10

»Du hast das Offensichtliche erfasst«, sagte der Spiegel.

Ich war mir nicht sicher, ob ich jubeln oder um mein Leben laufen sollte. Magische Spiegel waren problematisch. Ich hatte mal eine Hexe in Oklahoma getroffen, die einen besessen hatte. Das Ding war schlimmer gewesen als ein Papagei aus dem Puff. Papageien schliefen wenigstens ab und zu, aber ein magischer Spiegel hielt nie die Klappe.

Andererseits konnten sie extrem nützlich sein, wenn man es verstand, mit ihnen umzugehen. Sie passten auf einen auf, bewachten das Haus, wenn man mal nicht da war, über andere magische Spiegel konnte man mit ihnen über große Entfernungen kommunizieren, manchmal sogar über ganz normale Spiegel. Sie speicherten das Wissen von Jahrhunderten und erinnerten sich mit der Präzision eines Computers an alles, was sie je gesehen hatten. Wenn einer zerbrach, konnten die Scherben einzeln benutzt werden, oder man schmolz das ganze Ding ein und fertigte einen neuen Spiegel, ohne dass die Magie verloren ging. Die Persönlichkeit des Spiegels konnte sich verändern, aber seine essenzielle Magie verblasste nicht.

Sie mussten auch gar nicht unbedingt richtige Spiegel sein jede reflektierende Oberfläche konnte die Magie halten. Tatsächlich wusste ich, dass einige der riesigen polierten Kupferscheiben, die man bei archäologischen Ausgrabungen in Rom, England und im Südwesten der USA gefunden hatte, in Wirklichkeit Zauberspiegel waren.

Magische Spiegel waren extrem selten. Hexen durchkämmten die ganze Welt nach ihnen, weil Hexen und Magier ihre Kräfte mithilfe eines Zauberspiegels verdoppeln oder gar verdreifachen konnten. Jedoch nur, wenn sie es verstanden, mit dem Spiegel umzugehen, der im besten Fall reizbar und grob und im schlimmsten Fall psychotisch sein konnte.

Ich fragte mich, wie er damals unten im Saloon gelandet war, aber vielleicht war demjenigen, der ihn dort aufgehängt hatte, nicht klar gewesen, dass es sich um einen magischen Spiegel handelte. Oder vielleicht doch schließlich waren wir in Magellan.

Spiegel konnten nur mit Leuten kommunizieren, die über magische Kräfte verfügten; Normalsterbliche konnten sie nicht benutzen und auch nicht hören. Allerdings vermochte ein Spiegel, wenn er sehr begabt war, Menschen ohne magische Kräfte schwache, unerklärliche Geräusche hören zu lassen. Hinter manchen Spukhäusern steckten einfach magische Spiegel, die ihren Spaß hatten. Ich fragte mich, ob ich hier über den Grund dafür gestolpert war, dass das Crossroads Hotel immer wieder hatte geschlossen werden müssen; vielleicht hatte der Spiegel die Leute vertrieben.

Ich musterte ihn mit gemischten Gefühlen. Einerseits konnte er eine mächtige Waffe in meinem Arsenal für die Schlacht gegen meine Mutter sein. Andererseits musste ich mich jetzt mit einem magischen Spiegel herumärgern.

»Ich wohne seit zwei Wochen hier«, sagte ich. »Und ich bin zwei Mal das ganze Haus mit Schutzzaubern abgegangen. Warum habe ich nicht gewusst, dass ich einen magischen Spiegel habe?«

»Ich war inaktiv, Schätzchen. So viele Jahre, so lange allein. Und dann, letzte Nacht, plötzlich dieser ganze Sex, den du mit diesem Knackarsch hattest! Ihr habt mich mit eurem manischen Tantra-Sex aufgeweckt. Mich aktiviert. Oh, es war einfach himmlisch! Ich hätte am liebsten eine geraucht.«

»Na prima.«

»Häng mich nächstes Mal ins Schlafzimmer und lass mich zusehen.«

Ich stand auf. »Das hättest du wohl gern.«

»Schnuckiputz, du bist ja so grausam

»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte ich ihn.

