein paar Minuten von hier. Und zu Hause haben wir auch einen Schnaps.«

»Ich komme mal vorbei«, murmelte er. »Und schönen Dank auch für den Besuch.«

»Moment, Moment«, sagte Elsa mit ganz weißem Gesicht. »Sie kommen mir nicht so leicht davon. Auf die Frage, ob der Täter eine Frau oder ein Mann war, antworteten Sie: beides. Heißt das auf gut deutsch, daß das nicht erkennbar war, weil es in Strömen regnete?«

»Richtig«, sagte er.

»Dann noch etwas: Ich traue Ihnen nicht, es kann sein, daß Sie lügen. Es gibt aber eine Möglichkeit, zu beweisen, daß Sie die Wahrheit sagen. Ungefähr zur Tatzeit ist ein Laster die Straße entlanggefahren. Vor den Morden oder nach den Morden?«

»Sehr gute Frage. Aber das können Sie ja überall in Hohbach erfahren. Es war vor den Morden, ziemlich genau fünfzehn Minuten vor den Morden.«

Elsa lächelte schnell. »Sie sind schon sehr nett«, murmelte sie.

»Jetzt bin ich noch einmal dran«, sagte ich. »Der Laster fuhr also kurz vor den Morden durch. Wie weit waren Sie entfernt?«

»Etwa zweihundert Meter nördlich auf einer Koppel.«

»Gut. Sie sind sicherlich technisch versiert. Hätten Sie gehört, wenn der Laster stoppt, anhält?«

»Sicher, hat er aber nicht.« Er verzog sehr ernst das Gesicht. Das war ein Punkt, der ihm Kummer machte.

»Messner schwört, der hat gehalten, und ich sage, er hat nicht gehalten. Na ja, ist ja wohl Wurscht.«

Wir schlenderten zum Wagen zurück. »Kannst du dir einen Reim darauf machen?«

»Nicht ganz. Zuerst war der Jeep geschlossen, dann offen. Den Mörder konnte er bei dem strömenden Regen nicht erkennen. Der Lastwagen kam vorher durch und stoppte nicht. Herzlichen Glückwunsch übrigens, deine Fragen sind hervorragend.«

»Keine Lobessprüche, bitte«, sagte sie. »Ich hätte den Dank gern in Naturalien.«

»Wie schön«, murmelte ich. »Bring mich bitte nach Hause. Fahr in die Klinik und stell fest, ob Marita Heims' Zimmer bewacht wird. Ich muß mich hinlegen, ich habe Schmerzen.«

Sie setzte mich ab und fuhr weiter, ich hockte mich an das Fenster zum Garten. Es war ein gutes Gefühl, Elsa in der Geschichte neben mir zu haben.

Krümel räkelte sich im Gras und wurde von zwei wütenden Rauchschwalben attackiert, die wie Sturzkampfbomber anflogen. Sie bemühte sich um Gelassenheit und putzte sich betulich beide Vorderläufe. Dann brachte sie irgend etwas durcheinander, und sie fiel um, weil sie das Gleichgewicht verlor.