III.

Maries Bewusstsein tauchte aus einem Höllenpfuhl auf, in dem ihr Dämonen immerzu Gewalt angetan und sie geschändet hatten. Für einen Augenblick war es ihr, als läge sie zu Hause in ihrem Zimmer bei offenem Fenster, durch das die Sonne warm hereindrang, und lausche dem Lärm draußen auf der Gasse. Dann aber stellten ihre umhertastenden Hände fest, dass sie bäuchlings auf einer Decke im Gras lag und nicht bekleidet war. Erschrocken wollte sie sich aufrichten. In dem Moment kehrten die Höllenqualen zurück. Schmerzen durchzuckten sie wie Dolche und ließen sie beinahe ohnmächtig werden. Ihr Rücken war aufgeschwollen wie ein harter, einschnürender Panzer und machte jeden Atemzug zur Pein, ihr Unterleib brannte, und ihr ganzer Körper war so verkrampft, dass sie keinen Muskel ohne Schmerzen bewegen konnte.

Jetzt riss sie die verklebten Augen auf und sah sich um. Sie lag auf einer alten, ausgewaschenen Decke, die durchdringend nach Lavendelkraut duftete, und war mit einer leichteren, aber ebenso schäbigen Decke zugedeckt. Über ihr spannte sich eine von Alter und ständigem Gebrauch verfärbte Zeltleinwand, auf der Sonnenstrahlen und Schatten von Zweigen und Blättern spielten.

Marie erinnerte sich verschwommen, dass sie zuletzt vor einem Rudel bissiger Hunde davongelaufen war und sich dann unter einen Baum gelegt hatte. War sie tot? Nein, wie das Paradies sah es hier nicht aus, aber auch nicht wie die Hölle. Ungeachtet der Schmerzwellen drehte sie sich um, richtete sich auf und entdeckte eine Frau, die den Rest des Zeltes auszufüllen schien.

Die Fremde saß mit untergeschlagenen Beinen auf einer fadenscheinigen, vielfach geflickten Decke und nähte an einem gelben Kittel. Trotz ihrer Größe wirkte alles an der Frau harmonisch. Das helle Haar und die sonnengebräunte Haut zeigten, dass sie sich viel im Freien aufhielt.

Die Fremde bemerkte, dass Marie sie beobachtete, hob den Kopf und musterte sie mit grauen, abweisend und streng dreinblickenden Augen. »Endlich wach geworden? Du siehst ja schon recht munter aus. Das freut mich.«

Trotz der freundlichen Worte klang die Stimme der Frau ebenso ablehnend wie ihr Blick. Marie zog sich unsicher in sich selbst zurück und starrte die Fremde an, die ununterbrochen weiternähte. Erst nach einer Weile wagte sie, sie anzusprechen.

»Wo bin ich? Und wer bist du?« Ihre Stimme klang wie das Krächzen eines Raben.

»In meinem Zelt auf dem Jahrmarkt von Merzlingen. Ich heiße Hiltrud.«

»Ich bin Marie.«

Hiltrud legte die Hand auf Maries Stirn und nickte zufrieden. »Es sieht so aus, als wärst du über den Berg. Dein Fieber ist weg.«

»Fieber? War ich denn krank?« Noch während sie fragte, quollen die albtraumhaften Bilder der letzten Stunden in Konstanz in ihr empor, und sie griff unwillkürlich auf ihren zerschlagenen Rücken.