»Mit der Eisenbahn. Vor langer, langer, langer Zeit, als Männer noch richtige Kerle waren. Filmstars kamen früher hier raus, um den ganzen Trubel eine Weile zu vergessen. Dieser Dougie Fairbanks, ooooh, war der vielleicht süß!«

»Wer hat dich geschaffen?«

Die Stimme wurde ruhig. »Also, das ist etwas, worüber ich nicht reden will.«

Nur ein sehr mächtiger Magier konnte einen Zauberspiegel erschaffen. Die Technik, die Energie, die Magie, alles musste präzise zusammenwirken, und der Prozess dauerte lange, manchmal sogar Jahre. Dazu musste die Magie über lange Zeit hinweg konzentriert und aufrechterhalten werden. Ich würde nie einen erschaffen können, weil meine magischen Kräfte kamen und gingen.

Wenn dieser Magier oder diese Magierin noch lebte, konnte er oder sie jederzeit Anspruch auf den Spiegel erheben. Er gehörte für alle Zeit seinem Schöpfer. In seiner Abwesenheit jedoch konnte jeder Magier, der so mächtig war, dass er die Kräfte des Spiegels wecken konnte, sich seiner bedienen. In diesem Fall gehörte der magische Spiegel also vorerst Mick und mir.

»Wer war die Frau im Keller?«, fragte ich.

»Frau?« Der Spiegel klang nichtssagend.

»Die meine Elektrikerin gestern Vormittag hinter der Wand gefunden hat. Weißt du, wer die Tote war?«

»Ach, die. Nein. Ich habe bis gestern Abend geschlafen, wie ich dir schon sagte. Bis zu diesem ganzen wunderbaren, himmlischen Sex.«

»Danke, du bist mir eine große Hilfe.«

»Ich habe nichts gesehen. Glaub mir, ich würde dir alles brühwarm erzählen. Oder noch besser, schick mir deinen Mann rauf, dem berichte ich alles haarklein, was er wissen will.«

Es war wirklich so: Wenn ein Spiegel in den Ruhezustand ging, was nach jahrelanger Inaktivität passieren konnte, wurde er einfach zu einem Stück Glas, vor dem man sich die Haare kämmen konnte. Wenn der magische Spiegel dunkel gewesen war, als der Mord geschehen war, hatte er die Tat nicht gespeichert. Er »wusste« nicht einmal, wer an diesem Tag das Haus betreten oder verlassen hatte. Aber das hätte mir sowieso nichts genützt, dachte ich jetzt. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, Nash Jones zu erklären, dass der einzige Zeuge des Mordes an der Frau ein magischer Spiegel gewesen war.

»Du bist in Kontakt mit diesem Haus«, sagte ich. »Hast du sie da unten nicht gespürt?«

»Nein, Schätzchen, ich habe sie nicht bemerkt. Für Tote habe ich so gar keine Verwendung.«

»Du bist eine mitleidige Seele.«

»Ich bin ein Spiegel, Süße. Ich spiegele nur, ich habe keine Gefühle. Doch Interessen habe ich. Erzähl mir mehr von deinem Freund, der ist zum Anbeißen. Ist sein Arsch so stramm, wie er aussieht?«

Ich stand auf, packte eine Abdeckplane, die in der Ecke lag, und warf sie über den Spiegel. Er stieß ein ersticktes Kreischen aus. »He, Schätzchen, lass das! Ich werde mich benehmen. Ich weiß übrigens, was dein Micky ist. Ich kann seine wahre Natur sehen.«

Ich hob einen Zipfel der Plane an. »Also gut, was ist er?«

»Ich habe letzte Nacht seine magische Kraft gespürt.« Er seufzte glücklich. »Der ist vielleicht mächtig, was?«

»Jetzt spuck’s schon aus!«, sagte ich hart.

»Glaub mir, Liebes, was er ist, dürfte dir gar nicht gefallen.«

Ich kniete mich hin und spähte in die Tiefen des Spiegels. »Ich befehle dir, es mir zu verraten. Ich habe dich aufgeweckt, und du gehörst jetzt mir.«

»Ist so eine lustige Sache mit der Sexmagie, Schätzchen da gehören zwei dazu. Oder mehr. Je mehr, desto besser. Ich gehöre dir, aber auch deinem schnuckeligen Micky. Und ich weiß, dass er nicht will, dass du weißt, was er ist drum kann ich’s dir leider nicht verraten. Meine Lippen sind versiegelt.«

»Du kannst es mir nicht mal dann sagen, wenn ich sonst einen Scherbenhaufen aus dir mache?«

»Nicht mal dann.« Er zögerte. »Das würdest du doch nicht wirklich tun, oder?«

»Überlege ich mir noch.«

Tatsächlich würde ich den Spiegel nicht zerschlagen, so sehr es mich auch in den Fingern juckte, ihn auf der Müllkippe abzuladen. Ein magischer Spiegel war ein mächtiger Talisman, und ich brauchte alle Hilfe, die ich kriegen konnte.

