14

Ein leeres Wohnzimmer empfing mich. Das Haus war klein; es bestand nur aus Wohnraum, Küche und drei Schlafzimmern, alle spärlich möbliert und peinlich sauber. Meine Großmutter mochte helle Farben und hasste Unordnung. Mein Vater schätzte sich glücklich, einen Stuhl in der Ecke zu haben, wo er in Ruhe die Zeitung lesen konnte.

Ich ging die schmale Diele hinunter und bemerkte, wie still es war. An der einen Längswand der Diele befanden sich kleine Fenster mit Blick auf den vorderen Hof. An der anderen Wand führten Türen zu den Zimmern meiner Großmutter, meines Vaters und schließlich zu meinem eigenen.

Beherzt öffnete ich die Tür zu meinem ehemaligen Kinderzimmer. Die Rollläden waren hochgezogen und mein schmales Bett mit Fotos bedeckt. Weitere gerahmte Bilder standen an die Wand gelehnt. Ich hatte meinem Vater mein Kommen angekündigt, konnte jedoch nicht sagen, ob er die Bilder extra für mich hier hereingebracht oder sie die ganze Zeit über so gelagert hatte.

Hinter mir hörte ich Schritte. Ich war nicht beunruhigt, denn ich kannte das Geräusch.

Meine Großmutter stand draußen auf dem Flur und beobachtete mich. Mit ihren siebzig Jahren hatte sie ihre frühere Rundlichkeit verloren, aber sie hielt sich kerzengerade, und ihr Haar war immer noch schwarz. Sie hatte nie zugegeben, es zu färben, doch ich war mir ziemlich sicher, dass meine Cousine Cindy ihr dabei half. Großmutters Augen hinter der Brille waren dunkelbraun und so mandelförmig, dass manche Leute sie fälschlicherweise für eine Asiatin hielten. Nicht viele, denn sie verließ unser Stammesgebiet nur selten.

»Sechs Jahre, ohne dich zu Hause blicken zu lassen«, sagte sie auf Diné. Großmutter sprach nie Englisch, wenn sie es vermeiden konnte. »Und jetzt tauchst du hier auf, nur um deine Fotos abzuholen.«

»Ich weiß.« Was sollte ich auch sonst dazu sagen? Ich spürte, wie ich unter ihrem scharfen Blick zusammensank, ich, ein allmächtiger Stormwalker. »Tut mir leid.«

»Dieser Biker. Wer ist er?«

Ich versuchte ein Lächeln, das nicht lange anhielt. »Er heißt Mick.«

»Was ist er? Er hat Feuer in seiner Aura.«

Ich zuckte die Schultern. »Frag ihn doch.«

Sie sah mich missbilligend an. »Komm mit, Janet! Ich muss dir etwas zeigen.«

Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer. »Wo ist Dad?«

»Draußen.«

Was bedeutete, dass er sich bei den Schafen aufhielt. Dad hatte einen Lieblingsplatz in einer kühlen Felsnische, wo er saß und unsere grasende Herde beobachtete. Dort draußen konnte er stundenlang hocken. Großmutter warnte ihn immer vor einem Hitzschlag, aber er hatte bisher nie einen bekommen. In Anbetracht dessen, dass mein Vater den größten Teil seiner Zeit in einem Haus voller stimmgewaltiger, rechthaberischer Frauen verbrachte, war es kein Wunder, dass er sich eine Zuflucht gesucht hatte. Die Stille dort draußen war unermesslich.

Ohne abzuwarten, ob ich ihr folgte, ging Großmutter aus dem Haus und auf meinen Geländewagen zu.

»Wohin willst du?«, fragte ich, als ich ihr nacheilte.

»Ich sag’s dir unterwegs. Aber du musst fahren. Ich bin zu alt.«

Ich wusste, dass mit Großmutters Augen alles in Ordnung und sie auch immer noch fit genug war, um Auto zu fahren, doch sie zog es vor, von anderen Leuten kutschiert zu werden.

