I.

Willst du es dir nicht doch noch überlegen, Marie?« Frau Mechthilds Stimme klang jetzt verärgert.

Marie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Ich will dir doch nur helfen, du störrisches Ding«, fuhr Frau Mechthild fort. »Eine Heirat mit einem unserer Bauern würde dich zu einer ehrlichen Frau machen. Und mehr noch: Da du frei geboren wurdest, bin ich bereit, dir Brief und Siegel zu geben, dass deine Kinder ebenfalls keine Leibeigenen sein werden. Ich habe mit meinem Gemahl darüber gesprochen. Er ist bereit, dir und deinen Nachkommen einen Hof in der Herrschaft Thalfingen als Eigentum zu überlassen.«

Marie klopfte das Herz bis zum Hals, und etwas in ihr beschwor sie, das großzügige Geschenk anzunehmen. Die Aussicht, Freibäuerin auf einem eigenen Hof zu werden, war genau das, wovon Anne und Elsa, die beiden Mägde ihres Vaters, damals in Konstanz geträumt hatten. Es war kein leichtes Leben, denn die Frau eines Bauern musste ebenso hart zugreifen wie ihr Mann, und Marie war sich bewusst, dass sie das meiste von dem, was einem Mädchen auf dem Land schon von Kindesbeinen an beigebracht wurde, erst würde lernen müssen. Aber mit der Hilfe eines liebevollen Mannes würde sie es schaffen.

Doch wenn sie zusagte, wäre sie für den Rest ihres Lebens an einen Fleck Land gebunden, den sie höchstens dann einmal für kurze Zeit verlassen durfte, wenn sie den Markt im nächsten größeren Ort besuchte oder auf eine Wallfahrt ging. Sie würde irgendwo am Neckar leben, weit weg von Konstanz und von Ruppert, ohne jede Chance, sich an dem Magister und seinen Handlangern zu rächen. Dort wäre sie für den verräterischen Advokaten genauso aus der Welt, wie wenn sie damals an der Auspeitschung gestorben oder vor Scham ins Wasser gegangen wäre. Nein, sie durfte jetzt nicht schwach werden und das Geschenk annehmen, sonst würde sie für den Rest ihres Lebens keinen Seelenfrieden mehr finden.

Sie holte tief Luft und formulierte ihre Antwort sehr vorsichtig, um Frau Mechthild nicht noch mehr zu verärgern. »Euer Angebot ist mehr als großzügig. Ich bin jedoch keine Bäuerin und könnte den Hof niemals richtig bewirtschaften, denn ich bin als Tochter eines Handelsherrn aufgewachsen und nie auf dem Land gewesen.«

Frau Mechthild lachte auf. »Du weißt nicht, was du sagst. Glaubst du, es würde sich dir noch einmal die Chance bieten, dem Schmutz der Straße zu entkommen? Einen Ort zu finden, wo du durch ein braves, gottgefälliges Leben und fleißiges Gebet dein Seelenheil retten kannst? Nein, Mädchen, wenn du von hier weggehst, wirst du in der Gosse bleiben, in die dich der Halbbruder unseres Feindes gestoßen hat, und bis zu deinem bitteren Ende heimatlos über die Straßen ziehen.«

Marie sah durch das Fenster der Kemenate auf den Hof, wo Hiltrud mit Thomas’ Hilfe ihre widerspenstig gewordenen Ziegen vor den kleinen Wagen spannte. Die drei Zicklein, die vor zwei Monaten geboren worden waren, wollten sich überhaupt nicht anbinden lassen. Marie dachte, dass Hiltrud als Landkind glücklich wäre, wenn sie auf einem Bauernhof leben dürfte. Für einen Augenblick erwog sie, die Herrin zu bitten, Hiltrud und Thomas die Heirat zu erlauben und ihnen den Hof zu geben. Aber wenn die Burgherrin darauf einging, würde sie allein weiterziehen müssen, und davor hatte sie Angst. Daher schluckte sie die Frage hinunter und verachtete sich gleichzeitig wegen ihrer Eigensucht, die keine Rücksicht auf die Freundin nahm, die ihr das Leben gerettet hatte. Sie kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr aufstiegen, und warf den Kopf in den Nacken.

»Ich bin mir bewusst, was ich hier ausschlage, Herrin. Aber es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich meinen Seelenfrieden finden könnte …« … solange Ruppertus Splendidus noch lebt, hatte sie sagen wollen, doch sie biss sich rechtzeitig auf die Lippen. Ihr Wunsch nach Rache ging Frau Mechthild nichts an. Daher räusperte sie sich und knickste vor der Burgherrin, ohne ihr in die Augen zu sehen.

»Es wird Zeit, mich zu verabschieden, Herrin.«

»Wie du willst«, antwortete die Burgherrin verdrossen. »Deinen Lohn hast du bereits erhalten. Nimm meinen Dank für die Hilfe, die du mir geleistet hast, und meine besten Wünsche dazu. Ich werde auf der Wallfahrt nach Einsiedeln auch für deine Seele beten.«

Marie knickste noch einmal, drehte sich dann abrupt um und wanderte langsam durch den Wohnturm, hinab in die große Halle und durch das innere Tor hinaus in den inneren Zwinger, in dem Hiltrud auf sie wartete. Dabei verabschiedete sie sich von dem Ort, der sie für ein paar erlebnisreiche Monate beherbergt hatte. Sie hatte viel erfahren, von dem sie hoffte, dass es ihr in Zukunft noch einmal nützlich sein konnte, und in ihrem Beutel am Gürtel trug sie die Belohnung, die Frau Mechthild ihr für ihre Dienste gegeben hatte.