»Ein paar Tipps kann ich dir schon geben, wenn du möchtest, Schätzchen«, sagte der Spiegel jetzt. »So was wie: Was ist schwarz und rot und ganz heiß?«

»Wenn du einen Dämon meinst er ist keiner.« Zumindest glaubte ich das nicht.

Ich erinnerte mich an die schwarze Kreatur mit den roten Augen, die ich flüchtig gesehen hatte, als wir uns geliebt hatten, aber ich hatte keine Ahnung, ob das Micks wahre Gestalt war oder eine Manifestation der Magie, die wir vertrieben hatten. »So viel habe ich schon herausbekommen.«

»Antworten gebe ich keine. Nicht auf direkte Fragen.«

Ich stand auf. »Hier hast du was zu knobeln: Was passiert mit Spiegeln, die nicht die Klappe halten?«

»Ich gebe auf, Schätzchen. Was?«

Ich beugte mich zu ihm herunter. »Sie werden eingeschmolzen und wieder zu Sand.«

»Oh.« Er klang nervös. »Wirklich?«

»Ja, wirklich. Also, wie willst du’s haben?«

Eine Weile herrschte Stille. »Nun, wenn du es so ausdrückst «

»Gut.« Ich stand auf und ließ die Plane über ihn fallen.

Er kreischte. »He, das ist so was von unfair

Ich ignorierte ihn und verließ den Raum. Als ich hinunterging, rief der Spiegel mich, flehte und bettelte mich an, dann schrie er mir nach und begann schließlich zu fluchen. Als jemand mit starken magischen Kräften würde ich ihn immer hören können.

Ich Glückspilz.

Diesen Nachmittag sagte ich meinen Handwerkern, sie sollten früher Schluss machen, damit diejenigen, die wollten, auf Charlies Beerdigung gehen konnten. Ich fuhr mit einem ungewöhnlich stillen Fremont nach Flat Mesa, wo die Beerdigung auf dem einzigen Friedhof des County abgehalten wurde. Fast die ganze Stadt war gekommen. Flat Mesa war voll von Jones’. In Magellan wohnten vor allem Leute, die Hansen, Medina, Lopez und McGuire hießen; im Telefonbuch von Flat Mesa waren die häufigsten Namen Jones, Morrison und Salas.

Nash Jones erschien in seiner makellos gebügelten Uniform. Er sah mich mit kalten Augen an, unternahm aber keinen Versuch, sich mir zu nähern, was mir mehr als recht war. Fremont, der gramgebeugt wirkte, stellte mich Charlie Jones’ Mutter vor.

»Fremont sagt, Sie geben sich die Schuld daran.« Charlies Mom war um die fünfzig und leicht übergewichtig, mit kurzem grauen Haar und braunen Augen, die voller Tränen waren. »Doch ich weiß, dass es nicht Ihre Schuld war, meine Liebe. Das ist ein Skinwalker gewesen. Oh ja, ich weiß, dass es sie wirklich gibt, auch wenn einige das anders sehen.« So, wie sie Nash dabei anschaute, hatte ich keine Zweifel, von wem sie sprach.

Dass sie so gütig war, führte nur dazu, dass ich mich noch schlechter fühlte. »Es tut mir wirklich sehr leid, Mrs Jones.«

»Ich bin froh, dass Sie dort waren. Dass er in seinem letzten Augenblick nicht allein war.« Sie wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen ab. »Die Wirbel hier in der Gegend ziehen böse Magie genauso an wie gute Magie. Ich wünschte, die New Ager würden das auch verstehen.«

Ja, das sollten sie allerdings, im Interesse ihrer eigenen Sicherheit. Ich blieb für die kurze, aber bewegende Trauerfeier und verließ sie dann langsam, als Charlies Angehörige und Freunde sich von ihm verabschiedeten. Ich ging ein paar Straßen zu Fuß zur Reparaturwerkstatt und fand heraus, dass meine Harley noch lange nicht fertig war. Zumindest war der Mechaniker qualifiziert, an Harleys zu schrauben. Wir unterhielten uns ein paar Minuten über Motorräder, dann ging ich einen Block weiter zu einer Mietwagenagentur. Ich fuhr in einem hellroten Geländewagen nach Magellan zurück, mit offenen Fenstern, denn in geschlossenen Fahrzeugen fühlte ich mich immer klaustrophobisch.

