ZWEITES KAPITEL

Sie hatten mich ins Schlafzimmer geschleppt. Ich lag auf dem Rücken auf meiner großen Matratze unter einem Laken. Neben mir hatten sie eine Zeitung mit einem Gummiband um den Lampenschirm geschnallt, um das Licht zu dämpfen. Vor das Fenster hatten sie ein weißes Tuch gespannt. Durch das Tuch schimmerte Licht, es war Tag. An dem kleinen Rohrtischchen saß Elsa und sah hübsch und besorgt aus. Ihr gegenüber saß Dr. Naumann. Ich kannte ihn, ich war vor einem Jahr in panischer Angst zu ihm in die Praxis gerannt, weil ich einen Herzinfarkt befürchtete. Er war seit fünf Jahren in der Gegend, etwa vierzig Jahre alt, mit sanft gewellten braunen Haaren über einem schmalen Gelehrtengesicht. Ich wußte nicht viel von ihm, außer daß seine Frau eine Frauengruppe für Bäuerinnen aufgemacht hatte. Das sprach eindeutig für ihn.

Ich konnte nur schwer sprechen, weil er auf beide Mundwinkel Pflaster geklebt hatte. »Wieviel Uhr ist es?«

»Sechs Uhr morgens«, sagte Elsa. »Du bist umgekippt.

Dr. Naumann hat Notdienst, er ist sofort gekommen mit jeder Menge Spritzen und Pflaster und Salben. Du siehst aus wie eine hundert Jahre alte geflickte Pferdedecke.« Dann schluchzte sie und sagte wütend: »Verdammt!«

»Ich habe Kopfschmerzen.«

Der Arzt nickte. »Das ist normal. Nach den Verletzungen und Prellungen zu urteilen, müssen Sie wie wahnsinnig Kopfschmerzen haben. Ihr Vermieter, der Alfred, ist losgefahren und holt Sachen aus der Apotheke. Sie waren schlimm dran und sind noch immer schlimm dran. Schädeltrauma und so, und ein schwerer Schock. Hält noch an.«

»Kann ich einen Kaffee trinken?« nuschelte ich.

»Kann nicht schaden bei dem Blutverlust. Aber einen sehr, sehr leichten. Ich werde Sie ins Krankenhaus bringen müssen. Sicherheitshalber.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Doch, doch«, sagte Elsa schnippisch und ging hinaus, um den Kaffee zu machen.

»Kommt nicht in Frage«, wiederholte ich nuschelnd. »Hier drin stinkt es auch schon nach Klinik, und das kann ich nicht ausstehen.«

»Ich rauche Ihnen eine Pfeife vor, dann geht das weg«, sagte er. »Ich frage mich nur, wie Sie es fertiggebracht haben, noch Auto zu fahren.« Er holte eine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie.

»Savinelli«, sagte ich, »schönes Modell.« Er hob grinsend die Pfeife hoch. »Von meiner Frau zum letzten Hochzeitstag«, sagte er. »Ich habe mir Ihren Wagen angeguckt. Sie sind zwar mit der Schnauze irgendwo ins Gras gefahren, aber einen schweren Unfall hatten Sie nicht ...«

»Rauchen Sie da Plumcake}«

Er nickte. »Lenken Sie nicht ab. Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht genau. Geben Sie mir noch ein paar Minuten. Wieso ist Alfred aufgetaucht?«

Er lächelte. »Na ja, Ihre Bekannte ist mitten in der Nacht gekommen, und Sie waren weg. Also hat sie Nachbarn rausgeklingelt und erfahren, daß Alfred Ihr Vermieter ist. Sie ist also zu Alfred und hat sich den Schlüssel geben lassen. Gegen drei Uhr hat eine Kuh gekalbt, und Alfred mußte helfen. Da hat er gesehen, daß Sie in Schlangenlinien auf den Hof fuhren, und ist sofort hierhergerannt. Sie waren bewußtlos. Er hat Sie hier auf die Matratze geschleppt, dann hat er mich geholt. Ihre Kollegin war erst hysterisch, aber das legte sich. Was ist passiert? Erinnern Sie sich wieder? Sie sollten sich schnell erinnern, sonst muß ich Sie sofort ins Krankenhaus bringen. Mit einem Erinnerungsschock kann man nicht herumalbern.«

Elsa kam mit Kaffee herein.