Hiltrud hielt ihre Hand auf und zog sie wieder nach vorne. »Fass nicht dorthin. Du musst deinen Rücken in Ruhe heilen lassen und darfst auf keinen Fall kratzen. Die Wunden sehen schlimm aus, doch Peter meint, dass nur wenig sichtbare Narben zurückbleiben werden, vorausgesetzt, die Striemen entzünden sich nicht weiter, denn sonst werden sie zu harten Wülsten.«

»Wer ist Peter?«

»Peter Krautwurz ist ein Apotheker aus Merzlingen und ein guter Freund von mir. Er hat mir geholfen, dich zu verarzten.«

»Merzlingen?« Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Marie an diesen Ort erinnern konnte. »Das ist aber ganz schön weit weg von zu Hause.«

Hiltrud wies auf die Reste von Maries Kittel, die sie achtlos in eine Ecke geworfen hatte. »Du dürftest kein Zuhause mehr haben. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich das Zeug verbrennen. Du kannst derweil diesen Kittel anziehen. Ich hoffe, er passt, denn ich musste ihn enger machen, ohne bei dir Maß nehmen zu können.«

Marie starrte das unförmige Kleidungsstück entsetzt an, schluckte jedoch eine abwehrende Bemerkung und fragte stattdessen: »Wie bin ich eigentlich zu dir gekommen?«

»Ich habe dich neben der Straße gefunden und mitgenommen.«

Marie senkte den Kopf. »Ich wünschte, du hättest mich dort sterben lassen.«

»Warum? Ich kann eine hübsche Magd gut gebrauchen.« Hiltrud empfand wenig Lust, Marie zu schonen. Je eher das Mädchen sich mit ihrem Schicksal abfand, umso besser war es für sie beide.

Marie sah sich zweifelnd um. Alles um sie herum war schäbig und abgenutzt, und der Stoff, aus dem die Kleidung der Frau bestand, war von so schlechter Qualität, dass Elsa und Anne ihn entrüstet zurückgewiesen hätten. »Eine Magd? Wer bist du, dass du einen Dienstboten benötigst?«

Hiltrud zog eines der gelben Bänder an ihrem Rock hoch, die für jedermann sichtbar ihren Stand kennzeichneten. »Ich bin eine Hübschlerin.«

Sofort ärgerte sie sich, weil sie den verharmlosenden Begriff gewählt hatte, anstatt offen und ehrlich zu bekennen, dass sie eine umherwandernde Hure war.

Marie verstand sie auch so. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Ekel, und sie wich bis an die Zeltwand zurück. »Du treibst es freiwillig mit Männern?«

Ihre Stimme drückte die Abscheu eines Mädchens aus, dessen einzige Erfahrung mit Männern aus einer brutalen Vergewaltigung bestand.

Hiltrud zuckte mit den Achseln. »Von irgendetwas muss ich ja leben.«

»Aber da ist alles andere noch besser, sogar das Betteln!«

Hiltrud griff in jenen Winkel, in dem die Reste des Schandkittels lagen, und hielt Marie die Dämonenfratze der Wollust vor das Gesicht. »Jetzt höre mir einmal gut zu, mein Kind, und schlag dir die Flausen aus dem Kopf. Für die Leute in ihren properen Städten bist du nach diesem Urteil kein Mensch mehr, sondern Abschaum, genau wie ich. Für die feinen Bürger und das Gesinde, das ihnen die Füße leckt, sind wir weniger wert als der Dreck, den sie täglich von sich geben. Meist verbieten sie uns, ihre Städte zu betreten, und schimpfen sogar noch über uns, wenn wir vor ihren Toren an Hunger und Kälte verrecken. Manchmal verkaufen sie uns einfach an einen ortsansässigen Hurenwirt und halten das für gottgefälliges Mitleid.

Einmal habe ich alle Vorsicht in den Wind geschlagen, weil ich dringend Stoff und Lebensmittel kaufen musste, und bin unbemerkt an den Torwachen vorbeigeschlüpft, um einen Wochenmarkt innerhalb des Stadtfriedens aufzusuchen. Natürlich hat der Marktaufseher mich erwischt und vom Gericht zu zehn Rutenhieben verurteilen lassen. Zum Glück war der Büttel, der sie mir geben musste, daran interessiert, mit mir zu schlafen, und schlug daher so sacht zu, dass ich kaum etwas gespürt habe.«

Marie starrte Hiltrud fassungslos an. »Und? Hast du dich ihm hingegeben?«

Hiltrud begriff Maries Entsetzen nicht. »Ja, natürlich. Schließlich wäscht eine Hand die andere. Wenn ich an den Falschen geraten wäre, hätte mein Rücken vielleicht so ausgesehen wie deiner.«

Plötzlich sah Marie sich wieder nackt am Schandpfahl hängen, den Blicken der Gaffer schonungslos preisgegeben.

