II.

Es war früh am Morgen. Der See lag noch in dichtem Nebel, so dass die Insel mit dem Predigerkloster sich nur als Schemen abzeichnete. Einzelne Schwaden zogen über die Seemauer und drangen seltsam verformten Ungeheuern gleich in die noch menschenleeren Gassen ein. In der Nähe von St. Lorenz trat ein junges Mädchen aus einer Tür, sah sich sorgfältig um und lief die Gasse unter den Säulen hinunter bis zum Obermarkt. Dort bog sie in die Ringgasse ab, die zum Paradiesertor führte. Das Mädchen war in ein einfaches braunes Gewand gehüllt, wie es gewöhnlich nur Mägde trugen, und hatte Kopf und Oberkörper in ein großes, fadenscheiniges Schultertuch gehüllt. Ihre Füße steckten jedoch in festen Schuhen aus Rindsleder, die eine einfache Magd sich nicht leisten konnte.

Das Mädchen blickte sich immer wieder besorgt um, so als fürchte sie sich vor einer Entdeckung, und wich jedes Mal in eine Seitengasse aus, wenn sie Schritte vernahm. Dem Wächter am Paradiesertor ging sie jedoch vertrauensvoll entgegen.

»Du bist früh unterwegs, Jungfer Hedwig«, grüßte er freundlich und deutete auf den kleinen Strauß Frühlingsblumen in ihrer Hand. »Du willst wohl wieder auf den Armenfriedhof zum Grab deiner Verwandten.«

Das Mädchen nickte eifrig. »Freilich, Burkhard. Heute ist Verkündigung Mariä, der Tag, an dem Marie geboren und getauft wurde. Da muss ich doch für sie und die Seele ihres armen Vaters beten.«

Der Torwächter wiegte den Kopf. »Das werden einige nicht gerne sehen.«

»Ich weiß. Aber davon lasse ich mich nicht abhalten.« Unwillkürlich blickte Hedwig über die Schulter zurück in Richtung des Anwesens, das früher einmal Matthis Schärer gehört hatte und in dem nun der Magister Ruppertus Splendidus lebte. Dem Herrn gefiel es freilich nicht, dass sie die beiden Toten ehrte. Aber er konnte ihr nicht verbieten, an dem Grab zu beten, in dem der Schwager ihres Vaters begraben lag. Der Magister und einige andere behaupteten, dort läge nur ein aussätziger Bettler, doch das glaubten weder sie noch ihr Vater. Die Mutter tadelte sie immer wieder wegen ihrer Starrsinnigkeit und redete ihr eindringlich zu, endlich Ruhe zu geben, denn sie wollte den hohen Herrn nicht weiter erzürnen. Deswegen hatte Hedwig es auch nicht gewagt, ihr zu sagen, dass sie an diesem Morgen zum Grab gehen wollte.

Der Torwächter öffnete Hedwig die kleine Tür im Torflügel und wünschte ihr noch einen segensreichen Tag. Da sie jemanden kommen hörte, huschte sie ohne Antwort durch die Öffnung und lief eilig weiter. Kurz nach ihr kam ein Mann mittleren Alters im Habit eines Benediktinerabts auf das Paradiesertor zu und winkte dem Torwächter grußlos, ihm die Tür zu öffnen. Burkhard verzog das Gesicht und benötigte weitaus mehr Zeit als bei dem Mädchen, um das Schloss zu öffnen und die Tür aufzumachen, denn er mochte den fetten Abt nicht, der mit überheblicher Miene an ihm vorbeischritt, als wäre ein Torwächter kein Mensch, sondern nur ein ekelhaftes Insekt, das neben dem Tor auf einem Pflasterstein krabbelte. Burkhard wollte Hedwig nachrufen, dass sie Acht geben sollte. Doch als er den Kopf zum Tor hinausstreckte, war das Mädchen schon im Nebel untergetaucht. Burkhard war jedoch sicher, dass das Ziel von Abt Hugo, der sich nach seinem Kloster »von Waldkron« nannte, ebenfalls der Brüel war, auf dem neben dem Schindanger und der Richtstätte auch der Armenfriedhof der Stadt Konstanz lag.

