XIII.

Bei seinem ziellosen Umherstreifen war Wilmar auf Hugo von Waldkron und dessen Begleiter gestoßen und hatte das selbstzufriedene Grinsen des fetten Mannes bemerkt, welches sich doch stark von der verkniffenen Miene der letzten Wochen unterschied. Zwar hatte er die leise geführte Unterhaltung der beiden Männer nicht verstehen können, aber die Gesten, mit denen der Abt Richtung Ziegelturm gewiesen hatte, waren nicht misszuverstehen. Seine Sorge um Hedwig wuchs, als er die verstohlene Übergabe der Pergamentrolle und eines anderen Gegenstands sah. Wilmar behielt nun Selmo im Auge, der die Abfahrt seines Herrn mit einem spöttischen Gesichtsausdruck verfolgte und dabei mehrfach über die unter seiner Kutte steckende Rolle strich.

Das Schiff, das der Abt bestiegen hatte, musste mit dem Ablegen warten, bis ein Boot, das nach Lindau fuhr, genug Fahrt aufgenommen hatte, um es nicht zu behindern. Als Wilmars Blick den Lindauer Nachen streifte, sah er Melcher am Heck stehen und auf die Stadt starren. Für einem Moment überlegte Wilmar, wie Melcher wohl an das Geld für die nicht gerade billige Überfahrt gekommen war, dann aber bemerkte er, dass Selmo sich entfernte, und folgte ihm, ohne einen weiteren Gedanken an Melcher zu verschwenden.

Als der Knecht am Ziegelturm vorbeiging und ihn dabei in Augenschein nahm, war Wilmar sich sicher, dass das Schurkenstück, dessen Opfer Hedwig geworden war, am gleichen Tag weitergehen sollte. In einer Stadt wie Konstanz blieb wenig geheim, auch nicht die Tatsache, dass sich Hugo von Waldkron ein etwas abseits gelegenes Haus in Maurach gemietet hatte, und so zog Wilmar den richtigen Schluss.

Verzweifelt überlegte er, was er tun konnte, um Hedwig vor den Klauen des berüchtigten Abtes zu schützen. Hätte er die Kräfte des sagenhaften Herkules besessen, würde er auf der Stelle die Mauern des Turms aufgerissen und sie davongetragen haben. Doch er war nur ein armer Geselle ohne Kraft, Macht oder Einfluss, der seinen Meister verloren hatte und nach dem Mord von Glück sagen konnte, wenn ihn ein anderer Böttcher aufnahm. Sein eigenes Unglück überwältigte ihn nun nicht weniger als das Elend, in das Hedwig gestürzt worden war, und er stolperte tränenblind weiter.

Als das Schottentor vor ihm auftauchte, lief er in eine Gruppe Pfälzer Fußsoldaten hinein. Einer der Männer packte ihn, stellte ihn wie ein Bündel Lumpen zur Seite und sagte etwas Unfreundliches, aber er schlug ihn nicht nieder, wie andere Söldner es wahrscheinlich getan hätten. Für einen Augenblick blieb Wilmar schwer atmend stehen. Die Begegnung hatte ihn wieder in die Gegenwart gerissen, weg von der Frage, ob er seinem elenden Dasein sofort ein Ende bereiten oder vorher noch den Abt umbringen sollte. Er starrte den Soldaten nach und musste an den schneidigen Hauptmann denken, der bei seinem Meister zu Gast gewesen war. Vielleicht konnte der Mann Hedwig helfen. Doch wenn Michel Adler Hedwig rettete, würden ihr Herz und ihre Dankbarkeit ihm gehören.

Wilmar focht einen kurzen Kampf mit sich selbst aus und senkte zuletzt beschämt den Kopf, weil er seine Eifersucht beinahe über das Wohl des Mädchens gestellt hatte, das er liebte. Wenn er weiterleben und den Kopf wieder hoch tragen wollte, musste er alles tun, um Hedwig zu helfen, selbst wenn er dann mit einem geheuchelten Lächeln auf den Lippen und einem gebrochenen Herzen zusehen musste, wie sie mit einem anderen Mann glücklich wurde. Kurz entschlossen rannte er den Pfälzern nach und hielt einen der Männer auf.