»Ich … ich weiß nicht, warum man mir das angetan hat. Ich bin die Tochter eines wohlhabenden Bürgers zu Konstanz und war bis zu der Nacht vor meiner Auspeitschung noch Jungfrau. Zwei Männer haben mich verleumdet und behauptet, ich hätte mit ihnen Unzucht getrieben …«

Sie sprudelte ihre ganze schreckliche Geschichte heraus und stöhnte vor Schmerz laut auf, als Weinkrämpfe ihren Körper erschütterten.

Hiltrud griff nach einem Lappen, tauchte ihn in den Wasserbehälter, der neben ihrem Kopf hing, und wusch Marie damit das Gesicht ab. Dann ließ sie den Lappen auf ihrer Stirn liegen.

»Bleib ganz ruhig, sonst bekommst du wieder Fieber. Es ist doch nichts mehr daran zu ändern. Du wirst dich mit deinem neuen Leben abfinden müssen.«

Marie holte vorsichtig Luft und drückte aufgeregt Hiltruds Hand. »Nein, nein, das glaube ich nicht. Mein Vater wird das nicht zulassen. Bestimmt ist er schon auf dem Weg hierher. Er kann jeden Moment hier auftauchen.«

Hiltrud sah sie skeptisch an. »Das wäre schön für dich.«

»Ich bin ganz sicher, dass er in den nächsten Stunden auftaucht. Und er wird dich ganz gewiss reich dafür belohnen, dass du mich gerettet hast. Vielleicht brauchst du dann nicht mehr … nicht mehr so herumzulaufen.« Marie deutete auf Hiltruds gelbe Bluse.

Hiltrud hatte Maries Erzählung entnommen, dass sich deren Vater nicht sonderlich energisch für sie eingesetzt hatte. Da sie dem Mädchen jedoch nicht wehtun wollte, sagte sie nichts, was ihre Illusion hätte zerstören können. »Ich habe nichts dagegen, wenn dein Vater mir ein paar Münzen in die Hand drückt, denn ich konnte bisher noch nichts verdienen, weil ich mich um dich kümmern musste.«

Marie kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn in dem Moment steckte der Apotheker den Kopf ins Zelt. »Grüß Gott, meine Liebe … Oh! Unsere kleine Patientin ist ja schon wach. Ich sagte dir doch, dass sie gesundes, kräftiges Blut in den Adern hat.«

Dabei lächelte er Marie zu und forderte sie auf, ihre Kehrseite zu zeigen.

Marie schüttelte abwehrend den Kopf und schlang die Decke fester um sich.

Hiltrud lachte sie aus. »Jetzt stell dich nicht so an. Peter will nur nach deinen Wunden sehen. Er ist ein besserer Heiler als die hochgelehrten Doktores, die von Krankheitsteufeln und Höllendünsten faseln und ihren Patienten Dreck zu fressen geben. Peter kennt jedes Kraut und jede Wurzel und hat ihre Wirkung auf die Krankheiten des Körpers und der Seele studiert, wie du schon an seinem Namen Krautwurz erkennen kannst.«

Marie sank in sich zusammen und ließ geschehen, dass der Apotheker mit Hiltruds Hilfe ihren Rücken entblößte und mit den Fingern prüfend ihre Wunden betastete.

