Der Schlaf der Vernunft gebiert ungeheuren Unsinn

Waren Sie schon einmal ganzkörpergelähmt? Oder haben Sie schon einmal unter psychotischen Halluzinationen gelitten? Bereits die Vorstellung ist für viele von uns so schrecklich, dass wir diese Fragen spontan verneinen. Dabei passiert es jede Nacht, und zwar gleich mehrmals.

Im Schlaf gehen wir in rhythmischer Wiederkehr durch verschiedene Stadien, die man in drei Gruppen einteilen kann. In der Einschlafphase wiederholt man die Bewegungsabläufe des Tages, besonders wenn man etwas Ungewohntes getan hat. Viele, die schon einmal Skilaufen waren oder ein neues Computerspiel ausprobiert haben, kennen diese Erlebnisse gut: Kurz vor dem Einnicken, wenn die Kontrolle langsam entgleitet, zieht man virtuelle Schwünge durch den Tiefschnee oder dreht geometrische Blöcke so lange im Geiste, bis sie in die Lücken passen.

Nach dieser Phase beginnt der Hauptteil des Schlafes, der sich in die aufregenden REM-Phasen und die ruhigen Non-REM-Phasen aufteilt, also solche ohne Augenbewegung oder pochenden Puls. Zunächst dachte man, der Geist trete nur während des REM-Schlafes in Aktion. Doch mittlerweile ist bekannt, dass er nie Ruhe findet. In den anderen Phasen träumen wir auch, allerdings selten bildhaft. Hier herrschen Gefühle und Gedanken vor. Die Gedankengänge verlaufen zwar meist gradlinig, allerdings können sie auch zwanghaft sein.

Besonders in der REM-Phase durchleben wir die typischen Träume. Sie machen etwa 20 Prozent der gesamten Schlafphase aus. Fast alle Muskeln sind dabei gelähmt. Das erklärt, warum wir im Schlaf nicht mit den Beinen zappeln, auch wenn wir davon träumen, Fußball zu spielen. Bei Menschen, die an der seltenen REM-Schlafstörung leiden, ist die Muskellähmung jedoch aufgehoben. Sobald sie davon träumen, einen Spaziergang zu machen, bewegen sie den ganzen Körper im Takt dazu. In harmlosen Fällen fallen sie dabei nur aus dem Bett. Ernst wird es, wenn sie im Traum einen Boxkampf austragen, besonders für den Partner auf der anderen Seite.

Nicht nur die Ganzkörperlähmung ist charakteristisch. Der weltweit führende Traumforscher, der Harvardpsychologe Allan Hobson, vergleicht Traumerlebnisse mit psychotischen Halluzinationen, also mit wahrnehmungsartigen Erlebnissen von etwas, das nicht existiert. Während Schizophrene eher akustische Halluzinationen haben, herrschen bei Träumen die visuellen vor. Darin ähneln sie am ehesten dem Drogendelirium oder dem Fieberwahn. Hören, Schmecken und Riechen treten deutlich seltener auf. Besonders die Körperwahrnehmung ist verzerrt. Manchmal gleitet man durch die Luft, ein anderes Mal fühlt man sich wie am Boden festgeklebt. Zudem sind Träume von starken Gefühlen begleitet: Angst, Freude, Lust und Aggression.

Kant hat in seiner Schrift Versuch über die Krankheiten des Kopfes gesagt: «Der Verrückte ist also ein Träumer im Wachen.» Wenn man Hobson folgt, könnte man den Umkehrschluss ziehen: «Der Gesunde ist ein Spinner im Traum.» Denn wir erleben Träume nicht nur als punktuelle Halluzinationen, sondern als eigenartige ausgedehnte Geschichten. Viele sagen, sie hätten «Quatsch» oder «Unsinn» geträumt, als bestünde die Alternative in realistischen, sinnvollen Träumen. Bei näherer Betrachtung liegen viele Trauminhalte jenseits von Logik und Alltagserfahrung: Erst wandert man mühsam einen unwegsamen Gebirgspfad entlang, und plötzlich balanciert man auf wackligen Tischen in einem Klassenzimmer. Äußerst selten jedoch kommt uns das komisch vor. Wir wundern uns auch nicht, dass die nette Rentnerin von nebenan plötzlich so aussieht wie Romy Schneider und trotz Gesichtswechsel dieselbe Person bleibt.

Folge dem weißen Kaninchen
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