»Bitte, Herr, könnt Ihr mir sagen, wo ich Euren Hauptmann finde, den Michel?«

»Entweder bei der schönen Hure am Ziegelgraben oder beim Adlerschenk in der Katzgasse.« Der Mann langte sich an den Helm, als wolle er sich am Kopf kratzen, und dachte kurz nach. »Ich glaube, er ist Richtung Schenke gegangen.«

»Ich danke Euch, Herr.« Wilmar deutete eine Verbeugung an und rannte, so schnell er konnte, zur Katzgasse, ohne auf das Schimpfen einiger älterer Bürger zu hören, die sich über seine Rücksichtslosigkeit aufregten.

Es ging auf Mittag zu, und die Schenke war so voll, dass einige Leute ihre Suppe und ihr Brot vor der Tür im Stehen aßen und den Becher mit Wein zwischen ihren Füßen auf der Erde abgestellt hatten. Wilmar drängte sich suchend durch die Gäste, die dicht an dicht in der Wirtsstube hockten, und fand zu seiner Erleichterung den Hauptmann in einer Nische im hintersten Winkel. Michels Gesicht lud nicht gerade dazu ein, ihn anzusprechen. So trat Wilmar ein paar Augenblicke von einem Fuß auf den anderen und räusperte sich vernehmlich. Da der Mann nicht von seinem leeren Krug aufsehen wollte, holte er noch einmal tief Luft und tippte ihn auf die Schulter.

Michel hatte Wilmar bis dahin nicht bemerkt, denn in Gedanken war er bei Marie. Er hatte sie wiederholt aufgesucht, um mit ihr zu reden. Doch sie war kein einziges Mal auf ihn eingegangen, sondern stumm geblieben wie ein Fisch und im Bett so leidenschaftlich wie ein abgesägter Ast. Michel wusste nicht, über wen er sich mehr ärgerte, über das dickköpfige Frauenzimmer oder über sich selbst, weil er so närrisch war, zu ihr zu gehen und gutes Geld für ein paar enttäuschende Minuten zum Fenster hinauszuwerfen. Als ihn jemand an der Schulter berührte, fuhr er zornig auf und griff unwillkürlich an seinen Schwertgriff.

»Was willst du, Bursche?«

Das klang wie: Verschwinde, Kerl, und lass mich in Ruhe!, dachte Wilmar und wich erschrocken zurück. Doch dann straffte er die Schultern. Es war ihm in diesem Moment egal, ob der Mann ihn hier erschlug oder ihm zuhörte.

»Ich muss dringend mit Euch sprechen, Hauptmann. Unter vier Augen.« Es klang so ernst und verzweifelt, dass Michel widerwillig nickte.

»Schickt Mombert dich?«

»Nein, aber es geht um meinen Meister und seine Tochter.« Wilmar sah sich um und suchte einen Ort, an dem er sich Michel mitteilen konnte, ohne dass ein Dutzend Neugieriger ihnen zuhörte. Michel verstand ihn auch ohne Worte, nahm mit der einen Hand seinen Krug und zog Wilmar mit der anderen hinter sich her. Am Fuß der Treppe deutete er nach oben.

»Wir gehen hinauf in meine alte Kammer. Mein Bruder hat dort zwar Logisgäste einquartiert, doch die sind im Augenblick außer Haus. Ich hoffe nur für dich, dass du mir etwas Wichtiges mitzuteilen hast.«

Wilmar nickte nur und stolperte vor Eifer und Aufregung über die eigenen Füße. Oben angekommen berichtete er Michel in kurzen und nicht immer ganz verständlichen Worten von dem Mord an Philipp von Steinzell, der Verhaftung Meister Momberts und der Tatsache, dass später noch andere Büttel aufgetaucht waren und Frieda Flühi und Hedwig mitgenommen hatten.

Michel hatte noch nichts von diesen Ereignissen gehört und fragte mehrfach nach, um sich ein Bild zu machen. Wilmar beschränkte seinen Bericht zunächst nur auf das, was in Mombert Flühis Haus geschehen war, und sah Michel dann flehend an.