»Ausgezeichnet«, lobte er. »Es heilt wirklich gut. Ich muss nur noch ein paar der Striemen mit meiner Essenz behandeln und natürlich auch die Hundebisse. In denen können sich Gifte angesammelt haben. Klemm dir ein Stück Holz zwischen die Zähne, Kind, oder beiß in die Decke, denn es wird gleich sehr wehtun.«

Marie brummte unwillig, denn sie glaubte, nach den Qualen, die sie hatte ertragen müssen, gegen jeden Schmerz gefeit zu sein. Aber als der Apotheker ihren Rücken mit dem essenzgetränkten Lappen berührte, schossen ihr die Tränen in die Augen, und ihr Mund öffnete sich zu einem gellenden Schrei. Bevor sie ihn herausbrachte, hatte Hiltrud ihr einen Lappen in den Mund geschoben.

»Los, beiß darauf und sei still! Oder willst du mit deinem Geschrei den halben Markt hierher locken?«

Marie konnte nur noch durch die Nase schnauben und sich unter der Hand des Apothekers krümmen.

Peter Krautwurz hielt keinen Augenblick inne. »Entspann dich, Kind. Gleich ist es vorbei. Meine Essenz sorgt dafür, dass die Wunden schnell und ohne hässliche Narben heilen.«

Als er die Flasche wegsteckte, spie Marie den Lappen aus. Wenn sie schon weiterleben musste, war sie froh, wenigstens nicht auf immer gezeichnet zu sein. Für einen Augenblick sah sie den Salbentopf in Peters Hand misstrauisch an, aber als er die Paste auftrug, spürte sie, wie sie die Schmerzen linderte. Mit einem beinahe zufrieden klingenden Seufzer ließ sie den Rest seiner Behandlung über sich ergehen. Nach einem aufmunternden Klaps auf ihren Oberschenkel richtete er sich auf. »So, jetzt wollen wir mal sehen, wie es unten bei dir aussiehst. Dreh dich bitte um.«

Zuerst begriff Marie nicht, was er damit meinte. Als er sie jedoch mit Hiltruds Unterstützung umdrehte und ihre Schenkel auseinander zog, färbte sich ihr Gesicht blutrot, und sie bedeckte ihre Scham mit den Händen. Hiltrud, die ihr den Rücken stützte, damit sie sich nicht auf ihre Wunden legen musste, zog ihr kurzerhand die Arme vor die Brust und hielt sie dort fest.

»Muss ich dir noch mal einen Knebel in den Mund stopfen?«, fragte sie, als Marie leise aufschrie. »Man hat dich schändlich zugerichtet, und Peter will nur sehen, ob er dir helfen kann.«

Marie biss die Zähne zusammen und ließ zu, dass der Apotheker sie gründlich untersuchte. »Auch hier heilt es gut. Es wird nur etwas länger dauern als auf dem Rücken, denn am Unterleib kann ich meine Essenz nicht anwenden, sonst würdest du uns vor Schmerzen durch die Zeltdecke gehen. Aber Hiltrud besitzt eine eigene, sehr wirkungsvolle Kräutermixtur, und ich habe dir zusätzlich eine Salbe mitgebracht, die eine starke Vernarbung verhindert.«

Hiltrud reichte dem Apotheker die Tonflasche mit ihrer Tinktur und sah zu, wie er die Flüssigkeit vorsichtig auf den geschwollenen, blutunterlaufenen Schamlippen auftrug und bis tief in die Scheide rinnen ließ. Marie verging fast vor Scham, denn bisher hatte sie außer den drei Schurken im Ziegelturm kein Mann unbekleidet gesehen, geschweige denn an anderen Stellen außer ihren Händen berührt. Dann dachte sie an die vielen Hände, die sie bei ihrer Vertreibung aus Konstanz befingert hatten, und holte tief Luft, um die Erinnerung abzuschütteln.