Als ich mich Magellan näherte und zusah, wie die Sonne allmählich über den Bergen im Westen sank, war die Versuchung groß, einfach weiterzufahren. Ich könnte die Wirbel, meine Mutter, Amys Verschwinden, Mick, Nash Jones und eine Menge anderer Probleme einfach hinter mir lassen und weiterfahren.

Genau so hatte ich es mein ganzes Leben lang gehalten. Ich hatte mir geschworen, es dieses Mal zu lassen und mich meinen Problemen zu stellen. Ich wollte den McGuires helfen, und ich musste aufhören, vor meiner wahren Natur davonzulaufen. Seufzend bremste ich ab und bog auf den Parkplatz meines Hotels ein. Micks Maschine stand da, und ich hätte sonst was dafür gegeben, wenn ich mich bei ihrem Anblick nicht so gefreut hätte.

Ich fand Mick nicht im Hotel, sondern drüben in der Crossroads Bar. Ich ging hinein zu ihm. Wir unterhielten uns ein wenig, und in seinen Augen blitzte Interesse auf, als ich ihm von dem magischen Spiegel erzählte.

Alle aus der Stadt redeten über die Frau, die in meinem Keller eingemauert gewesen war, und über Charlies Tod und Beerdigung. Sie warfen mir misstrauische Blicke zu seit die Navajo-Frau gekommen war und Nachforschungen über Amy McGuires Verschwinden anstellte, geschahen in der Stadt seltsame Dinge. Das konnte kein Zufall sein, dachten sie. Leider hatten sie recht.

Ich beobachtete Barry hinter der Bar, wie er mit seinen Stammgästen redete. Vor allem Biker mochten diese Hinterland-Oase. Falls Barry hörte, dass im Raum gemunkelt wurde, er und Sherry Beaumont stammten aus derselben Großstadt, ließ er sich nichts anmerken.

Mick war so charmant wie immer. Er redete mit den Bikern und hatte dabei den Arm um mich gelegt. Ohne ein Wort zu sagen, machte er so klar, dass ich zu ihm gehörte und dass jeder, der mich anfasste, ein toter Mann war.

Das hatte ich an ihm geliebt, als wir frisch zusammen gewesen waren. Niemand hatte mich je so beschützt wie Mick. Ich konnte mich immer darauf verlassen, dass er sich um mich kümmern würde, egal, was passierte. Es war so leicht, so tröstlich gewesen, mich ihm völlig anzuvertrauen. Ich erinnerte mich daran, wie ich ihm im Restaurant in Las Vegas gegenübergesessen und mich von seiner tiefen Stimme und seinen wunderschönen blauen Augen hatte einlullen lassen. Ich hatte mich in ihn verlieben wollen, und so war es auch passiert.

Jetzt dachte ich an alles zurück, was mich von Anfang an irritiert hatte. Warum war Mick in der Nacht im Norden von Las Vegas so praktisch zur Stelle gewesen, um mich zu retten das einzige Wesen, das ich je getroffen hatte, das meine Magie von mir abziehen konnte? Und wie hatte er wissen können, dass ich mich hier in Magellan aufhielt, obwohl ich seit fünf Jahren überhaupt nicht mehr mit ihm kommuniziert hatte? Und warum hatte Coyote zu mir gesagt, Mick werde versuchen, mich aufzuhalten?

Verdammt, mich aufhalten wobei? Plötzlich wollte ich Micks Arm nicht mehr um mich haben. Ich behauptete, austreten zu müssen, und als er mich losließ, ging ich statt zur Toilette aus der Bar.

Mick holte mich ein, noch bevor ich das Hotel erreicht hatte. Er hielt mir nur wortlos die geschnitzte Eingangstür auf und schloss sie hinter uns ab.