Mick lehnte an seiner Maschine. »Soll ich mitkommen?«

Großmutter ging zu ihm hinüber und blieb vor ihm stehen. Sie war nicht einmal einen Meter fünfzig groß, und Mick über zwei Meter, aber sie tippte ihm furchtlos mit einem dünnen Finger auf die Brust. »Das hier geht Sie nichts an, Feuermann«, sagte sie in perfektem Englisch. »Mit Ihnen rede ich später.«

Mick grinste verschmitzt. »Jawohl, Ma’m.«

»Und jetzt machen Sie sich nützlich und öffnen diese Autotür für mich.«

Sie trat zurück, während Mick die Beifahrertür des Geländewagens aufzog, sprang aber ohne Hilfe auf den Beifahrersitz. Ich setzte mich ans Steuer und startete den Wagen. Als Mick die Tür schloss, warf ich ihm einen um Entschuldigung bittenden Blick zu.

»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte ich Großmutter.

»Nach Osten.«

Sehr präzise Wegbeschreibung. Mick gab der Beifahrertür einen Klaps und winkte uns nach. Ich fuhr von unserem Grundstück und über die ungeteerte Straße auf den Ort zu.

Auf der anderen Seite von Many Farms wollte Großmutter auf die Straße nach Rough Rock. Wir fuhren schweigend dahin, das einzige Fahrzeug auf der Straße. Nach meiner langen Fahrt aus Magellan hatte ich mich auf eine Dusche und etwas Erholung gefreut, aber hier war ich nun, rollte gehorsam in die Wüste hinaus, hatte außer einer halb leeren Sportflasche kein Wasser dabei und hoffte, dass meine Großmutter wusste, wo sie hinwollte.

Ich dachte schon, sie würde mich den ganzen Weg nach Kayenta scheuchen wollen, da sagte sie abrupt: »Hier abbiegen.«

Sie zeigte auf eine unbefestigte Seitenstraße, und gehorsam bog ich darauf ein. Am Ende der schmalen und sehr holprigen Waschbrettpiste stand ein Hogan in einer Mulde, überschattet von einem knorrigen Baum.

»Hier?«

Großmutter nickte. Ich stellte den Geländewagen ab, und sie sprang heraus.

»Wen besuchen wir hier?«

Sie antwortete nicht, sondern ging zu dem Hogan und öffnete die Tür. Drinnen war es zum Glück schattig, aber auch heiß und stickig.

»Ich habe dich hergebracht, damit du das siehst«, sagte Großmutter. »Hier ist vor zwei Wochen Harold Yazzie gestorben.«

Ich hatte keine Ahnung, wer Harold Yazzie war. Yazzie war ein gebräuchlicher Diné-Nachname, doch ich kannte niemanden namens Harold. Noch verblüffender als die Tatsache, dass sie mich zum Hogan eines Mannes gebracht hatte, den ich nicht gekannt hatte, war, dass sie selbst an einen Ort kam, an dem jemand gestorben war. »Wer war er?«, fragte ich.

»Ich kannte ihn vorher auch nicht. Seine Töchter kamen zu mir, als er im Sterben lag, und baten mich, bei ihm zu sitzen. Er wollte mir etwas sagen.«

Es regte sich kein Lüftchen, und keine Vögel waren zu sehen. Auch sie mussten wissen, dass der Tod hier gewesen war.

»Dir was sagen?«

»Dass er ein Kind gezeugt hatte. Ein Mädchen. Vor etwa dreißig Jahren.«

»Welches Mädchen?«, wollte ich perplex wissen.

»Es starb bei der Geburt.«

»Oh. Das ist traurig.«

»Auch die Mutter starb bei der Geburt. Das hat Harold mir auf seinem Totenbett verraten. Er hat das Geheimnis dreißig Jahre lang gehütet.«

Meine Großmutter musterte mich mit klarem Blick. Der einzige Hinweis darauf, dass sie die Hitze spürte, waren die feinen Schweißperlen auf ihren Wangen.