»Er kriegt eine halbe Tasse mit sehr viel Milch. Alle fünf Minuten ein Schluck, nicht mehr. Sie können innere Verletzungen haben.«

Elsa goß ein, fügte Milch hinzu und sagte aggressiv: »Du mit deinen Scheißmännerspielen. Es war doch ein Männerspiel, oder?«

»Wenn das ein Männerspiel war, gehe ich nach Casablanca und laß mir die Eier entfernen.«

»Wie du redest.«

»Ich kann nicht anders. Kann man denn diese blöden Pflaster am Mund nicht wegmachen?«

»Nein. Ich habe Sie hinter dem linken Ohr nähen müssen«, sagte Naumann. »Böse Platzwunde. Wollen Sie wissen, wieviel Stellen ich verpflastern mußte? Sechzehn. Wenn Sie mich fragen, sind Sie unter die Räuber gefallen. Sie haben böse Schläge bekommen, mindestens zehn bis zwölf massive Körper- und Kopftreffer. Ein paar davon gefallen mir nicht.«

Elsa gab mir zu trinken. Der erste Schluck tat nur weh, ich schmeckte nichts.

»Es war ein Mann«, sagte ich. »Ein schneller, schmieriger Profi.«

»Ein Mann nur? Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Ein Mann.«

»Niemals«, sagte er. »Wenn Sie die Wahrheit sagen, dann war das vorsätzliche Körperverletzung.«

»Das ist dem Mann Wurscht«, sagte ich.

Naumann wandte sich an Elsa und sagte lächelnd: »Wie Sie merken, will er nichts sagen.«

»Er wird schon reden«, sagte Elsa. »Er ist ja auf uns angewiesen, wir können ihn erpressen, wir stellen einfach jede Hilfeleistung ein.«

»Ihr könnt mich mal.«

»Sie sollten mir etwas sagen.« Naumann war nachdenklich und amüsiert. »Es ist so: Wenn ich als Arzt den Verdacht habe, daß eine kriminelle Handlung vorliegt, muß ich etwas unternehmen.«

»Und die Schweigepflicht?«

»Das muß ich abwägen«, sagte er. »Nehmen wir an, Sie sagen die Wahrheit. Wie sieht der Gegner aus?«

»Gesund und munter, keine Schramme.«

»Dann war es wirklich ein Profi, und Sie haben in Hohbach herumgestöbert.« Er blies einen dünnen Faden Tabakrauch gegen das Tuch am Fenster und sah mich nicht an. »Also war es wohl dieser Studienrat Doktor Messner.«

Ich sagte nichts und wollte den Kopf zur Seite drehen. Das ging nicht, das tat zu weh.

»War es dieser Messner?« fragte Elsa. Sie zündete sich eine Zigarette an. »Antworte doch, Baumeister. Ich kriege es sowieso raus.«

Irgendwo an Naumann piepste es schrill und heftig. »Das Funkgerät im Wagen«, sagte er und ging rasch hinaus.

»Der Chef hat dich auf eine schlimme Geschichte geschickt, nicht wahr?«

»Ja, aber er hat es nicht wissen können. Wie fühlst du dich in der Eifel?«

»Ganz gut, aber lenk nicht ab. Was ist das für eine Geschichte? Oder ist es eine Männergeschichte, und ich als Frau habe nichts darin zu suchen? Ihr Männer seid schon erschreckend.«

»Du bist ein Suppenhuhn«, sagte ich. »Die Tatsache, daß du hier bist, reicht völlig aus, um dich in die Geschichte zu bringen. Sie werden gerade eine Akte über dich anlegen.«

»Wer, sie?«

»Ich erzähle es dir später.«

Sie murmelte: »Ich erinnere mich an einen Vers.«

»Wie geht der?«

»Du hast eben so dahingesagt, ich sei ein Suppenhuhn. Der Vers geht so: Ein Suppenhuhn, ein Suppenhuhn, das soll man in die Suppe tun.«

»Es tut mir leid.«

Naumann kam zurück und sagte: »Da kommt ein Baby. Hausgeburten sind wieder in Mode. Jetzt passen Sie auf: Ich habe genügend Chemie in Sie reingepumpt, Sie werden schlafen. Ich komme wieder.« Er wandte sich an Elsa. »Wenn irgend etwas komisch ist, rufen Sie die Praxis an, meine Frau ist am Funkgerät und kann mich erreichen.«

Alfred kam die Treppe herauf, stand in der Tür und hatte eine Plastiktasche voll Apothekenkram dabei. Er war sehr unsicher: »Ich hab's dir gesagt, Junge. Ich habe gesagt, du landest im Krankenhaus. Die Dame da hat gesagt, sie wäre deine Freundin. Ich habe gedacht, ich glaube es.«

»Raus hier«, sagte der Arzt. »Er soll schlafen. Falls er verrückt spielt, binden Sie ihn fest.«

»Moment, Moment«, sagte Alfred, und da war nichts mehr vom Clown. »Kann ich was für dich tun?«

»Nur eine Frage«, sagte ich. »Hast du heute nacht irgendwen gesehen oder was gehört?«

»Da war ein Jeep im Dorf. Zweimal. Ich habe dir doch gesagt, daß die alles wasserdicht machen.«

»Raus jetzt hier«, sagte Naumann energisch.