»Ich hab etwas frische Luft gebraucht«, sagte ich defensiv. »Es war mir zu verraucht da drin.«

»Und ich hab genug von dem Schwachsinn, den die quatschen.« Mick ging auf die Treppe zu. »Ich will mir diesen magischen Spiegel ansehen.«

»Der ist ’ne echte Nervensäge.«

»Sind sie angeblich alle. Ich hatte noch nie einen.«

»Und ’ne Tunte ist er auch.«

Mick lachte. »Es ist ein Spiegel. Die haben keine sexuelle Orientierung.«

»Der schon.«

Als wir im Raum im zweiten Stock angekommen waren, zog Mick die Abdeckplane vom Spiegel, ging in die Hocke und sah hinein.

»Hallööchen, Firewalker«, rief der Spiegel. »Nette Aussicht, Süßer! Spreiz die Knie noch weiter für mich!«

Mick verzog keine Miene. »Das ist ein ziemlich starker«, sagte er zu mir.

»Hast du schon viele gesehen?«

»Etwa ein Dutzend. Solche Spiegel sind gute, solide Erdmagie aus Silizium und Silber, Elemente, die seit Äonen Teil der Erde waren.«

Ich bückte mich. Der Spiegel zeigte uns Seite an Seite, einen muskulös gebauten Mann und seine schlanke Navajo-Freundin. »Warum müssen die so eine große Klappe haben?«, fragte ich.

»Sie wissen, dass sie Macht haben, aber eigentlich sind sie hilflos«, erklärte Mick. »Der Magier, der so einen Zauberspiegel besitzt, hat die totale Kontrolle über ihn.«

»Oh, das würde ich nicht sagen«, schnurrte der Spiegel.

»Jetzt sind wir seine Meister, meint er.« Ich lehnte mich näher an das Glas.

»Hmm«, murmelte der Spiegel. »Schnucklige Titten.«

Hastig stand ich auf. »Ich dachte, du stehst auf Männer.«

»Ich steh auf Männlein und Weiblein, Schätzchen. Ich bin absolut für Chancengleichheit.«

Mick lachte. Zum Entzücken des Spiegels ließ er ihn aufgedeckt, nahm meine Hand und führte mich aufs Dach hinaus.

Erleichtert begrüßte ich die kühle Nachtluft aus der Wüste. Ich hatte wirklich frische Luft gebraucht. Der Himmel war voller Sterne, aber weit im Osten flackerten die Blitze eines Wärmegewitters.

Ich setzte mich mit dem Rücken gegen die Wand und genoss die Kühle, die aus der Mauer durch mein Hemd drang. Mick setzte sich neben mich und schlang sich die muskulösen Arme um die Knie. Wir verfielen in Schweigen. Die Nacht war schön, die kühle Luft angenehm nach dem heißen Tag.

»Du bist so still heute Abend«, sagte Mick. »Ist irgendwas auf der Beerdigung vorgefallen?«

»Nein. Es war einfach eine Beerdigung.«

Mick bohrte nicht weiter nach. Eine Sache, die mir von Anfang an an ihm gefallen hatte, war, dass er nie versuchte, mich zum Reden zu bringen, wenn ich nicht wollte, im Unterschied zu meiner Großmutter, die immer darauf bestanden hatte, alles zu erfahren, was in meinem Kopf vor sich ging. Doch heute Nacht irritierte mich Micks lässige Haltung. Ich wollte, dass er leicht zu lieben oder leicht zu hassen war. Es ist verdammt schwer, sich in Grauzonen zurechtzufinden.

»Ich weiß, dass du mich nicht hierhaben willst«, sagte er. Es war eine Aussage, keine Frage. »Aber ich gehe nicht weg.«

»Ich war nicht auf Streit aus.«

»Ich streite auch gar nicht.«

Sein ruhiger Gleichmut ließ meine Wut wieder aufflackern. »Ich verrate dir, was los ist, Mick«, blaffte ich. »Ich habe es satt, dass mir ständig Leute Fragen über dich stellen und ich ihnen nicht antworten kann.«

Mick hob die Brauen. »Leute wie Nash Jones?«

»Zum Beispiel.«

»Den lass mal meine Sorge sein.«

»Er ist nicht dumm, er wird weiterbohren. Nicht so wie ich. Ich hab dir erlaubt, mit mir ins Bett zu gehen, und dich mit offenen Armen willkommen geheißen.«

Ich spürte, wie er mich in der Dunkelheit anstarrte. »Ich erwarte nicht, dass wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben«, erwiderte er.