Hedwig Flühi, Meister Momberts Tochter, lief inzwischen über das ungepflegte Geviert, auf dem man Bettler und andere heimatlose Wanderer begrub, die in Konstanz in die Ewigkeit eingingen. Sie eilte zwischen den schmucklosen und meist von Gestrüpp überwucherten kleinen Hügeln zu einer Stelle, die sich stark von den übrigen unterschied. Als sie erfahren hatte, wer dort begraben lag, hatte Hedwig schwarze Erde aus dem Wollmatinger Moor geholt, auf dem Grab verteilt und allerlei Blumenzwiebeln dort gepflanzt. Zu ihrer Freude blühten gerade Dutzende von Schneeglöckchen wie leuchtend weiße Sterne, und die ersten Krokusse streckten schon ihre grünen Finger aus der Erde.

Hedwig beugte sich nieder und glättete die Erde an einer Stelle, an der ein Hund gescharrt hatte. Dann sah sie traurig auf den kleinen Grabstein, den ihr Vater erst vor kurzem hatte aufstellen lassen. Es war schon der vierte seit den schrecklichen Ereignissen im Jahre des Herrn 1410. Hatte der erste Gedenkstein noch aus Granit bestanden, so musste Matthis Schärer sich jetzt mit einer einfachen Tafel aus gebranntem Ton begnügen. Es kam Mombert Flühi sonst zu teuer, denn der Stein verschwand mindestens einmal im Jahr oder wurde zerschlagen. Niemand wusste, wer das tat, doch Mombert und seine Tochter waren sich sicher, dass Magister Ruppertus Splendidus dahinter steckte. Der Herr mochte nicht daran erinnert werden, wie er zu seinem Reichtum gekommen war, aber Hedwig, die ihn von ganzem Herzen hasste, schwor sich von neuem, alles zu tun, damit er es nicht vergaß.

Sie strich über die einfache Inschrift auf dem Stein, die nur besagte, dass hier Matthis Schärer begraben lag. Außerdem stand noch Maries Name darauf, obwohl Meister Matthis’ Tochter nicht in diesem Grab ruhte. Hedwigs Eltern waren wie viele andere der Ansicht, Marie könnte die ungewöhnlich harte Bestrafung nicht lange überlebt haben. Hedwig wurde immer noch von grauenhaften Albträumen verfolgt, denn sie war an jenem schrecklichen Tag auf dem Markt gewesen und hatte eingekeilt in der Menge Maries Auspeitschung miterlebt. Trotzdem wehrte sie sich gegen die Vorstellung, Marie sei an den Folgen der Schläge gestorben, denn so ungerecht konnte Gott doch nicht sein. Stattdessen stellte sie sich vor, ihre Base würde als gottesfürchtige Einsiedlerin in einer Klause leben, und die wilden Tiere des Waldes kämen vertrauensvoll zu ihr wie zu einer Heiligen.

Als Hedwig eilige Schritte auf dem kiesbedeckten Weg vernahm, der vom Paradiesertor zur Armengrablege führte, zog sie sich hinter dürres Gestrüpp zurück und starrte in den Nebel, um herauszufinden, wer sich da näherte. Beim Anblick des fetten Abtes, der in seiner wehenden weißen Soutane wie ein blutdürstiges Gespenst auf sie wirkte, sah sie sich nach einem Fluchtweg um.

Hugo von Waldkron war Gast im Haus ihres Feindes Ruppertus Splendidus. Der Kirchenmann stellte ihr schon seit einigen Wochen nach, doch bislang hatte sie ihm jedes Mal rechtzeitig ausweichen können. Das hatte sie Jula, der Tochter einer Nachbarin, zu verdanken, welche bei Ruppertus Splendidus als Magd arbeitete. Die hatte sie vor dem Waldkroner gewarnt. Wenn dieser Mann eine Frau besitzen wolle, so hatte sie berichtet, ließe er kein Nein gelten, sondern nehme sie notfalls auch mit Gewalt.