Sie schlössen die Tür hinter sich, und sie mußten mich nicht festbinden, ich schlief sofort ein.

Später konnte ich die Augen nicht öffnen und jammerte. »Deine Augen schleimen sehr stark«, murmelte Elsa und wischte sie mit einem Lappen aus. Das beruhigte mich, und ich fiel in einen Halbschlaf.

Dann sah ich Messner auf mich zukommen und sehr schnell und hart zuschlagen, und ich hatte nicht einmal die Chance, mein Gesicht zu schützen. Da wurde ich endgültig wach.

Nach dem Schatten, den der Fensterrahmen auf den Vorhang warf, war es Mittag. Elsa sagte fürsorglich: »Es ist ein Uhr, du hast prima geschlafen. Nur zuletzt hast du einmal geschrien. Hast du noch Kopfweh?«

»Es gibt nichts, was mir nicht weh tut, aber es geht. War irgend etwas Besonderes?«

»Ich dachte immer, auf dem Land hätte man seine Ruhe. Kohler hat angerufen, aber er war nur neugierig, und ich habe ihn abfahren lassen. Dann hat die Genossenschaftsbank hier angeläutet. Du hast vergessen, die Briketts zu bezahlen. Dann rief ein Schreibmaschinengeschäft aus Gerolstein an, daß du deine Schreibmaschine abholen kannst. Die Reparatur kostet dreihundert Mark. Irgendein Bundestagsabgeordneter der Grünen rief an. Er tat sehr geheimnisvoll und wollte mir nichts sagen, er ruft noch mal an. Sonst war eigentlich nix. Doktor Naumann kommt gleich. Ich soll dir von Alfred sagen, daß du Brennesseltee trinken sollst. Das sei gut, sagt er. Ich finde Alfred gut.«

»Er ist auch gut. Im Garten hinten an der Mauer stehen Brennesseln. Ich wollte sie stehenlassen, damit wir viel Schmetterlinge haben.«

»Du redest wie ein Körnerfresser.«

»Ich kann Körnerfresser nicht leiden, aber ich mag Schmetterlinge.«

»Mögen und nicht mögen: Da liegt deine gottverdämmte Katze und sieht mich so an, als hätte ich vor, dich zu vergiften. Sie hat mich gekratzt, als ich dein Bett gemacht habe.«

»Sie liebt mich.«

»Von einer Katze geliebt zu werden ist dir wahrscheinlich scheußlich angemessen. Es ist so unverbindlich.«

»Nicht so was, nicht so was auf nüchternen Magen. Was darf ich essen?«

»Fleischbrühe. Steht auf dem Herd.«

»Na gut. Und ein Stück Brot.«

»Brot darfst du nicht.« Unten auf dem Hof fuhr jemand vor, Elsa nahm den Vorhang zur Seite. »Es ist Naumann. Und ein Krankenwagen.«

Ich versuchte mich aufzurichten, aber es ging nicht. »Ohne meine Einwilligung läuft da nichts.«

»Stell dich nicht an. Er ist ein guter Mann, er sorgt sich um dich.«

»Ach, hör auf. Sag ihm, er soll samt seinem Krankenwagen abhauen.«

Der Arzt kam allein herein. »Ich werde Sie fürstlich belohnen, wenn Sie sich einen Gefallen tun: Lassen Sie sich schnell zur Klinik in Gerolstein fahren. Nur röntgen. Ich betone: Es ist kein Trick dabei, nur röntgen.«

»Was ist die Belohnung?«

»Ich komme gegen Abend und bringe sie Ihnen.« Er war ganz ernst und in Gedanken versunken. Die beiden jungen Männer mit der Bahre versuchten mich zu schonen, aber auf der steilen, engen Treppe rutschte ich ihnen ab, schlug mit der Schulter gegen das Geländer und wurde ohnmächtig. Im Krankenhaus behauptete der eine von ihnen empört, meine Katze hätte ihm die Pfote in die Wade geschlagen. Aber ich glaubte ihm nicht.

Es ist erstaunlich, in welche Positionen Röntgenologen den menschlichen Körper bringen können. Sie bogen mich, sie winkelten mich, sie legten mich in Falten. Wenn ich vor Schmerzen schrie, sagten sie zufrieden, das sei prima so, denn offensichtlich funktioniere ich noch richtig. Sie kamen nach langer Konferenz überein, daß ich innerlich intakt sei, nickten ernst, wünschten mir gute Besserung und übergaben mich wieder den beiden jungen Männern.

Ich weigerte mich, erneut die Treppe hinaufgeschleppt zu werden, sie verfrachteten mich auf das Sofa, und ich hatte ein verdammt gutes Gefühl, neben dem Telefon zu liegen.

