Könnte alles Täuschung sein?

Auch Descartes hat sich gefragt, ob die Welt so ist, wie wir sie erleben. «Cogito ergo sum» ist vermutlich der am häufigsten auf T-Shirts gedruckte Ausspruch eines Philosophen und auch der am häufigsten falsch verstandene. «Ich denke, also bin ich» klingt so, als hätte Descartes damit nur sagen wollen, dass die Essenz des Menschseins im Denken bestünde, etwa im Kontrast zu gedankenlosen Tieren. Diese These vertrat er zwar, aber tatsächlich ging es ihm an dieser Stelle um unbezweifelbares Wissen. Besser wäre gewesen, hätte er von Anfang an «dubio ergo sum» gesagt: Ich zweifle, also bin ich.

Descartes fragt sich, wann wir wirklich sicher sein können, dass wir uns nicht irren. Dazu führte er den sogenannten radikalen Zweifel ein. Nehmen wir einmal an, ein höheres Wesen, ein böser Dämon, würde uns die ganze Welt nur vorgaukeln. Alles, was wir sähen und hörten, wäre in Wirklichkeit eine Illusion. Alles, was wir über die Welt zu wissen glaubten, in Wirklichkeit ein Irrtum.

Weil Descartes zufolge ein solcher Täuscher denkbar ist, kann ich an allem zweifeln – mit einer Ausnahme: Meine Täuschung setzt schon mich als Getäuschten voraus. Das «ich denke» sei daher das unbezweifelbare Fundament des Wissens. Um getäuscht zu werden, muss ich schon denken können.

 

Schon wieder Kino: Ein paar Jahrhunderte später, im Jahr 1999, verfilmten Andrew und Lana (vormals Laurence) Wachowski Descartes’ Zweifel und Platons Höhlengleichnis erfolgreich unter dem Titel The Matrix. Der Programmierer Neo hatte schon immer die Ahnung, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Eines Tages erscheint auf seinem Computerbildschirm die Nachricht «Folge dem weißen Kaninchen!», das er kurz darauf auf der Schulter einer Frau erblickt, die ihn zu Morpheus führt. Morpheus sagt: «Die Welt wurde über deine Augen gezogen, um dich blind zu machen für die Wahrheit.» Und weiter: «Du bist ein Sklave», in «Fesseln» im «Gefängnis deines Geistes». Neo schluckt die rote Pille und wacht in einem mit Flüssigkeit gefüllten Tank auf, aufgereiht neben Tausenden anderer Menschen. Das Computerprogramm Matrix täuscht wie der böse Dämon all diesen Menschen eine gemeinsame Realität vor. Sie glauben, im Jahr 1999 zu leben. Tatsächlich liegen sie in Behältern mit Nährlösungen in einer fernen Zukunft.

Die Idee eines Menschen im Ernährungstank stammt aus der Feder des amerikanischen Philosophen Hilary Putnam, der in einem Gedankenexperiment Descartes’ Idee des Täuschers kritisiert. Putnam argumentiert ungefähr so: Wir nehmen nur deshalb an, dass die Felsen vom Mount Rushmore die Köpfe von vier amerikanischen Präsidenten darstellen, weil wir wissen, dass sie nach ebendieser Vorlage in den Fels gehauen wurden. Beim «Marsgesicht» sagen wir etwas anderes: Es sieht bloß so aus, als ob es einen Kopf darstellt.

Nur wenn eine kausale Verbindung zu einem Objekt besteht, kann man überhaupt sagen, dass Skulpturen und Bilder dieses Objekt darstellen oder Sätze darüber etwas aussagen. Würde aber jemand in einem Tank mit Nährflüssigkeit liegen, könnte er gar keine Eindrücke von Autos, Häusern oder Menschen in eleganten schwarzen Anzügen haben, geschweige denn Gedanken darüber, weil er niemals in Kontakt mit ihnen war. Das Wort «Sonnenbrille» wäre bedeutungslos, der Gedanke «Ich kann Kung Fu» inhaltsleer. Radikale Täuschung ist Putnam zufolge also unmöglich. Diesen Ansatz nennt man Externalismus, weil er betont, dass für unsere Gedanken und Überzeugungen die Verursachung von außen notwendig ist.