»Und ich tu genauso, als würden wir das«, sagte ich. »Ich bin die Dumme. Und ich weiß nicht, auf wen ich wütender bin auf dich oder auf mich.«

»Ich bin zurückgekommen, um dir zu helfen«, sagte Mick. »Du brauchst Hilfe, und ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

»Ich will nicht darüber reden.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und atmete heftig. Ich stritt mich nicht gern mit Mick, weil es immer auf zwei Arten ausging entweder stürmte ich davon oder Mick kriegte mich ins Bett. Mit ihm zu streiten brachte gar nichts.

Wieder blitzte es am Horizont, und ein Flackern antwortete in der Dunkelheit, ganz in unserer Nähe. Hier draußen war die Wüste stockdunkel. Die spärlichen Lichter von Magellan konnten die Nacht nicht durchdringen. Nördlich von uns lag der verschwommene Lichtfleck von Flat Mesa, aber östlich von uns befand sich nur ein riesiges, leeres Nichts.

»Janet, geh wieder ins Haus!«, sagte Mick, plötzlich in voller Alarmbereitschaft.

Ich stand auf. Da draußen bewegte sich eine Taschenlampe, ihr winziger Lichtstrahl kam kaum gegen die Dunkelheit an. »Oh Gott, ich wette, das ist Fremont. Er war heute ziemlich mitgenommen und hat gemeint, er wolle den Skinwalker suchen, der Charlie getötet hat.«

»Der Skinwalker ist tot. Den hast du erledigt.«

»Habe ich ihm auch gesagt. Er hat mir nicht geglaubt.«

»Ist der bescheuert?«, schimpfte Mick. »Auch wenn er keinen Skinwalker findet da draußen ist jede Menge gefährliches Viehzeug unterwegs.«

Klapperschlangen. Berglöwen. Sogar Pekaris, die hiesigen Wildschweine. Wenn Fremont eines aufschreckte, konnte es für ihn brenzlig werden. Sie hatten gerade Junge bekommen. Man stolperte leicht in einen Wurf, und dann wäre Mama Pekari alles andere als erfreut.

Der Wüstenboden war auch mit den Löchern von Nagetieren und Schlangen überzogen wie von Pockennarben man konnte sich den Knöchel verstauchen und bis zum Sonnenaufgang hilflos daliegen. Und dann waren da noch die Kreaturen, mit denen kein Mensch fertigwurde, und ich meine nicht nur Skinwalker.

»Geh ins Haus!«, wiederholte Mick. »Ich finde Fremont und bring ihn zurück.«

»Nicht allein, kommt gar nicht infrage.«

»Allein bin ich schneller.«

Seine blauen Augen glitzerten auf eine Weise, die mir nicht gefiel. Aber so wütend ich gerade auch auf Mick war, ich wollte nicht, dass er sich in Gefahr brachte und starb.

»Das da draußen ist mein Territorium, ob es mir nun passt oder nicht«, sagte ich. »Irgendwann muss ich mich ihm stellen.«

»Nicht, wenn es keinen Sturm gibt. Der ist zu weit entfernt.«

»Na gut. Komm mit und beschütze mich, aber ich gehe und schaue nach dem Rechten.«

Mick war nicht begeistert, doch er verlor keine Zeit mehr mit Worten und folgte mir vom Dach. Wir stiegen hinunter, und Mick schnappte sich ein paar große Taschenlampen, die ich in meinem Schlafzimmer aufbewahrte, bevor wir das Hotel verließen.

Ich sah keine Spur von Coyote, als wir oben auf dem Gleisbett angekommen waren und stehen blieben, um uns zu orientieren. So ein Gott wäre jetzt hilfreich, aber natürlich war nie einer da, wenn ich einen brauchte.

Ein paar Minuten lang sah ich nichts keine Taschenlampe, keine Bewegung. Dann zeigte Mick nach rechts in die Ferne, und ich entdeckte den kleinen Lichtpunkt, der sich in der Dunkelheit bewegte.