Elsa setzte sich zu mir und legte mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn. »Erzähl mir die Geschichte«, murmelte sie. »Es ist schlimm, dich anschauen zu müssen und keine Ahnung zu haben, was gespielt wird.«

Ich erzählte ihr alles, aber es machte keinen sonderlichen Eindruck auf sie. »Sicher«, sagte sie nur, »das ist eine Geschichte, die paßt. Die paßt in dieses Land. Und was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht, zunächst kann ich gar nichts tun. Die am Depot haben Angst, das ist klar. Sie haben die Hosen voll. Sie haben Angst, daß wir etwas erfahren, und alles wissen sie selbst nicht, denn sonst wären sie nicht so aggressiv. Egal, wo ich anklopfe, egal, wo ich anfange, ich werde wahrscheinlich auf die eine oder andere Art immer verprügelt werden. Oder sie stecken mich einfach in den Knast. Das können sie mit Staatssicherheit begründen, und niemand wird ihnen widersprechen. Du solltest abhauen.«

»Kommt nicht in Frage. Alfred hat keine Zeit, auf dich aufzupassen. Naumann hat gesagt, es wird drei bis vier Tage dauern, ehe du überhaupt kriechen kannst.« Sie kramte in der Apotheken-Plastiktüte. »Du sollst in diese Becher pinkeln. Und groß sollst du in diese Pfanne machen. Du darfst nicht aufstehen. Den Urin muß ich in Naumanns Praxis bringen.«

»Ich werde jede Verdauung verweigern.«

Sie lachte und sah richtig glücklich aus. »Ich hatte vor ein paar Tagen einen Flug nach Griechenland gebucht, weil ich dachte, du wirst dich schofel anstellen. Aber jetzt habe ich storniert, weil du dich nicht wehren kannst.«

Ich mußte grinsen, und es tat weh. »Ich werde dich nicht heiraten.«

»Oh, das will ich nicht. Glück ist begrenzt«, sagte sie leicht. »Heiraten ist mir ein paar Nummern zu groß. Versorgen kann ich mich selbst.«

Mir fiel plötzlich auf, daß ich recht wenig von ihr wußte. Was ich wußte, hatte ich in der Redaktion erfahren, nebenbei und ungefragt. Es gab einige Kollegen, die hinter ihr her waren wie der Teufel hinter der armen Seele. Sie war eine leise, sanfte Person, rund einhundertsechzig Zentimeter groß, sehr schlank, mit einem ovalen, fraulichen Gesicht, halblangen Haaren, in denen ungefärbt silberne Strähnen schimmerten.

Nur selten wurde sie laut, und selbst Beschimpfungen flüsterte sie sicherheitshalber, was aber die Beschimpfung nur schlimmer und eindringlicher machte. Angeblich war sie einmal verheiratet gewesen, angeblich hatte sie keinen Freund, angeblich lebte sie ganz allein, angeblich war sie Mitte Dreißig, angeblich mochte sie Männer nicht sonderlich, nahm sie hin, hatte angeblich auch nichts mit Frauen, angeblich, angeblich, angeblich. Sie hatte ein paar hervorragende subtile Reportagen gemacht, und ihre Schreibe war sehr suchend, sanft und niemals schrill. Wir hatten miteinander geschlafen wie zwei Inseln, die zusammengetrieben werden, um sich dann wieder voneinander zu lösen, und ich erinnerte mich deutlich daran, daß sie anschließend die ganze Nacht Monteverdi gehört hatte, sanft hin- und herschaukelnd und ganz von mir getrennt. Sie hatte, die Knie zwischen die Arme hochgezogen, auf einem großen Plüschkissen gehockt wie ein Kind, das sich selbst Märchen erzählt. Als ich ging, hatte sie gesagt: »Nicht daß du dir etwas ausrechnest ...« Nun war sie da.

Alfred tuckerte mit dem Fendt auf den Hof, kam hinein und rief: »Ich fahre rüber nach Adenau. Braucht ihr was?«

»Ja, einen leichten Tabak. Pipemakers heißt der. Und Pfeifenreiniger.«

Er tauchte in der Tür auf. »Du bist nicht kaputtzukriegen, was? Hör mal, da ist was. Ich hab dir doch von dem alten Kumpel in Hohbach erzählt. Der rief an. Da sind Leute von der Bundesanwaltschaft gekommen, irgendwelche Experten. Sie vergattern jeden, und jeder muß unterschreiben, daß er nichts sagt. Die Soldaten und bestimmte Leute aus dem Dorf. Nachrichtensperre.«

»Wenn jemand reden will, wird er reden. Warten wir es ab. Noch eine Leiche?«

Er grinste nicht, er sagte zögerlich: »Bis jetzt nicht«, und ging wieder hinaus.