Hiltrud sah das Entsetzen in ihren Augen und streichelte ihr beruhigend über das Haar. »So, jetzt bist du versorgt. Glaubst du, dass du dich eine Weile draußen hinsetzen kannst? Lehn dich an meinen Wagen und sieh dich ein wenig um.«

»Ich will es versuchen.« Es gelang Marie mit Hiltruds Unterstützung aufzustehen. Ihre Knie zitterten, aber irgendwie schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten. Der Apotheker zog das Tuch zurecht, das er auf ihrem Rücken befestigt hatte, und half Hiltrud, ihr den umgeänderten Kittel überzustreifen. Das Ding hing wie ein Vorhang um sie herum und reichte ihr bis zu den Füßen.

Der Apotheker nickte zustimmend. »Für die nächsten Tage ist das das richtige Kleidungsstück. Der Stoff liegt locker auf deinen Schultern und drückt nicht auf die Striemen.«

Marie starrte schaudernd auf die gelbe Farbe, mit denen Huren jedermann kundtun mussten, welch schändlichem Gewerbe sie nachgingen, und brach in Tränen aus. Am liebsten hätte sie sich den Stoff vom Leib gerissen, doch sie besaß nichts, um ihre Blöße zu bedecken. Nun würde jeder, der sie ansah, sie für eine Sünderin halten, auf die die Schlünde der Hölle warteten und die so verworfen war, dass kein Pfarrer sie über die Schwelle seiner Kirche treten ließ. Sie wehrte sich jedoch nicht, als Peter sie nach draußen führte, sondern bedankte sich bei ihm und Hiltrud, die eine ihrer Decken zu einem Polster für sie zusammengefaltet hatte, so dass sie ohne allzu große Schmerzen im Halbschatten der sich im Wind bewegenden Zweige sitzen konnte. Als sie sah, wie Peter Hiltrud die Hand in die Bluse schob und sie lachend über seinen Hosenlatz strich, wandte sie sich jedoch schnell ab.

Das half nicht viel, denn der Wagen stand direkt neben dem Zelt, und so vernahm sie die Anzüglichkeiten, die das Paar drinnen tauschte, und hörte Geräusche, die ihr Schauer über den Leib trieben. Entsetzt hielt sie sich die Ohren zu, ließ die Hände aber schnell wieder sinken, denn durch die sich spannenden Muskeln schien flüssiges Feuer zu laufen.

Marie sagte sich, dass sie kein Recht hatte, sich für Hiltrud zu schämen oder sie für ihre Lebensweise zu tadeln. Die Frau war sicher nicht freiwillig zur Hübschlerin geworden. Trotzdem war es ihr unangenehm, nur wenige Schritt neben sich ein kopulierendes Paar zu wissen. Körperliche Liebe war etwas, über das nur Männer sprachen, und das auch nur, wenn keine Frau in ihrer Nähe war und der Wein ihnen die Zungen gelöst hatte. Frauen durften nicht einmal an fleischliche Dinge denken, wenn sie nicht als unkeusch und verworfen gelten wollten. Marie hatte in ihrem bisherigen Leben eifrig danach gestrebt, so zu werden, wie die heilige Mutter Kirche es von einer züchtigen Jungfrau erwartete, und musste sich nun sagen, dass sie den gelben Kittel zu Recht trug, denn in den Augen der Kirche und der ganzen Menschheit galt sie seit dem kirchlichen Urteil als Hure.

Um sich abzulenken, sah Marie den beiden Ziegen zu, die nicht weit von ihr entfernt im Gras lagen und genüsslich wiederkäuten. Die Tiere wirkten so gelassen und zufrieden, als gäbe es keinen Kummer und keine Sorgen auf der Welt. Eine der Geißen hob den Kopf und musterte Marie neugierig, als wolle sie schauen, ob es einen Leckerbissen für sie gab. Da Marie nicht auf ihr Betteln reagierte, schnaubte das Tier enttäuscht und rupfte an einem Grasbüschel.