Die Herrin war nicht so großzügig gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Das mochte an dem Angebot liegen, das sie ihr eben gemacht hatte, oder auch daran, dass der Graf von Württemberg, dessen Bettgefährtin sie zwei Wochen lang gewesen war, sie vor aller Augen reich belohnt hatte. Seine Goldmünzen trug sie in einem weiteren Beutel tief unter ihrer Kleidung versteckt. Die Summe, die sie nun besaß, reichte noch nicht, um einen Meuchelmörder für einen so hohen Herrn wie Ruppertus Splendidus anwerben zu können. Für die Schurken, die sie vergewaltigt hatten, war es jedoch schon genug. Aber wenn sie die Kerle zuerst umbringen ließ, wäre Ruppert gewarnt. Das wollte sie nicht riskieren.

Sie sah Hiltrud in ihrem neuen Kleid neben ihrem Wagen stehen und eifrig auf Thomas einreden. Anders als nach den vorherigen Überwinterungen glänzten ihre Wangen, und sie wirkte wohlgenährt. Vom Standpunkt einer Wanderhure aus hatte sich dieser Winter gelohnt. Sie besaßen neue Kleider, Mäntel und einige andere Wäschestücke, und sie hatten weder die Miete für eine Hütte noch Geld für Lebensmittel ausgeben müssen. Stattdessen hatten sie einige höchst angenehme Monate verbracht und dabei noch gut verdient. Mehr konnten Frauen ihres Standes wirklich nicht verlangen.

»Können wir aufbrechen?« Hiltruds Frage riss Marie aus ihren Gedanken.

»Ich bin bereit. Wie steht es mit dir?«

»Ich habe mich von Thomas verabschiedet.« Hiltrud täuschte eine Gelassenheit vor, die von ihren verräterisch feuchten Augen Lügen gestraft wurde. Da sie jedoch keine andere Wahl hatten, als auf die staubigen Straßen zurückzukehren, ging Marie nicht darauf ein. Hiltrud musste mit ihrem Kummer genauso fertig werden wie sie mit ihrer inneren Zerrissenheit.

Als sie das Tor in der äußeren Mauer erreichten, sah Marie Hiltrud fragend an. »Hast du eine Ahnung, wohin wir uns wenden können? Allzu lange sollten wir nicht alleine weiterziehen.«

»Wir gehen als Erstes nach St. Marien am Stein. Das ist nicht weit von hier, und dort findet, wie mir Thomas erzählt hat, am Palmsonntag eine Wallfahrt statt. Bei diesem Anlass finden wir gleich genügend Freier, um uns wieder an den Alltag zu gewöhnen.«

»Einverstanden. Dort werden wir bestimmt auch auf andere Frauen treffen, mit denen wir ohne Sorge weiterziehen können. Kennst du den Weg? Ich möchte möglichst nicht durch den Machtbereich des Keilburgers oder über Steinzeller Land ziehen.«

»Dann bleiben zwar nicht viele Straßen übrig«, spottete Hiltrud.

»Aber deine Angst ist nicht ganz unbegründet, denn Thomas hat Philipp von Steinzell ein paarmal in der Nähe von Arnstein herumlungern sehen. Der Bursche träumt wohl immer noch davon, dich zwischen den Schenkeln auszufüllen. Den Spaß werden wir ihm verderben.«

Hiltrud lachte übertrieben laut und trieb ihre Ziegen mit einem Zungenschnalzen an, die sich stärker ins Geschirr legten und fröhlich meckerten, während ihre drei Zicklein an den dünnen Leinen zerrten und wild herumsprangen, so als freuten sie sich auf den Frühling außerhalb der hohen Mauern.

Als sie am Torwächter vorbeikamen, winkte er und rief ihnen ein paar scherzhafte Worte zu. Hiltrud ging darauf ein und brachte ihn zum Lachen, ihre Stimme klang jedoch nicht so heiter wie ihre Worte, und ihr Gesicht verzog sich, als wollte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Jetzt, wo sie die Burg endgültig verließen, schien der Trennungsschmerz heftiger in ihr zu wühlen. Doch im Gegensatz zu Marie sah sie, während sie dem Serpentinenweg ins Tal folgten, kein einziges Mal zurück. Marie überlegte, ob sie Hiltrud auf Thomas aufmerksam machen sollte, der zwischen den Zinnen auf einem der Türme stand und ihnen nachwinkte. Doch die Freundin starrte mit so verbissenem Gesicht nach vorne, als fürchte sie, sie würde bei einem Blick über ihre Schulter zur Salzsäule erstarren wie einst Lots Weib.

So verließ sie das Tal, ohne Arnstein einen letzten Blick zu schenken. Thomas aber stieg erst von seinem Aussichtsposten herab, als die beiden Frauen längst zwischen den Bäumen des jenseitigen Talrands untergetaucht waren. Mit hängenden Schultern kehrte er in seinen Ziegenstall zurück, um den Tieren sein Leid zu klagen.

Die Wanderhure
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