Der Hauptmann fluchte. »Mombert Flühi soll den Steinzeller Junker ermordet haben? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Meister Mombert hat es ganz bestimmt nicht getan. Er brüllte zwar gerne herum, aber er hat niemand wirklich wehgetan. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er mit einem um so viel kräftigeren Mann hätte fertig werden sollen. Und wenn er es wirklich gewesen wäre, hätte er den Toten auf den Hof gebracht, wo jeder über den Zaun hätte steigen können, und gewiss auch die Blutspuren im Haus beseitigt.«

»Das ist nicht gesagt. Nicht jeder, der einen Mord begeht, handelt auch hinterher noch so kaltblütig. Trotzdem glaube ich dir. So ein Narr, den Vogt zu holen, während der Tote noch mit seinem Messer in der Brust herumliegt, ist auch Mombert nicht. Er hätte den Steinzeller höchstens dann angegriffen, wenn der Junker versucht hätte, Hedwig Gewalt anzutun. Aber das wäre nicht ohne Lärm und Geschrei abgegangen.«

»Ich habe nichts gehört, obwohl ich in einer Kammer neben der Werkstatt schlafe, von der aus man jedes laute Wort hören kann, das im Flur gesprochen wird. Doch der Mord muss im Flur passiert sein, denn die Haustür war von innen versperrt, wie auch die Tür von der Werkstatt in den Hof.«

»Darauf weiß ich keine Antwort.« Michel kniff die Augen zusammen und überlegte. Die einfachste Erklärung war immer noch die, dass Meister Mombert seinen Gast umgebracht hatte. Aber das glaubte er ebenso wenig wie Wilmar.

Wilmar versuchte sich an jede Einzelheit an diesem Morgen zu erinnern. »Ich denke, Philipp von Steinzell ist an einem anderen Ort ermordet und heimlich in Meister Momberts Haus gebracht worden.«

»Dann müsste jemand aus dem Haus dem Mörder die Tür geöffnet und später die Riegel wieder vorgelegt haben. Das ist wenig wahrscheinlich.«

Wilmar schnaufte und hob mit einem Ruck den Kopf. »Melcher könnte das getan haben! Der zeigte so ruhig auf die Leiche, als hätte er schon mehr als einen Toten gesehen, und wies den Hilfsvogt auch gleich auf Meister Momberts Messer hin, das noch in der Wunde steckte. Vielleicht hat er den Mörder aus Rache ins Haus gelassen, denn der Meister hat ihm in letzter Zeit mehrmals die Rute gegeben, weil er sich in der Stadt herumdrückte, anstatt zu arbeiten. Ich finde es auch verdächtig, dass er in den letzten Wochen mit Geld angab, das ihm angebliche Freunde zusteckten. Vielleicht hat man ihn dafür bezahlt, dass er hinter dem Meister oder dem Junker herspionierte. Vorhin am Hafen habe ich gesehen, dass Melcher an Bord eines Schiffes gegangen war, das nach Bregenz …, nein, nach Lindau segelte, und ich habe mich noch gefragt, wie er an das Geld für die Überfahrt gekommen ist.«

»Darin wird kein Richter einen Schuldbeweis sehen. Er kann sich das Geld auf irgendeine Weise in der Stadt verdient haben. Wenn ein Lehrling sich rächen will, steckt er eine tote Maus in den Brotteig der Meisterin, aber er bringt keinen erwachsenen Mann um oder lässt einen Meuchelmörder ins Haus. Es sei denn …« Michel schwieg und starrte durch das winzige Fenster auf die Straße hinaus. »Es sei denn, die Tat wurde von jemand begangen, der den Steinzeller loswerden wollte und dabei Melcher als Helfer benutzte. Doch wer könnte ein Interesse an dem Tod eines fast unbekannten Junkers haben?«

Wilmar rutschte ganz aufgeregt auf dem Schemel herum. Der Hauptmann hatte angebissen, und jetzt konnte er endlich seinen Verdacht loswerden. »Der Abt von Waldkron! Der war doch hinter Hedwig her wie der Teufel hinter einer armen Seele und hat in Junker Philipp einen Nebenbuhler gesehen. Jetzt hat er ihn auf eine Weise beseitigt, dass Meister Mombert für den Mörder gehalten wurde, und damit auch den Vater aus dem Weg geräumt, der seine Tochter vor ihm beschützte. Dann hat er Hedwig in den Ziegelturm schaffen lassen, wo ihre Base Marie so viel Schlimmes hat erdulden müssen. Ich fürchte, Hedwig wird nun ein ähnliches Schicksal erleiden, denn ich habe beobachtet …«