Die Ziegen lenkten Marie nicht lange von ihrem Schmerz und dem Geschehen im Zelt ab, und so ließ sie ihren Blick weiterwandern. Marie kannte den großen Konstanzer Jahrmarkt und auch die kleineren Märkte, die dort zu den Festen verschiedener Heiliger abgehalten wurden. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie Wina oder ihren Vater dorthin begleiten dürfen. Vor ihren Augen tauchten die von Waren überquellenden Stände auf, an denen man leckere Bratwürste und süße Kuchen kaufen konnte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie daran dachte, wie sie mit vollen Backen gekaut und den Erwachsenen zugehört hatte, die um Töpfe, Stoffe oder ganze Ladungen Wein feilschten. Zu ihrem heimlichen Kummer hatte man ihr nie erlaubt, den bunt gekleideten Gauklern zuzusehen, denn diese Leute waren in Winas Augen schlechtes Volk, die Hühner und kleine Kinder stahlen und von denen ein anständiges Mädchen sich fern halten musste.

Hier in Merzlingen sahen die Buden und Zelte genauso aus wie in Konstanz, und doch war alles ganz anders. In Maries Nähe badeten zerlumpte Frauen sich und ihre Kinder ungeniert im Fluss und unterhielten sich dabei mit schrillen Stimmen, während eine auffallend dicke Frau in fremdartig bunter Tracht nicht weit vom Ufer entfernt ein Feuer anzündete und dünnflüssigen Teig in eine flache Pfanne goss.

Ein bärtiger Mann schlenderte an ihr vorbei, nahm den ersten Pfannkuchen mit blanker Hand aus dem spritzenden Fett und biss mit offensichtlichem Genuss hinein. Was er zu der Frau sagte, verstand Marie nicht, aber die Dicke schien sich zu freuen, denn sie antwortete ihm lachend, während ihre Hände ohne Pause weiterarbeiteten. Ein junger Bursche, der dem Mann ähnlich sah, ließ sich den Pfannkuchen auf einem dünnen Brett servieren, von dem er ihn Stück für Stück mit den Lippen herunterriss, während er gleichzeitig mit drei Stöckchen jonglierte. Als der Bärtige fertig gegessen hatte, zog er mehrere Messer unter seinem Hemd hervor und schleuderte sie auf ein Brett, das am Stamm einer Weide lehnte. Bei jedem Wurf traf er den farbig markierten Kreis in der Mitte der Scheibe.

Ein Stück weiter versuchte ein Tonwarenhändler einer Kundin einen Topf schmackhaft zu machen. Die Frau prüfte das Gefäß sorgfältig, stellte es dann wieder hin und ging weiter, ohne etwas zu kaufen. Der Händler schimpfte verärgert hinter ihr her, verstummte aber, als er Maries Blicke bemerkte, verließ nach kurzem Zögern seinen Stand und kam auf sie zu.

»Du bist doch die Kleine, die Hiltrud unterwegs aufgelesen hat?« Marie nickte und wurde rot, denn aus dem Zelt drangen immer noch Paarungslaute. Den Mann schien das nicht zu stören. Er trat noch näher, hob Maries Kinn an und prüfte sie wie einen zu verkaufenden Gaul. »Ich habe schon mit Hiltrud über dich gesprochen, und wir sind fast schon handelseinig. Wenn du wieder gesund bist, kommst du als Magd zu mir, hilfst mir beim Verkauf meiner Teller und Töpfe und wäschst und flickst meine Sachen. Keine Sorge, ich bin nicht knauserig. Das kannst du auch Hiltrud sagen, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist. Sag ihr auch, ich käme später noch einmal vorbei, um mit ihr zu sprechen und ein anderes Geschäft mit ihr zu betreiben.«