Hedwig geriet in Panik, denn es hieß auch, der Abt besäße trotz seines beträchtlichen Wanstes Bärenkräfte. Wenn er sie zu fassen bekam, würde er ihr Gewalt antun, und dann erginge es ihr ebenso wie Marie. Um diese Zeit würde kaum jemand ihre Hilferufe hören, und wenn doch jemand auftauchte, wäre er kaum bereit, sich den Zorn eines so einflussreichen Mannes zuzuziehen. »Vergebt mir, Onkel Matthis, Marie, dass ich heute nicht an eurem Grab beten kann.« Hedwig sah, wie der Abt sich umdrehte, als habe er ein Geräusch gehört, schob rasch ihre Blumen auf das Grab und rannte über den hinteren Teil des Armenfriedhofs auf die Hecke zu, die den Anger umgab. Die war an dieser Seite um einiges dichter als auf die Stadt zu, doch auch hier gab es Lücken, durch die ein schlankes Geschöpf wie sie sich den Weg bahnen konnte. Dafür musste sie nur lange genug unbeobachtet bleiben. Sie zog sich vorsichtig hinter ein paar Sträucher zurück, duckte sich tief auf den Boden und beobachtete, wie der Abt nun zielstrebig auf Matthis Schärers Grab zueilte. Irgendjemand musste ihm gesagt haben, dass sie am Namenstag ihrer Base dort zu beten pflegte, und ihm den Weg genau beschrieben haben.

Hedwig beobachtete, dass der Mann sich umsah und nach einigen Augenblicken zum Eingang zurücklief. Rasch zwängte sie sich vorsichtig durch die Hecke und hastete davon. Sie nahm an, dass der Abt das Paradiesertor noch eine Weile im Auge behalten würde, und lief auf den Rhein zu, um durch das Schottentor nach Hause zurückzukehren.

In ihrer Furcht, der Abt könnte sie im letzten Moment entdeckt haben und sie verfolgen, drehte sie sich immer wieder um. Dabei entgingen ihr vier Männer in bunten Kriegstrachten, die vom Rheinufer heraufkamen. Es waren Söldner, wie sie in Konstanz und Umgebung zuhauf herumlungerten und nichts anderes zu tun hatten, als auf die Befehle ihrer Hauptleute zu warten. Die vier hatten ihre Quartiere beim Schottenkloster verlassen und waren nun auf dem Weg in die Stadt. Beim Anblick eines weiblichen Wesens johlten sie auf und schwenkten auf sie zu.

Bevor Hedwig reagieren konnte, hatte einer der Soldaten sie an sich gezogen und fuhr ihr mit der freien Hand unters Brusttuch. »Was haben wir denn da für ein feines Täubchen?«

»Lasst mich gefälligst los!«, fauchte Hedwig ihn an. »Ich bin keine Hure.«

Obwohl sie sich mutig gab, starb sie innerlich vor Angst. In der Furcht vor dem liebestollen Abt hatte sie nicht mehr an die Kriegsknechte gedacht, die sich wie ein Heuschreckenschwarm in ihrer Heimatstadt ausgebreitet hatten und den Stadtbütteln wie auch den Konzilswachen des Pfalzgrafen Ludwig, der vom Kaiser mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung beauftragt worden war, das Leben schwer machten. Sie hätte eine Magd mitnehmen sollen, wie es sich für eine brave Bürgerstochter gehörte, fuhr es ihr durch den Kopf. Andererseits sahen die Kerle hier so aus, als würden sie sich sogar an der alten Wina vergreifen, die faltig und grau geworden war und keinen einzigen Zahn mehr besaß.