Ich kam nicht mit. »Warum war es ein Geheimnis?«

»Weil die Frau, die starb, weiß war und nicht seine Frau.« Großmutters Stimme klang bedeutsam. »Harold war schon verheiratet, als er diese andere Frau traf. Seine Ehefrau lebt noch und wohnt bei ihren Enkeln in Window Rock. Sie weiß nichts von seiner Affäre und dem Baby niemand weiß davon. Harold hat nach mir geschickt und es mir erzählt, sonst niemandem.«

»Warum hat er es dir erzählt, wo er dich doch gar nicht kannte?«

»Denk nach, Janet! Du bist klug. Eine Frau, die nicht mit Harold verheiratet war, hatte ein Kind und starb vor dreißig Jahren. Sie war eine Weiße, sagte er, und hat ihn verführt, ihn geblendet. Er hat einen Bastard von ihr bekommen, ein Mädchen, und wusste nicht, was er unternehmen sollte. Mutter und Kind starben, so wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Harold hörte, dass Pete Begay eine Frau geschwängert hatte, die starb und ihm dich hinterlassen hatte. Und da wusste er es. Die Frau, die Harold verführt hatte, war eine Zauberin, genau wie deine Mutter.«

Sie war wunderschön, Janet. Die Stimme meines Vaters ertönte in meinem Kopf; sie sprach die Worte aus, die er so oft zu mir gesagt hatte. Wie eine Göttin. Sie hat mich mit ihrem letzten Atemzug angefleht, mich um dich zu kümmern und dafür zu sorgen, dass dir nie etwas Schlimmes passiert.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag zwischen die Augen. Ich rutschte an der rauen Wand des Hogan hinunter, meine Beine gaben unter mir nach.

Ein Mann. Eine schöne, mysteriöse Frau. Ein neugeborenes Mädchen, die Frau tot. Bis mein Vater mich direkt nach meiner Geburt nach Hause gebracht hatte, hatte er niemandem von seiner Affäre mit meiner Mutter erzählt.

»Oh, Götter«, flüsterte ich. »Oh, Götter.«

Ich hatte gewusst, dass meine Mutter von Frauen Besitz ergriff, um sich auf dieser Erde bewegen zu können. Sie war in die blonde Frau gefahren, die in Holbrook mit mir geredet hatte, vielleicht auch in Sherry Beaumont und womöglich sogar in Amy McGuire. Ihr Bewegungsradius war nicht groß, hatte sie mir erzählt, und wenn der Körper zu geschwächt war, musste meine Mutter zu den Wirbeln zurückkehren und wieder durch die Spalten schlüpfen.

Ich hatte angenommen, dass sie von Frauen Besitz ergriff, einfach damit sie sich bewegen und kommunizieren konnte, und dass ihr Zusammentreffen mit meinem Vater Zufall gewesen war. Jetzt enthüllte mir die Geschichte meiner Großmutter, dass es in Wirklichkeit noch viel schlimmer war. Meine Göttin-Mutter hatte immer versucht, ein Kind zu zeugen ein Kind, das sie benutzen, kontrollieren und manipulieren konnte. Ein Kind, um ihre Verbindung und ihr Lakai in der Oberen Welt zu sein. Ein Kind wie mich. Du bist der Schlüssel, hatte sie gesagt.

Sie hatte es zuerst mit Harold Yazzie versucht. Als dieses Baby gestorben war, hatte sie einen anderen Mann gefunden und verführt meinen Vater. Und dieses Kind hatte überlebt und war herangewachsen. Ich.