Elsa lief hinter ihm her, und ich hörte sie munter sagen: »Könnten Sie mir Steaks mitbringen und Tartar? Er muß kräftig essen. Und können wir uns nicht duzen? Das ist doch bequemer.«

Ich schlief ein, und als ich aufwachte, war Naumann da, rauchte eine Pfeife und sah aus dem Fenster in den abendlichen Garten. Im Westen war der Himmel feuerrot. »Das mit der Mauer machen Sie gut«, sagte er. »Haben Sie daran gedacht, obendrauf Farn zu setzen und Zittergras?«

»Schon geplant. Was ist mit meiner Belohnung?«

Er sah mich nicht an, starrte aus dem Fenster, paffte vor sich hin. »Ich bin unheimlich sauer«, murmelte er. »Messner ist tatsächlich ein Profiim Prügeln. Aber: Hätte er sich bei einigen Schlägen um ein paar Zentimeter vertan, wären Sie jetzt tot. Messner kümmert sich in einer Menge Depots hier in der Eifel um die körperliche Ertüchtigung der Leute, Messner ist überall, macht überall seine dreckigen Witze nach dem Motto: Eine Frau kommt zum Arzt ... Messner taucht bei jedem Unfall der Bundeswehr auf, Messner ist bei jeder Prügelei dabei. Haben Sie eine Ahnung, wer er wirklich ist?«

»Ich weiß es nicht. Irgendein Experte vom Geheimdienst vielleicht. Vielleicht MAD. Die Kripo ist nicht an dem Fall dran, die ist rausgeschmissen worden.«

»Ich weiß«, sagte er. »Ich habe einen Bekannten in der Mordkommission in Trier. Der rief mich an, die sind alle stinksauer.«

»So ist es richtig«, sagte ich. »Ich sammele stinksaure Menschen in der Eifel. Wieso haben Sie so schnell auf Hohbach getippt?«

»Weil die mich gerufen hatten. Die haben im Depot keinen Arzt, nur Sanitäter. Ich war bei den beiden ersten Leichen. Und zu der Frau, die später gefunden wurde, haben sie mich auch geholt. Ich bin nämlich der zuständige amtliche Leichenbeschauer.« Er kratzte sich am Ohr. »Ich will ehrlich sein: Ich wurde nicht angerufen, weil ich als amtlicher Leichenbeschauer zuständig bin, sondern deshalb, weil irgendein Soldat, wahrscheinlich aus Krimis, gewußt hat, daß bei Mord ein Leichenbeschauer hinzugezogen werden muß. Als Messner mich sah, wurde er wütend und schrie mich an, was zum Teufel ich denn wolle. Mit anderen Worten: Die Geheimdienstleute wollten keine Zivilisten dabeihaben. Aber ich war da, und sie mußten mich akzeptieren. Dieser Messner hat mich einen Vordruck unterschreiben lassen. Da steht drin, daß ich niemandem Auskunft gebe, keinem Angehörigen, keinem Pressemenschen. Nicht einmal meinem Praxispersonal.«

»Sie kennen aber die Namen der Opfer. Und Sie haben die untersucht, genau angeguckt.«

»Es war eine Schweinerei.« Er nickte heftig. »Solch ein Tod macht mich hilflos. Und Typen wie Messner machen mich stinksauer.« Er stand auf und legte ein Holzscheit auf das Feuer. »Ich weiß nichts von dem Hintergrund der Geschichte, aber ich weiß, daß sie Leute fast zu Tode prügeln, wenn sie meinen, daß diese Leute sich einmischen. Und da hört mein Verständnis auf. Werden Sie in die Geschichte einsteigen?«

»Ich bin schon drin«, sagte ich.

»Das würde ich mir aber genau überlegen«, gab er zu bedenken. »Sie müssen wissen, daß ich ein geschulter Totenbeschauer bin, eine seltene Spezies. Diese Morde verraten eine unglaubliche Brutalität. Und Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß Messner weiterprügeln wird. Messner will nicht, daß man sich einmischt. Und Messner ist mächtig.« Er seufzte. »Es ist nämlich so: Ich habe die Toten fotografiert. Mit Polaroid.«

Da war es ganz still im Haus, nur ein paar Fliegen summten, und Krümel auf meinem Bauch seufzte lang und wohlig und streckte die Pfoten nach vorn.