Der Mann, der Hedwig festhielt, drehte sich mit ihr zu den anderen herum. »Na, was sagt ihr dazu, Kameraden? Die Kleine ist doch ein appetitlicherer Bissen als die Hure, die wir gestern Abend hatten.«

Einer seiner Kameraden riss ihr das Tuch vom Kopf und zog an ihren langen, hellblonden Zöpfen. »Das ist sie bestimmt. Ich kann es gar nicht erwarten. Willst du mich diesmal nicht vorlassen, Krispin?«

Der andere lachte ihn aus. »Du wirst warten können, bis du dran bist. Natürlich besorge ich es ihr zuerst.«

Hedwig hatte für einen Augenblick gehofft, dass sich die Männer nur einen Spaß mit ihr machen wollten, doch nun wurde ihr klar, was ihr bevorstand, und sie öffnete den Mund, um zu schreien. Vielleicht hörten die frommen Brüder des nahen Schottenklosters sie oder wenigstens der Türmer am Tor. Doch im gleichen Moment presste der Soldat ihr die Hand auf die Lippen. »Du wirst uns doch nicht um unseren Spaß bringen wollen!«

Er zerrte Hedwig auf eine Baumgruppe am Rand einer jetzt von Zelten bestandenen Viehweide zu. Im gleichen Augenblick sah Hedwig einen Offizier den Weg heraufkommen, der den Pfälzer Löwen auf der Brust trug, und schöpfte Hoffnung. Sie trat ihren Peiniger, und bekam lange genug den Mund frei, um einen halb erstickten Schrei ausstoßen zu können.

Der Mann sah jedoch nur kurz zu der Gruppe hinüber und verzog angewidert das Gesicht, als er vier Männer und ein Mädchen entdeckte. Er schien kein Interesse zu haben, sich einzumischen, denn er ging weiter. Hedwig stöhnte auf, denn der Söldner, der sie trug, presste ihren Kopf gegen seine Schultern, so dass sich ihr Genick schmerzhaft bog. Hilflos starrte sie in die Sonne, die gerade stechend durch die Nebelschwaden brach. Daher sah sie nicht, dass der Offizier sich noch einmal umdrehte, ihre hell aufleuchtenden Haare anstarrte und ihr Gesicht mit einem ungläubigen Blick musterte.

Was auch immer er zu sehen glaubte, ließ den Pfälzer Dienstmann anderen Sinnes werden. Mit einem wütenden Fluch riss er sein Schwert aus der Scheide und vertrat den vieren den Weg. »Lasst das Mädchen los, ihr Lümmel!«

»Was soll das?«, fuhr Krispin ihn an. »Das ist unsere Hure. Also halt du dich gefälligst da raus.«

»Ich sagte: Lass sie los!« Der Offizier trat einen Schritt nach vorne und schlug Krispin die flache Klinge über den Kopf.

Der Söldner ließ Hedwig fallen und griff nach seiner Waffe, nahm dann das Wappen seines Gegenübers wahr und hielt auf halbem Weg inne. »Seit wann macht ihr Bluthunde Aufhebens wegen einer Hure?«

»Ich bin keine Hure, sondern eine Konstanzer Bürgerstochter«, schrie Hedwig auf.

Der Fremde warf ihr einen irritierten Blick zu.

Krispin winkte verächtlich ab und wollte nach Hedwig greifen, die auf Händen und Füßen von ihrem Peiniger wegstrebte. »Und wenn schon! Die Töchter und Ehefrauen der Bürger kriechen doch ebenfalls zu jedem Kerl unter die Decke, der dafür bezahlen kann.«

Der Offizier setzte ihm die Schwertspitze auf die Brust. »Wenn sie es freiwillig tun, ist es nicht meine Sache. Aber das Mädchen hat deutlich gezeigt, dass sie nicht will.«

Krispin schenkte seinen Freunden, die sich ein paar Schritte zurückgezogen hatten, einen wütenden Blick und sah den Pfälzer dann herausfordernd an. »Was du nicht sagst, du Klugscheißer! Hat nicht der Württemberger letztens ein feines Bürgerstöchterlein inmitten der Stadt auf sein Pferd gezerrt, in sein Quartier mitgenommen und es erst wieder laufen lassen, nachdem er es ihm so richtig besorgt hatte?«

»Ich will nicht behaupten, dass ich die Handlung des Grafen billige. Aber es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Eberhard von Württemberg und einer Gossenratte wie dir. Wie ich gehört habe, soll er der Maid ein hübsches Sümmchen für ihre verlorene Unschuld bezahlt haben, und er wird demnächst sogar ihre Hochzeit ausrichten. Außerdem behielt er sie für sich und ließ sie nicht noch durch andere Kerle schänden.«

Das Schwert des Pfälzers bohrte sich in das lederne Wams des Söldners, und er schien es auf einen Kampf ankommen lassen zu wollen.