»Warum?«, fragte ich mit trockenen Lippen. »Warum habe ich überlebt und Harold Yazzies Kind ist gestorben?«

»Die Frauen auf meiner Seite der Familie haben mächtige magische Kräfte. Meine Mutter war sehr stark, so wie du. Deine Tanten haben kaum Magie, und auch deine Cousinen nicht. Aber du hast die magischen Kräfte von mir geerbt.«

Meine Augen brannten. »Woher weißt du es? Das über meine Mutter? Woher hast du gewusst, was sie war?«

»Eine Göttin der Unteren Welt? Weil ich noch eins und eins zusammenzählen kann. Junge Leute meinen, die Alten wären dumm, aber ich weiß noch genau, wie dein Vater dich mit nach Hause brachte und mir die Geschichte erzählte von der Frau, mit der er sich heimlich getroffen hatte. Gestunken hast du nach ihrer Magie. Und dann haben sich in dir Kräfte manifestiert, die stärker waren, als ich sie je gesehen habe. Die beiden Arten von Magie die der Stormwalker und die Magie der Unteren Welt kämpfen in dir gegeneinander. Wenn du nicht so stark gewesen wärst wenn ich dich nicht so stark gemacht hätte , hätte der Kampf dich inzwischen getötet.«

»Er tötet mich.« Tränen rannen mir über die Wangen. »Ich weiß nicht, wie ich es stoppen kann.«

»Du kannst es nicht stoppen. Nur kontrollieren.«

Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken ab. »Warum hast du es mir nicht gesagt? Warum hast du mir nicht erklärt, dass du alles weißt?«

»Ich wusste es nicht oder war jedenfalls nicht sicher. Das war ich erst, als Harold Yazzie mir seine Geschichte erzählt hat. Deine wahre Mutter braucht ein Kind, eines, das sie kontrollieren kann. Sag mir, warum.«

Ich rieb mir die schmerzende Stirn. »Sie hat mir erklärt, dass ich eine Art Schlüssel sei. Ein Schlüssel zu den Wirbeln.«

»Nun, du kannst ihr nicht ihren Willen lassen. Sie hat offensichtlich kein Problem damit, Menschen zu benutzen und zu töten, um zu bekommen, was sie will. Lass dich nicht von ihr benutzen.«

»Leichter gesagt als getan, Großmutter. Ich habe sie getroffen oder zumindest einen Schimmer von ihr. Sie ist sehr mächtig.«

»Wie ich schon sagte: Auf meiner Seite der Familie gibt es starke Magie. Vielleicht nicht so wirksam wie ihre, aber gute Erdmagie. Dieser Mick, auch er verfügt über eine sehr starke Erdmagie, aber es liegt etwas Böses darin. Sei auf der Hut, wenn du bei ihm bist.«

»Du hast ihn doch eben erst kennengelernt.«

»Ich weiß genug. Ich habe noch nicht entschieden, ob ich ihn mag oder nicht, aber er kann deine Magie von dir abziehen, damit sie dich nicht tötet, und deine Mutter davon abhalten, dich zu benutzen. Oder zumindest wird er es versuchen.«

Viel mehr von all dem konnte ich jetzt nicht mehr ertragen. Mein Herz zerbrach in lauter kleine Stücke.

»Götter, die Frau in meinem Keller.« Ich führte nicht aus, was ich meinte, denn Großmutter war schon über Sherry Beaumont im Bilde gewesen, als ich angerufen und mein Kommen angekündigt hatte. Der Klatsch verbreitete sich hier mit Lichtgeschwindigkeit.

Jetzt erinnerte ich mich an das, was Nash mir erzählt hatte. »Sie war schwanger«, sagte ich. »Aber nicht von ihrem Mann. Und sie ist gestorben.«

Meine Mutter musste Sherry benutzt haben, um ein weiteres Baby zu zeugen. Ich war rebellisch und eigenwillig geraten, also hatte meine Mutter versucht, zu einem Kind zu kommen, das als Erwachsene vielleicht gehorsamer sein würde.

Ein anderer Gedanke sickerte durch meine Angst, Bestürzung und Wut.

Wer war der Vater gewesen?