Der Arzt fuhr fort: »Es war die Nacht von Sonntag auf Montag in der Woche vor Pfingsten. Die Tatzeit muß nach meinen Erkenntnissen ziemlich genau um Mitternacht liegen, weil...«

»Nicht so schnell«, sagte ich hastig. »Warum um Mitternacht?«

»Das hat etwas mit dem Zustand des Blutes zu tun, und da gab es viel Blut, obwohl es in Strömen gegossen hatte. Als ich dort war und meine Untersuchungen aufnahm, war es etwa acht Uhr. Trotzdem konnte ich bei beiden Leichen im Jeep massive Blutklumpen finden. Und der Zustand läßt ziemlich präzise Schlüsse zu. Es müssen etwa acht bis neun Stunden seit der Tat vergangen sein, also war es Mitternacht oder 23 Uhr. Wir haben ...«

»Verdammt, nicht so schnell. Elsa! Bitte, Elsa!«

Sie kam herein, und ich sagte: »Ich will, daß du das alles genau mitkriegst. Bitte, bleib hier.«

Sie setzte sich und fragte: »Mitschreiben?«

»Nein. Auswendig lernen. Doktor, hat es noch geregnet, als Sie am Tatort ankamen?«

»Als ich am Tatort war, hat es nicht geregnet. Ich habe übrigens mit dem Wetteramt in Trier sehr genau abklären können, wann der Regen einsetzte und wann er aufhörte. Es begann am Sonntag abend um 20 Uhr zu regnen und hörte etwa am Montag morgen gegen fünf Uhr auf. Dauerregen.«

»Wie sah denn dieser Tatort aus?« fragte Elsa. Sie sah Naumann nicht an, sie starrte auf den Fußboden. Das tat sie immer, wenn sie sich konzentrierte, und ich konnte sicher sein, daß sie mühelos fast Wort für Wort einer langen Erzählung noch nach Tagen wiederholen konnte.

»Also: Aus dem Depot heraus führt eine schmale Asphaltstraße zur Bundesstraße. Ungefähr zweitausend Meter lang, würde ich schätzen. Sie steigt langsam an. Etwa dreihundert Meter vom Tor des Depots entfernt führt nach links ein Waldweg in ein Gehölz. Buchen, sehr hohe Stämme rechts, Ginster, Birken und Erlen links. Dieser Weg ist der Tatort. Und zwar ziemlich genau hundert Meter von der Straße entfernt. Der Jeep stand offen auf dem Weg ...«

»Offen?« fragte ich.

»Ja, das ist verrückt, ich weiß. Der Jeep war offen, er war bei dem Regen eine Art Badewanne. Der Mann saß links am Steuer, die Frau neben ihm. Beide hatten keine Köpfe mehr, oder nur noch sehr wenig davon ...«

»Sind die in diesem Jeep erschossen worden?« fragte Elsa.

»Das kann ich nicht beschwören, aber ich würde sagen, daß die Waffenlage, wie Kriminalisten das zuweilen nennen, den Todesschuß im Jeep ausschließt. Sehen Sie: Eine Schrotflinte ist relativ lang, und die Hintersitze eines Jeeps sind schmal wie ein Brett. Außerdem habe ich neben dem Wagen wohl die Stelle gefunden, wo die beiden erschossen wurden: von hinten. Sie sind erst danach in den Wagen gesetzt worden. Als ich ankam, waren etwa achtzig Menschen dort. Es waren drei Hubschrauber des Heeres aus Bonn gekommen. Alles Leute in Zivil. Vom MAD, vom Verfassungsschutz und vom BND. Zu diesem Zeitpunkt war der Tatort, also der Jeep, nicht einmal abgesperrt. Die Soldaten liefen herum wie aufgescheuchte Hühner, sie trampelten buchstäblich herum. Und einige von ihnen fotografierten wie Touristen. Niemand hat darauf geachtet, daß ich auch fotografierte. Außerdem hat jeder mich für einen Geheimdienstler gehalten, denn ich fotografierte und trug bestimmte Spuren und Körperzustände der Ermordeten in eine Liste ein. Das sieht amtlich aus. Ich sage Ihnen, Baumeister: Wenn jemand bei der Bundeswehr erfährt, daß Sie die Fotos und die Personalien und die Todesursache und die wahrscheinliche Tatwaffe haben, dann werden Sie nicht verprügelt, dann schickt Sie jeder Bundesermittlungsrichter ohne Übergang in den Bau. Und mich mit Ihnen.«

»Warum geben Sie das alles raus?«

»Weil ich diese Methoden hasse, weil mir das nach Faschismus stinkt, weil ...« Er wedelte ein wenig hilflos mit den Armen. »Ich habe nachgedacht. Ich habe ein paar Ihrer Geschichten gelesen. Sie fangen doch jetzt erst an, ich kann Sie nicht aufhalten. Und Sie würden auch erfahren, daß ich die Totenscheine ausgestellt habe, oder?«

»Ja. Aber Sie riskieren Ihre Existenz.«

»Ich weiß das«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht, was geschehen wäre, wenn Messner Sie totgeschlagen hätte ... Nichts wäre passiert. Der Leutnant ist ja auch als bedauerliches Verkehrsopfer beerdigt worden.«

»Und die Frau? Ich meine, die Frau Nummer eins.«

»Die haben sie noch in der Anatomie in Bonn. Die hat keine Verwandten, keinen Hahn, der nach ihr kräht. Wird behauptet.«

»Und die andere Frau, die später entdeckt wurde?«

»Sie hatte Papiere bei sich. Ist aus Köln. Keine Verwandten. Die Leiche ist auch noch in Bonn.«

»Diese zweite Frau, die dritte Leiche, die Tage später entdeckt wurde – ist die zusammen mit den beiden Leuten im Jeep getötet worden?« fragte Elsa.