Krispin trat auf Hedwigs Rock, um zu verhindern, dass sie weglief, und sah seine Kameraden auffordernd an. »Wollen wir vier uns von einem einzelnen Wicht ins Bockshorn jagen lassen?«

Zwei schüttelten den Kopf und zogen blank, während der Vierte die Hand hob und dazwischentrat.

»Bist du verrückt, Krispin? Wenn wir uns an einem Dienstmann des Pfalzgrafen am Rhein vergreifen, droht uns der Strang.«

Die beiden anderen Söldner schoben ihre Waffen zurück in die Scheiden. Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, wie sehr es ihnen gegen den Strich ging, gegen einen einzigen Mann zurückstecken zu müssen. Aber die Haltung des Offiziers verunsicherte sie, denn der Pfälzer schien entschlossen, es mit allen zugleich aufzunehmen.

Krispin trat zurück und gab Hedwig frei. »Verdammt, man wird sich doch noch einen kleinen Scherz erlauben dürfen!«

Der Blick, mit dem er den Fremden beim Weggehen streifte, zeigte jedoch, dass dieser ihm nicht in einer dunklen Gasse begegnen sollte. Die drei übrigen Söldner folgten murrend ihrem Anführer.

Hedwig klopfte sich den Schmutz von ihrem Rock und sah neugierig zu ihrem Retter auf. Er konnte höchstens fünfundzwanzig Jahre alt sein und hatte ein kantiges, aber sympathisches Gesicht mit einer scharf geschnittenen Nase und hellblauen Augen, die sie immer noch erstaunt und zweifelnd musterten. Hedwig merkte, dass sie ihn anstarrte, und besann sich auf ihr gutes Benehmen.

»Ich danke Euch, Herr. Ihr habt mich aus einer sehr üblen Lage befreit.«

Er streckte die Hand aus und fasste vorsichtig nach einem ihrer schweren Zöpfe. »Es war dumm von dir, Mädchen, allein hier draußen herumzulaufen.«

Hedwig senkte den Kopf und starrte hilflos auf ihre Fußspitzen. »Da habt Ihr Recht. Aber ich konnte nicht auf dem direkten Weg in die Stadt zurückkehren, weil der fette Abt wieder hinter mir her war. Diesmal ist er mir bis zum Grab meiner Base gefolgt und hätte mir bestimmt Gewalt angetan, wenn ich nicht schnell genug weggerannt wäre.«

Der Mann schnaubte verächtlich, während sein Blick unverwandt auf Hedwigs Gesicht ruhte. »Es treibt sich viel zu viel Gesindel in dieser Stadt herum. Ein Abt, sagst du?«

»Ja, Hugo von Waldkron, der Abt des Klosters Waldkron …«

Hedwig bemerkte, dass ihr Gegenüber mit den Gedanken ganz woanders war. Er hielt immer noch ihren Zopf fest, rieb sich mit seiner Rechten über die Stirn und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Du bist einfach zu jung. Nein, du kannst nicht Marie sein. Aber du siehst ihr sehr ähnlich.«

Hedwig sah überrascht auf. »Du kennst meine Base?«

Die Augen des Fremden wurden groß. »Marie Schärerin ist deine Base? Dann wärst du ja Meister Momberts kleine Hedwig.«

»Ja, ich bin Mombert Flühis Tochter.« Hedwig staunte nicht wenig, dass ein Wildfremder sie und ihre Familienverhältnisse kannte, und schämte sich gleichzeitig. Der Offizier musste sie für ein leichtfertiges Frauenzimmer halten.