Mick ging voran, seine langen Schritte bahnten uns einen Weg. Ich hielt den Strahl meiner Taschenlampe neben seinen gerichtet und versuchte, nicht über loses Geröll zu stolpern oder in meine eigene Lampe zu starren. Nachtblind zu werden, wäre jetzt denkbar ungünstig, und Mick hatte recht ohne einen Sturm in der Nähe war ich so gut wie machtlos.

Mick sprang in ein Trockental hinunter und suchte sich einen Pfad zwischen den Büschen hindurch, die sich an die Ufer klammerten. Ich hörte das schnelle Gleiten von Schlangen. Die Reptilien flohen vor unserem Licht, Eidechsen flitzten über die Steine. Wir stiegen auf der anderen Seite des Trockentals hinauf und scheuchten eine Gruppe Kaninchen auf, die versucht hatten, sich durch Reglosigkeit unsichtbar zu machen.

Vor mir blieb Mick stehen. Auch ich hielt im Gehen inne und lauschte schweigend. Kein Lüftchen regte sich.

Mick knipste seine Taschenlampe aus und winkte mir, meine ebenfalls auszuschalten. Er bewegte sich mit Leichtigkeit über das unebene Gelände, und ich fühlte mich unbeholfen und unnütz. Mick musste unglaublich gut im Dunklen sehen, wieder etwas, das ich nicht über ihn gewusst hatte.

Seine Schritte beschleunigten sich. Ich ließ ihn vorangehen. Denn wenn ich ihm nachrannte, würde ich nur straucheln, auf den Hintern fallen und Mick Zeit kosten. Er war so trittsicher wie ein Berglöwe, sprang leichtfüßig von einem Felsen zum nächsten und joggte eine von Felsbrocken übersäte Anhöhe hinauf, wo der Boden tückisch war. Ich folgte in langsamerem Tempo und wurde schneller, als ich jemanden rufen hörte.

Endlich erreichte ich Mick. Er war neben einem Felsblock stehen geblieben, der aussah wie ein Amboss; die Silhouette hob sich bizarr gegen den Nachthimmel ab. Mick drückte einen Mann gegen den Felsen, und ich knipste meine Taschenlampe an und erblickte einen extrem blassen Fremont, dessen Augen gerötet waren.

»Was zur Hölle haben Sie hier draußen zu suchen?«, fragte ich genervt.

Fremonts Augen funkelten nun. »Ich werde einen von diesen Dreckskerlen kriegen, auch wenn ich dabei draufgehe.«

»Sie werden dabei draufgehen«, sagte ich. »Ein Skinwalker reißt einen in Fetzen, bevor man auch nur blinzeln kann.«

»Ist mir egal. Ich nehme ihn mit. Ich hätte das Opfer sein sollen, nicht Charlie.«

»Niemand hätte sterben sollen«, entgegnete ich mit fester Stimme. »Wenn Sie irgendwem die Schuld geben wollen, dann mir. Der Skinwalker hatte es auf mich abgesehen und mich verfehlt.«

Fremont schüttelte den Kopf. »Sie sind ein nettes Mädel, Janet, und er wollte mich. Er war schon seit einer Weile hinter mir her, wegen dem hier.« Er wackelte mit den Fingern. »Er will meine magischen Kräfte. Charlie ist meinen Laster gefahren, weil « Seine Stimme brach. »Ich wollte früh nach Hause, weil ich eine Verabredung hatte. Aber dann kam ein Anruf, dass ein Ersatzteil für einen anderen Job, auf das ich gewartet hatte, in Winslow angekommen war. Charlie hat mir angeboten, hinzufahren und es für mich abzuholen, damit ich nicht zu spät zu meinem Date komme, und ich habe ihn gelassen.«

Das Überraschendste an diesem Geständnis war, dass Fremont ein Date gehabt hatte. Er hatte mir gegenüber nie Interesse an einer bestimmten Frau geäußert. »Das ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich. »Sie hätten doch nicht vorhersehen können, dass Charlie zur falschen Zeit am falschen Ort war.«

»Ich hätte das Ersatzteil selbst abholen oder bis zum nächsten Tag warten sollen. Aber ich hatte es eilig und war nervös. Und jetzt ist Charlie tot.« Er wog ein Metallrohr in einer zitternden Hand. »Also hole ich mir diesen Scheißkerl.«