»Mit absoluter Sicherheit, ja«, sagte er.

»Wird denn nicht gemunkelt, wer sie war?« fragte ich.

»Natürlich«, murmelte er. »Es heißt, sie ist die Freundin der anderen getöteten Frau gewesen.«

Dann war es sehr still.

Elsa zündete sich eine Zigarette an. »Baumeister hat von diesem DDR-Lastwagen gesprochen, dessen Fahrer zuerst am Mittwoch in Hohbach übernachtete, dann mitsamt dem Laster verschwand, dann am Samstag wieder auftauchte, bis Sonntag abend blieb. Dann verschwindet er, und drei Menschen werden fast zeitgleich ein paar hundert Meter entfernt erschossen. Was wissen Sie darüber?«

Er zündete seine Pfeife an, eine Spitfire von Lorenzo. »Es ist sicher, daß Messner und all die anderen Männer von den Geheimdiensten die Affäre als Spionagegeschichte betrachten. Irgend etwas ist da passiert, irgendwie spielt der DDR-Laster mit, aber es gibt ja keine Zeugen, und ich weiß nur, was alle munkeln. Krieg der Agenten, wenn Sie wissen, was ich meine, und wenn Sie ...«

»Sie haben aber doch gesagt, daß die offizielle Version so ist, daß dieser Lorenz getötet wurde ... bei einem Unfall«, sagte sie hell. »Das paßt doch alles nicht.«

»Doch, doch«, entgegnete er, »das paßt durchaus. Die beiden getöteten Frauen haben keine Anverwandten, also braucht niemand informiert zu werden. Nur der Bundeswehrmann hat welche. Um ungestört die Spionageaffäre aufklären zu können, macht man offiziell einen Unfall draus.«

»Ich mache erst mal einen Kaffee«, sagte Elsa sehr blaß und ging hinaus.

»Ich will alles wissen«, sagte ich. »Aber mir muß etwas einfallen, um Sie abzusichern. Sie müssen die Fotos behalten, Sie müssen jederzeit beweisen können, daß Sie die Fotos nach wie vor in Besitz haben und daß niemand sie hatte ... Ich habe eine Nikon hier ... Elsa! Komm mal rein. Da hinten im Regal liegt die Nikon. Mach sie auf und nimm den Film raus. Leg einen neuen Film ein.

Hochempfindlich, 36 DIN. Wo haben Sie das Zeug, Doktor? Ach, gut, in einem Umschlag. Nehmen Sie jetzt Ihre Tasche, und lassen Sie dabei Ihren Umschlag fallen. Jetzt gehen Sie raus und fahren vom Hof. Unten in der Kneipe bei Manni trinken Sie etwas. Dann merken Sie, daß – Sie etwas verloren haben. Und das müssen Sie laut und deutlich in der Kneipe sagen. Dann kommen Sie hierher zurück. Das Ganze muß ein richtiger, ordnungsgemäßer Vorgang mit Zeugen sein. Alles klar? Gehen Sie, Doktor.«

Er ging, der Umschlag lag auf dem Boden.

»Elsa, hast du den Film drin? Gut. Nimm jetzt diesen Umschlag hier, mach ihn auf, und hol alles raus, was drin ist. Mach am Schreibtisch sämtliche Lampen an, das sind rund vierhundert Watt, das muß reichen. Leg die Bilder nebeneinander hin.«

Draußen startete der Arzt seinen Wagen und fuhr weg.

»Jetzt gehst du mit den ersten Aufnahmen total auf das ganze Sammelsurium.«

»Da ist auch ein Zettel mit Schreibmaschinenschrift«, sagte Elsa. »Aber die Polaroids glänzen so, die reflektieren das Licht, das geht so nicht, o Gott ...« Sie neigte sich zur Seite, war schneeweiß und übergab sich.

»Verdammt noch mal«, sagte ich, »das ist schrecklich, ich weiß. Nimm das ganze Zeug, und trag es her zum Sofa. Alles, mach schnell. Und bring die Tischlampe mit, und dann gehst du raus.«

Sie keuchte und murmelte: »Tut mir leid, Baumeister, tut mir so leid.« Sie brachte die Polaroids und den Zettel und zitterte.