Man kann Putnams Einwand noch präziser formulieren: Jede Illusion setzt schon eine Wirklichkeit voraus. Nur weil im Film The Matrix die bösen Maschinen einmal in Kontakt mit Sonnenbrillen und dunklen Anzügen waren, konnten sie diese später in einem Programm imitieren. In der kausalen Kette zwischen den Objekten der echten Welt und der Simulation dieser Objekte in der Matrix stellen die Maschinen also das Bindeglied dar.

 

Diesen Punkt übersehen auch die Anhänger des Radikalen Konstruktivismus, die behaupten, unser Gehirn nehme lediglich «Eigenbeschreibungen» vor, weshalb die Realität eine bloße «Konstruktion» sei – eine These, die sowohl in der Neuro- als auch in der Kulturwissenschaft Zuspruch findet. Manchmal klingt das so, als sei mit «Konstruktion» gemeint, dass gar nichts außer dem eigenen Bewusstsein existieren würde. Diese schräge Auffassung nennt man traditionell Solipsismus. Den Solipsisten kann man nicht widerlegen, allenfalls im Irrenhaus kurieren, wie Schopenhauer einmal bemerkte. Man fragt sich allerdings sofort, ob wenigstens die Gehirne existieren, von denen die Konstruktionen ausgehen.

Wie viele vor ihnen verwechseln auch die Konstruktivisten Wahrnehmungserlebnisse mit Überzeugungen. Ganz gleich, ob wir die Welt auch ganz anders «sehen» können, in der Theorie des Wissens geht es um den Inhalt von Aussagen und Überzeugungen. Elektronen beispielsweise sind negativ geladen, ganz gleich, ob wir sie nun sehen oder nicht. Ein Farbenblinder sieht die Welt anders als ich, aber wir können beide denken, dass es regnet. Ebenso können wir auf mehreren Wegen zu der Überzeugung kommen, dass Deutschland eine Demokratie ist: indem wir es hören, geschrieben sehen oder gar über die Braille-Schrift erfühlen. Aber dadurch konstruieren wir diese Tatsache nicht. Sie besteht ja gerade unabhängig vom Modus der Wahrnehmung.

Sehen mit Wissen zu identifizieren geht ebenfalls auf Platon zurück. Er behauptet, dass es Wahrheiten jenseits der Sprache gibt: Der Philosoph müsse die Ideen «schauen», die unaussprechlich sind. Im Christentum ist das Thema der Unsagbarkeit allgegenwärtig. Im Korintherbrief heißt es: «Wir sehen die Welt jetzt durch einen Spiegel, doch dann von Angesicht zu Angesicht.» Auch Heidegger behauptet, über das «Sein» könne man nicht sprechen, es müsse sich uns «zeigen». Selbst der chinesische Gelehrte Laotse schreibt, das ewige Tao-de-King sei nicht «sagbar», man müsse dessen «Geheimnisse» erblicken.

Auch Morpheus sagt zu Neo: «Die Matrix kann man niemandem beschreiben. Du musst es selbst sehen.» Doch wenn das wirklich stimmte, dann hätte auch niemand das Drehbuch verfassen können, denn darin steht, was die Matrix ist und wie die wirkliche Welt aussieht. Oft steckt nicht viel hinter der Rede von «unausdrückbaren Wahrheiten».

«Wirkliche Welt» ist übrigens das Stichwort: Jede Scheinwelt setzt eine Wirklichkeit voraus, in der sie produziert wird. Neos Welt aus dem Jahr 1999 gibt es nicht. Er liegt verkabelt in einem Ernährungstank – doch den gibt es dann wirklich. Man kann Putnams Gedankenexperiment also auch umdrehen. Mit all meinen Erlebnissen und Gedanken sind mindestens zwei Welten vereinbar: In einer lebe ich wirklich in Berlin. In einer anderen bin ich an eine Computersimulation angeschlossen und bilde mir nur ein, dass ich in Berlin lebe. Was ist plausibler? Solange mir kein Typ mit Sonnenbrille und langem Ledermantel am Kottbusser Tor eine rote Pille anbietet, ist die einfachste Erklärung die beste: Ich lebe in Berlin.

Folge dem weißen Kaninchen
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