Michel wollte schon abwinken, doch als der Name Marie fiel, unterbrach er den Burschen heftig. »Was ist mit Marie im Ziegelturm geschehen?«

Wilmar sah ihn verwundert an. »Hat Meister Mombert Euch die Geschichte nicht erzählt? Er war Zeuge bei dem Prozess gegen seine Nichte und hat erfahren, dass Marie drei Männer beschuldigt hat, sie in der Nacht nach ihrer Verhaftung im Ziegelturm vergewaltigt und ihr die Jungfernschaft geraubt zu haben. Der Richter hat ihr jedoch nicht geglaubt und sie wegen Verleumdung zu zusätzlichen Rutenhieben verurteilt.«

Michel fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »Marie wurde vergewaltigt? Das habe ich nicht gewusst. Ich bin ihr damals gefolgt, wusste jedoch nur von der Auspeitschung. Warte, lass mich nachdenken.«

Kein Wunder, dachte er beschämt, dass Marie nach solchen Erfahrungen kein Vergnügen daran findet, mit mir zu schlafen. Und ich Idiot habe auch noch geglaubt, ihr Gutes zu tun …

»Wer waren die Männer?«, fragte er Wilmar mit einer Stimme, die den Gesellen zusammenzucken ließ.

»Hunold, der Stadtbüttel, der Fuhrmann Utz und Linhard Merk, der damalige Schreiber ihres Vaters, der jetzt als Bruder Josephus im Barfüßerkloster lebt«, zählte Wilmar auf.

»Hunold ist ein Schwein, dem es Freude macht, Frauen zu quälen, und Utz eine Ratte, die hinter jedermann herschnüffelt und seine Geheimnisse gegen einen Judaslohn verrät. Von Matthis Schärers Schreiber weiß ich nichts, aber er war gewiss genauso ein widerwärtiger Kerl wie die beiden anderen. Mein Gott, wie muss Marie gelitten haben!« Michel sprang auf, lief in der Kammer hin und her und machte wütende Gesten, als wolle er die Schurken auf der Stelle zur Rechenschaft ziehen.

Wilmar zupfte ihn am Ärmel. »Es geht aber nicht um Marie, Hauptmann, sondern um Hedwig. Wenn wir nichts tun, wird sie ebenfalls ein Opfer solch gemeiner Schufte. Was ich von dem Waldkroner gehört habe, lässt mich das Schlimmste befürchten. Er ist vorhin über den See in Richtung Meersburg gefahren und wird von dort aus sicher nach Maurach reiten, wo er ein Haus gemietet hat. Bevor er an Bord ging, hat er seinem Knecht eine Pergamentrolle in die Hand gedrückt. Ich bin überzeugt, dass Selmo Hedwig aus dem Turm holen und zu ihm schaffen soll. Wenn wir sie nicht vorher befreien, wird der Abt Hedwig Gewalt antun und nach allem, was ich von ihm habe sagen hören, sie dabei misshandeln und quälen.«

Michel lachte bitter auf. »Wie stellst du dir das vor? Ich habe nicht die Macht, Hedwigs Freilassung zu veranlassen.«

Wilmar schlug die Hände vor das Gesicht. »Dann wird Hedwig das Schicksal ihrer Base teilen. Wenn sie die Behandlung durch den Waldkroner überlebt, heißt das. Sie ist doch so zart und zerbrechlich …«

Michel packte ihn bei der Schulter und zog ihn zu sich hoch. »Jetzt wirf den Spieß nicht gleich ins Korn und hör auf zu jammern. Bevor so ein Kerl wie Abt Hugo das Mädchen in die Finger bekommt, fahre ich mit blanker Klinge dazwischen, das schwöre ich dir.«

Für einen Augenblick überlegte Michel, zu Marie zu gehen und ihr von der Sache zu erzählen. Vielleicht würde es sie geneigter stimmen, wenn sie erfuhr, dass er ihrer Verwandten beistehen wollte. Wahrscheinlicher war, dass sie ihn für einen Maulhelden hielt und ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Nein, zuerst musste er Hedwig befreien. Mit einer solchen Tat konnte er Maries Dankbarkeit einfordern und ihr endlich näher kommen. Er forderte Wilmar auf, ihm noch einmal in allen Einzelheiten zu schildern, was er in Meister Momberts Haus und später am Hafen beobachtet hatte.

Die Wanderhure
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