»Leg alles nebeneinander auf den Boden, und gib mir die Kamera. Schließ die Lampe an. O.k. Gut so. Und jetzt geh raus.«

»Ich wisch das auf«, murmelte sie zittrig. »O Gott, ich bin nicht hart genug für so was Furchtbares.«

Es dauerte sicherlich eine Minute, bis ich mich auf die Seite in die richtige Position gedreht hatte. Ich fotografierte jedes Polaroid und den Zettel. Alles dreimal, um ganz sicherzugehen. Dann steckte ich das Material zurück in den Umschlag. Als der Arzt hereinkam, gab ich ihm den Umschlag und bedankte mich. »Steht auf dem Zettel alles, was ich wissen muß?«

»Eigentlich ja. Alles, bis auf den Hinweis auf die Tatwaffe. Ich habe keinerlei praktische Erfahrung mit so etwas, aber es war in allen drei Fällen wohl eine Schrotflinte. Gefeuert wurde aus nächster Nähe, deshalb haben die fast keinen Kopf mehr. Ich gehe jetzt. Morgen früh komme ich wieder. Wenn Sie nicht schlafen können, quälen Sie sich nicht, nehmen Sie zwei von den Beruhigungskapseln und zwei Schlafpillen. Seien Sie rücksichtslos, Sie müssen schlafen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte ich.

Er hatte nicht nur die Leichen fotografiert, er hatte die ganze Szenerie aufgenommen: den Jeep auf dem Waldweg mit den beiden Toten drin und den ratlosen, verwirrten Soldatengesichtern drum herum. Und die Leiche der Frau im Farnkraut mit Soldaten in Tarnanzügen und ihren hilflosen Kindergesichtern.

»Das sieht wie eine Hinrichtung aus«, sagte er.

»Ja«, sagte ich, »da ist ein Verrückter hingegangen und hat lieber Gott gespielt. Wie geht es Elsa?«

»Ganz gut. Sie hockt in der Küche und trinkt einen Magentee. Machen Sie es gut.«

Später, als wir die Tagesschau gesehen hatten, murmelte Elsa: »Du mußt schon entschuldigen, aber ich kriege so etwas nicht auf die Reihe. Ich möchte auch nie eine Reporterin werden, die solche Bilder anschauen kann, ohne daß ihr schlecht wird. Du mußt aussteigen aus dieser Sache, du mußt einfach aussteigen.«

»O nein«, sagte ich. »Zuviel Geld.«

»Ich schenk es dir«, sagte sie heftig. »Du kannst meine Sparbücher haben.«

»Das ist es nicht. Es ist diese gottverdammte Selbstherrlichkeit der Krieger und all der Leute, die sich Messner nennen. Viel Brutalität zum Besten des Vaterlandes. Du mußt die Filme entwickeln, Kopien ziehen und die Filme in Sicherheit bringen. Du fährst in meine Wohnung nach Köln, da ist alles vorhanden. Du machst eine Serie vierundzwanzig mal sechsunddreißig schwarzweiß. Den Film steckst du in einen Umschlag und schickst ihn per Einschreiben und Eilboten an den Chef privat. Fahr jetzt.«

»Paß auf dich auf und nimm Tabletten, damit du schläfst.«

»Ich will nicht schlafen, ich will nachdenken.«

»Ich komme schnell zurück.«

»Moment! Wenn jemand dich verfolgt, was ja sein kann, aber vielleicht habe ich schon eine Paranoia, dann fährst du schlichtweg weiter. Einfach bis zu einem Punkt, an dem du wenden kannst. Dann fährst du stur hierher zurück. Falls sie dich anhalten und alles durchsuchen ... du mußt den Film gut verstecken. Wenn sie den finden, sind wir erledigt.«

»Ich verstecke ihn da, wo niemand mich durchsuchen wird.«

»Du kennst die modernen Durchsuchungsmethoden nicht. Ein richtig moderner Staat macht vor nichts halt.«

»Egal, ich fahre jetzt. Haben die meine Autonummer schon?«

»Na sicher. Die Jeeps waren hier und haben nachgesehen, ob ich nach Hause gekommen bin. Dein Wagen steht auf dem Hof, die Nummer wird automatisch notiert.«

Sie nickte, ging zum Telefon und rief Alfred an. »Kann ich mal deinen Wagen haben? Nur ein paar Stunden. Oh, danke, du bist ein netter Mensch.«

»Du hast wirklich Ideen«, sagte ich. »Und ich bin ein kleiner Mann in einer großen Welt, und mein Haar wird schnell grau.«

»Das ist sehr gut«, sagte sie hell. »Das ist von Raymond Chandler.«