»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, den habe ich schon erledigt. Er starb in dem Gewitter, als er mich nach Flat Mesa verfolgt hat.«

»Ich muss aber irgendwas tun. Ich bin ein Magier, ich kann es mit ihm aufnehmen.«

Mick schüttelte ihn. »Mit deinen magischen Kräften zündest du nicht mal eine Kerze an, Freundchen. Wenn du weiter hier draußen herumwanderst, sucht der Sheriff bald nach deiner Leiche.«

»Ich gehe erst dann zurück, wenn ich einen Skinwalker erledigt habe.«

Ich verzog das Gesicht, als er das Wort wieder aussprach. Als Fremont Maya gesagt hatte, dass man Skinwalker anlocken konnte, indem man über sie redete, hatte er gar nicht so falschgelegen. Im hellen Tageslicht und in meinem magisch gesicherten Hotel waren wir vor ihnen relativ sicher, aber hier draußen im Dunkeln, auf ihrem Territorium, waren wir leichte Beute. Der aufziehende Sturm befand sich immer noch außerhalb meiner Reichweite, und Mick hatte keine Waffen dabei.

Mit einer abrupten Bewegung wand ich Fremont das Rohr aus der Hand und schlug seine Taschenlampe zu Boden. Er jaulte auf und griff nach dem Rohr, aber Mick hielt ihn mühelos zurück.

»Wenn du dich so leicht entwaffnen lässt, hast du hier draußen nichts verloren«, erklärte ich. »Willst du dich hierfür mit mir schlagen?« Ich wog das Rohr in der Hand.

»Nein. Du bist ein Mädchen.«

Ich lachte und schlug das Rohr gegen den Felsblock. Ein Brocken Sandstein brach heraus und fiel zu Boden. »Und wenn ich ein Skinwalker wäre? Sie können menschliche Gestalt annehmen, hast du das gewusst? Wenn sie sehr mächtig sind, können sie die Haut und die Essenz eines Menschen stehlen.«

Fremont machte Stielaugen. »Du bist keiner. Du bist Janet.«

»Ja, aber willst du, dass so eine Kreatur dich umbringt, sich in deine Haut einwickelt und sich für dich ausgibt? Was denkst du, wer dann noch alles dran glauben muss außer Charlie?«

Fremont hielt inne. Mit Rachegelüsten kannte ich mich selbst aus. Ich konnte ihm noch so oft sagen, dass er gegen diese Kreaturen keine Chance hatte ich würde Fremont nicht überzeugen. Aber wenn er befürchten musste, mit seinem Verhalten anderen Leuten zu schaden, die ihm wichtig waren, ließ er sich vielleicht davon abbringen. Bei mir funktionierte das manchmal, weil ich im Grunde meines Herzens doch ein liebes kleines Mädchen bin. Meistens.

Mick wurde wachsam, fuhr nach Osten herum und spähte den Abhang hinunter in die Dunkelheit. »Janet«, sagte er leise.

Im nächsten Moment roch ich es selbst. Ein übler, fauliger Gestank, eine Mischung aus verstopften Abwasserleitungen und wochenalten Leichen.

»Was zum Teufel ist das?«, flüsterte Fremont.

»Was du hier jagen wolltest.« Ich drückte ihm das Rohr wieder in die Hand. »Schlag alles, was in deine Nähe kommt, nur mich nicht.«

»Wo stehst du?«

»Direkt neben dir.«

»Janet«, wiederholte Mick, seine Stimme klang immer noch kontrolliert.

Ich trat neben ihn und schaute den Hügel hinunter. Der Wüstenboden zu unseren Füßen, der noch vor wenigen Minuten so still und friedlich unter den Sternen dagelegen hatte, schien sich zu bewegen. Kreaturen krochen aus dem Trockental, das wir durchquert hatten, und kamen auf den Abhang zu, auf dem wir standen. Die kleinen Tiere, die wir aufgescheucht hatten, waren vor Entsetzen geflohen.

»Ich glaube, wir stehen direkt auf einem Nest«, sagte Mick. Er sah kurz zu mir herüber, und in der Dunkelheit waren seine Augen völlig schwarz geworden.

»Ein Nest?« Fremont warf mir einen wilden Blick zu. »Was soll das heißen?«

Mick antwortete mit ruhiger Stimme: »Das bedeutet, dass wir ein Problem haben.«