Absurd, mysteriös, erstaunlich

Wir sind in diese Welt gestolpert und müssen das Beste draus machen. Unser Leben hat einen Sinn für uns: «Sinn» im Sinn von Bedeutung. Vielen reicht es nicht, glücklich und zufrieden zu sein, sie wollen auch etwas leisten. Doch wozu? Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman meint: «Damit das Spiel der Kräfte weitergeht und du deinen Vers dazu beitragen wirst.» Doch ist das wirklich der Antrieb? Und was kümmert die Kräfte, was ich tue?

Wir können unserem eigenen Leben einen Sinn verleihen, doch wie sieht es mit dem Sinn des Ganzen aus? «Sinn» als «Zweck» scheint nicht auf natürliche Dinge anwendbar: Bäume, Kometen, das Leben und schon gar nicht das Universum. Hier ist tatsächlich der Vorwurf der Begriffsverwirrung angebracht: Wir schauen aus einem zu menschlichen Blickwinkel auf das Universum, wenn wir annehmen, es sei zu einem Zweck geschaffen wie ein Toaster. In seinem Werk Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert drückt Nietzsche das so aus: «Wir haben den Begriff «Zweck» erfunden: in der Realität fehlt der Zweck … es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen … Aber es gibt nichts außer dem Ganzen

Dem Weltall fehlen Zweck und Bedeutung. Diese Erkenntnis schlägt auf unser Leben zurück. Nichts, was wir heute tun, hat in Millionen von Jahren noch irgendeine Relevanz. Weltraum und Weltzeit sind einfach ein viel zu großer Maßstab. Unser kleines Leben erscheint uns bedeutend und ist doch bedeutungslos im Großen und Ganzen. Nagel nennt dieses Phänomen das Absurde. Damit nimmt er einen Gedanken auf, den der Literaturnobelpreisträger Camus in seinem Mythos des Sisyphos geschildert hat, allerdings mit einem etwas anderen Akzent. Camus meint, wir suchen Sinn in einer Welt, die sinnlos ist, weil es Gott nicht gibt. Symbolisch dafür steht die antike Sagenfigur Sisyphos, der in der Unterwelt als Strafe für einen Verrat an den Göttern einen Stein auf einen Berg wuchten muss. Kurz vorm Gipfel rollt er mit Donnergepolter hinunter. Wie Sisyphos müssen auch wir Menschen die Absurdität unserer Existenz erkennen. Warum wählen wir dann nicht gleich den Freitod? Camus zufolge ist der Freitod das einzige «wirklich ernste» Problem der Philosophie. Er meint, wir müssten die Absurdität erkennen und als gegeben akzeptieren: Die leidenschaftliche und doch illusionslose Bejahung des Lebens sei der schieren Verzweiflung des Freitods vorzuziehen. Camus nennt diese Haltung etwas eigenwillig die Revolte gegen die Absurdität der Existenz. David Hume, der Philosoph der englischen Aufklärung, hat übrigens schon lange zuvor das Absurde auf den Punkt gebracht: «Das Leben eines Menschen hat für das Universum keine größere Bedeutung als das einer Auster.» Helge Schneider formuliert diesen Gedanken als rhetorische Frage: «Was heißt das eigentlich: Leben … Ist der Mensch mehr wert wie der Wurm, wie die Amöbe, das Geschnätz, die Suppe?» Schneiders Annäherung an das Thema ist ganz auf Nagels Linie. Nagel betont, dass wir dem Absurden nicht mit Gelassenheit begegnen sollten, sondern mit Humor und Ironie.

 

Welche Strategie wir auch wählen: Aus der Erkenntnis, dass die eigene Existenz absurd ist, kann die positive Haltung dem Leben gegenüber folgen, aber ebenso die negative. Wir changieren oft merkwürdig zwischen beiden. Wenn unsere Gedanken weit ins Weltall hinauswandern, können wir uns so winzig vorkommen, dass uns angst und bange wird. Gleichzeitig spüren wir eine Faszination gegenüber dem Ganzen und schöpfen eine ungeheure Stärke: Warum sich um Kleinigkeiten Sorgen machen, wenn die Galaxien noch in Äonen glühen werden? Die englische Komikergruppe Monty Python zeigt in ihrem Film Der Sinn des Lebens aus dem Jahr 1983, wie eine Hausfrau verzweifelt, weil ihrem Ehemann gerade bei lebendigem Leib die Leber entnommen wurde. Plötzlich steigt ein Mann aus dem Kühlschrank und singt den Galaxy Song. Dessen Botschaft lautet: Wenn das Leben dir übel mitspielt, denk daran, wie viele Millionen Galaxien es im Weltall gibt. Wie unwahrscheinlich und großartig ist daher deine Existenz.

Und wie seltsam – könnte man hinzufügen. Leibniz meint, die Frage sei, warum es eher etwas als nichts gibt. Wittgenstein drückt das so aus: «Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.» Wir können über diese Tatsache nachdenken, sie aber nicht so richtig erfassen. Und doch verspüren wir etwas, nämlich das, was Kant die Erhabenheit nennt: Als kleine Menschen empfinden wir im Angesicht der großen Naturkräfte einen Anflug von Furcht und Schaudern, gemischt mit Wohlgefallen. Kant stellt fest: «Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.»

Im Wunderland sagt Alice, noch ganz benommen vom ständigen Schrumpfen und Wachsen: «Ich wollte fast, ich wäre nicht in das Kaninchenloch gefallen – und doch – es ist schon merkwürdig, dieses Leben hier!» So wie das Wunderland für Alice erscheint uns manchmal die Wirklichkeit «merkwürdig und merkwürdiger»: Wir wissen nicht, was das alles soll, und staunen.

Wir sind endlich und wollten doch, wir wären ewig jung und glücklich. Kein Argument kann uns dann davon überzeugen, dass der Tod bedeutungslos oder gar wünschenswert ist. Im großen kalten All machen Ironie, Humor und vielleicht sogar Gelassenheit unsere Existenz erträglich, jedenfalls für den kurzen Augenblick, der uns wie eine Ewigkeit vorkommt.

Einmal war eine Konferenz über die Philosophie des Todes auf einem E-Mail-Verteiler angekündigt. Bei der Bewerbungsfrist stand: «deadline extended». Das lässt aufatmen. Doch nur für einen träumerischen Moment. Denn das Ende ist uns allen gewiss.

 

 

— Ende —

Folge dem weißen Kaninchen
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