Er grinste dabei zweideutig und machte eine Bewegung, als wolle er Maries Brüste anfassen, die sich unter dem Kittel abzeichneten. Marie versteifte sich und hob die Hand, um den Mann abzuwehren, doch da richtete er sich auf und rannte zu seinem Stand zurück, an dem eine schwer beladene Frau mit drei ausgelassen herumspringenden Kindern stehen geblieben war. Marie starrte dem Mann angewidert nach. Er hatte gestunken wie ein Ziegenbock und sie mit einem ähnlichen Blick gemustert wie Utz Käffli im Turm. Marie schauderte bei dem Gedanken, für so einen Menschen arbeiten zu müssen, und faltete die Hände zu einem Gebet, doch keines von denen, die ihr einfielen, drückte ihre Not aus oder spendete ihr Trost.

War diese Hiltrud so schlecht, dass sie sie wie ein Stück Vieh verkaufen wollte? Dabei hatte sie doch gesagt, sie wolle sie selbst als Magd behalten. Aber das hatte sie gewiss nur so dahergeredet, denn wie sollte eine arme Hure sich eine Magd leisten können? Wahrscheinlich hatte sie von Anfang an vorgehabt, sie dem Meistbietenden zuzuschlagen wie ein Fass Wein auf einer Auktion. Marie schauderte es bei dem Gedanken. Dann schalt sie sich wegen ihrer schlechten Gedanken. Hiltrud hatte ihr das Leben gerettet und ihre Blöße bedeckt, und das war nicht die Tat einer bösen Frau. Sie war zwar streng zu ihr gewesen, bezahlte aber nun mit ihrem Körper dafür, dass der Apotheker sie verarztet hatte wie ein Mädchen aus gutem Haus.

Marie stützte den Kopf in ihre Hände und wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie sehnte sich nach ihrer geordneten Welt zurück, in der sie eine Frau gewesen war und keine Ware, die man nach Belieben verkaufen durfte, und in der man nicht sündigen musste, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Schließlich klammerte sie sich an den Gedanken, dass ihr Vater ihr folgen und sie zurückholen würde. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er hier auftauchte, denn es gab nicht viele Straßen, die den Weg vom Petershausener Tor nach Singen kreuzten. Sie würde ihn bitten, Hiltrud ein Häuschen zu kaufen und ein Feld und eine Weide mit genügend Ziegen, so dass sie sich auf ehrliche Art ernähren und Almosen für ihr Seelenheil spenden konnte, und auch den Apotheker gut zu belohnen. Dann sollte ihr Vater sie an einen Ort bringen, an dem sie all die schlimmen Dinge, die ihr widerfahren waren, im Lauf der Zeit vergessen konnte.

Während Marie sich ausmalte, wie es weitergehen würde, wenn ihr Vater auftauchte, verließ der Apotheker mit einem zufriedenen Lächeln das Zelt. Er winkte ihr kurz zu und verschwand dann in Richtung der grauen Mauern, die sich am anderen Ende des Angers erstreckten.

Hiltrud steckte den Kopf hinaus. »Du kannst wieder hereinkommen, Marie. Was hältst du von einem Frühstück? Du magst doch Ziegenmilch, oder?«

»Ich weiß nicht … wahrscheinlich schon.« Marie merkte erst jetzt, dass der Duft des Pfannkuchens, der zu ihr herüberwehte, sie hungrig gemacht hatte. Doch als sie aufstehen wollte, drehte sich alles um sie, und sie sank mit einem Wehlaut zurück.

Hiltrud streifte sich ihr Kleid über, hob Marie auf und führte sie zu ihrem Lager. Dort half sie ihr, sich so auf der Decke auszustrecken, dass sie ohne größere Schmerzen liegen konnte. Dann nahm sie zwei Becher zur Hand und ging hinaus, um die Ziegen zu melken. Als sie zurückkehrte, hielt sie neben den vollen Bechern auch zwei in Blätter eingewickelte Pfannkuchen in der Hand, die sie Jossis Frau abgekauft hatte. Die Abneigung, die die Dicke gegen Hiltrud hegte, hinderte sie nicht daran, ein paar Münzen an ihr zu verdienen.