»Ich bin nicht unbedacht herumgelaufen, sondern wollte an Maries Grab auf dem Armenfriedhof beten. Heute ist doch ihr Geburts- und Tauftag.«

Das Gesicht des Mannes verdüsterte sich. »Marie ist tot? Oh mein Gott!«

Hedwig hob unsicher die Hände. »Wir wissen es nicht genau. Es handelt sich um das Grab ihres Vaters, der dort von unserem Feind heimlich beerdigt worden ist. Mein Vater hat später erfahren, dass sein Schwager dort ruht, und seitdem beten wir dort auch für das Seelenheil meiner verschollenen Base.«

Der Blick des Mannes wurde so böse, dass Hedwig sich vor ihm zu fürchten begann. »Meister Matthis ist tot? Das war sicher auch die Schuld dieses Lumpenhunds von einem … Wann ist er gestorben?«

»Das wissen wir nicht. Er ist direkt nach Maries Vertreibung verschwunden.«

»Er hat also sein Unglück und die Schande seiner Tochter nicht überlebt. Ich hoffe für seine Seele, dass er nicht Hand an sich selbst gelegt hat.« Es klang wie eine Frage.

»Nein, gewiss nicht. Mein Vater ist der Ansicht, dass jemand nachgeholfen hat. Das dürfen wir zwar nicht laut sagen, aber …«

Hedwig brach ab. Sie kannte den Mann nicht, und sie wusste, dass sie bestimmte Dinge keinem Fremden anvertrauen durfte. Im schlechtesten Fall war der Offizier ein Vertrauter von Magister Ruppertus, und wenn dem zu Ohren kam, was sie hier erzählte, würde es ihrem Vater übel ergehen.

»Ich rede zu viel«, sagte sie. »Bitte lasst mich gehen, Herr. Zu Hause wird man mich schon vermissen.«

Der Mann reichte ihr den Arm. »Ich begleite dich bis vor die Tür. Sonst kommen womöglich noch andere Kerle auf den Gedanken, die Situation auszunützen.«

»Woher weiß ich, ob ich Euch vertrauen kann?«, fragte Hedwig. Der Mann lachte. »In meiner Begleitung bist du sicher. Schließlich habe ich dir schon als Kind die Nase geputzt.«

Hedwig stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und funkelte ihn zornig an. »Du sagst die ganze Zeit, dass du mich und meinen Vater kennst, verrätst aber nicht, wer du bist.«

»Ich bin Michel, der Sohn des Bierschenks Guntram Adler aus der Katzgasse.«

Hedwig schob die Unterlippe nach vorne. »Das ist falsch. Der Bierschenk in der Katzgasse heißt Bruno Adler.«

»Das ist mein älterer Bruder. Also lebt auch mein Vater nicht mehr.« Michel seufzte und horchte in sein Inneres, aber da kam keine Trauer auf.

Hedwig kniff die Augen zusammen und versuchte, eine Ähnlichkeit zwischen dem schlanken, kräftigen Kriegsmann und dem schon arg in die Breite gegangenen Wirt in der Katzgasse zu finden, konnte aber nur feststellen, dass Michel um einiges besser aussah als sein Bruder. Sie hakte sich bei ihm unter und ließ sich zum Schottentor führen.

Mittlerweile war es auf den Straßen der Stadt lebendig geworden, und manch neugieriger Blick traf die beiden. Einige Matronen rümpften die Nasen und steckten die Köpfe zusammen.

»Diese Hedwig ist auch nicht besser als ihre Base. Sie lässt sich sogar offen mit ihrem Liebhaber sehen«, sagte eine von ihnen mit lauter Stimme, die eine gehörige Portion Neid verriet.

»Auf alle Fälle hat sie einen besseren Geschmack als Marie, die ihre Röcke für einen schmutzigen Fuhrknecht gehoben hat. So ein schmucker Kriegsmann könnte mir auch gefallen«, erwiderte eine andere ungeniert.

Für kurze Zeit unterhielten die Frauen sich über jene Ereignisse vor fünf Jahren, doch als ein junger Edelmann in juwelenbesetzter Tracht und unverschämt kurzem Wams vorbeikam, waren Hedwig und ihr Begleiter vergessen.

Die Wanderhure
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