»Schlaf noch ein wenig. Du wirst bald wieder nach draußen gehen müssen, denn spätestens mittags kommen die ersten Kunden«, erklärte Hiltrud ihr zwischen zwei Bissen. »Wenn ich den Winter überleben will, muss ich noch viel Geld verdienen. Ich richte dir ein kuscheliges Plätzchen unter den Weiden her, damit du im Schatten liegen kannst.«

Marie hatte einen Kloß in der Kehle. Sie bedauerte es, Hiltrud so viele Umstände zu bereiten, schämte sich aber gleichzeitig, Brot zu essen, das durch Unzucht und Hurerei verdient worden war. Ihrem Magen war das jedoch egal, denn er schrie nach mehr. Marie biss die Zähne zusammen und bat Hiltrud um einen weiteren Becher Milch.

Die große Frau verließ das Zelt und kam bald darauf mit einem halb vollen Becher zurück. »Mehr Milch wollen die Ziegen nicht hergeben. Du kannst dir aber noch Wasser aus dem Kessel schöpfen. Es stammt von der Quelle drüben.«

»Ich wollte dir nicht die ganze Milch wegtrinken«, flüsterte Marie betroffen. »Ich danke auch schön.«

»Ist schon gut. Ich kann dich ja nicht darben lassen, denn sonst wirst du nicht schnell genug gesund.«

Hiltrud stand auf und befestigte den Zeltvorhang an einer Querstange. »Ich muss sehen, ob ein Mann vorbeikommt, bei dem es sich lohnt, ihn anzusprechen.«

Marie starrte sie an. »Wieso machst du das eigentlich? Eine so kräftige Frau wie du müsste doch auch eine andere Arbeit bekommen.«

Hiltrud schüttelte nachsichtig den Kopf. »Keine Hausfrau würde eine Hure als Magd einstellen, schon aus Angst um die Moral ihres Mannes und ihrer Söhne.«

»Wieso bist du überhaupt zu einer Hübschlerin geworden?« Marie verwendete diesen verharmlosenden Ausdruck, weil sie das schmutzige Wort nicht über die Lippen brachte.

»Mein Vater hat mich mit dreizehn an einen Hurenwirt verkauft«, antwortete Hiltrud ohne besondere Bitterkeit. »Ich habe beinahe zehn Jahre in seinem Bordell gearbeitet, bis ich endlich so viel gespart hatte, dass ich mich freikaufen konnte. Jetzt bin ich zwar eine Wanderhure ohne Heimat, aber wenigstens mein eigener Herr.«

Marie traten die Tränen in die Augen. »Das tut mir Leid.«

»Warum? Du kannst ja nichts dafür.« Hiltrud sah mehrere Männer in städtischer Kleidung näher kommen und räumte rasch die Becher weg. »Jetzt musst du doch wieder nach draußen. Die Kerle sehen aus, als könne man mit ihnen ins Geschäft kommen.« Ohne auf Maries Antwort zu warten, stand sie auf und schritt hüftschwingend auf die Männer zu.

Marie zog sich an einer Zeltstange hoch und taumelte hinaus. Als sie sich bückte, um die liegen gebliebene Decke aufzuheben, drehte sich alles um sie. Doch sie wollte möglichst weit weg von dem Zelt und den Geräuschen darin. Sie hielt sich an einem Baum fest und ging dann langsam auf eine der Weiden am Ufer zu, die am weitesten weg von den Zelten stand. Als sie zurückblickte, sah sie, dass Hiltrud mit einem der Männer handelseinig geworden war, und bat die Jungfrau Maria, ihren Vater bald zu ihr zu führen und sie aus diesem Albtraum zu erlösen. Aber auch heute schenkten ihr Gebete keinen Trost.

Die Wanderhure
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