Freiheit durch Zufall?
Der Staatsanwalt Harvey Dent, eine Figur aus der Comicreihe Batman, wird Opfer eines Säureanschlags und hat deshalb eine entstellte Gesichtshälfte. Das Attentat entzweit aber nicht nur seine Gesichtszüge, sondern auch seine Persönlichkeit. Harvey Dent verwandelt sich zu dem Charakter «Two-Face», also Doppelgesicht, in dem ein Dr. Jekyll und ein Mr. Hyde sozusagen nebeneinander existieren. Bei jeder Entscheidung wirft er eine Münze. Ist der polierte Kopf oben, folgt er seiner guten Hälfte, beim durchgekreuzten Kopf der bösen. Offenbar ist Doppelgesicht nicht frei in seinen Handlungen, denn wer wie er seine Entscheidungen vom Zufall abhängig macht, handelt ja nicht selbst, sondern lässt gleichsam die Welt für sich entscheiden.
Der Zufall macht nicht frei. Genau das werfen Kritiker den Freiheitsfreunden vor: Wer den Determinismus leugne, müsse sich auf den Zufall berufen, um die Freiheit zu retten. Aber damit sei man keinen Deut besser gestellt: Wären alle unsere Taten die Folge bloßen Münzenwerfens, dann könnten wir niemandem je eine Handlung zurechnen. In einer Welt, in der der Zufall regiert, ist man genauso unfrei wie in einer, in der alles aus Notwendigkeit passiert.
Einige Freiheitsfreunde haben sich tatsächlich auf diesen Einwand eingelassen. Der englische Mathematiker und Physiker Roger Penrose beruft sich auf die Quantenphysik, um die Freiheit zu retten. Er dreht den Vorwurf einfach um: Der Zufall rette die Freiheit. Das Argument lautet ungefähr so: Wir alle sind nach dem Lego-Prinzip aus Elementarteilchen zusammengesetzt, die laut Quantenphysik keinen festen Ort haben, sondern sich nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit an genau einer Stelle befinden. Penrose argumentiert so weiter: Wenn im Kleinen nichts ganz genau festgelegt ist, dann ist auch im Großen nichts genau festgelegt, also ist die Freiheit gerettet.
Der Gedankengang ist nicht ganz neu. Schon der antike griechische Philosoph Epikur glaubte, dass die Atombahnen minimale Abweichungen zuließen. Penrose hat einfach die wissenschaftliche Version dieses Erklärungsmusters geliefert. Doch so eindrucksvoll das auch klingen mag, es gründet leider auf einem Trugschluss. Schon Jahrzehnte zuvor hat der Physiknobelpreisträger Erwin Schrödinger eine Kritik an Penrose vorweggenommen. Er fragte, wie es der menschliche Geist denn schaffen solle, seine Wirksamkeit gerade in diesen kleinen Lücken zu platzieren. Zufälle, Ungenauigkeiten, Unschärfe auf der Mikroebene geben einer Person ja nicht plötzlich eine Wahlmöglichkeit. Anders ausgedrückt: Wenn jede Quantenungenauigkeit im Kleinen so etwas wie der Münzwurf von Doppelgesicht wäre, würde das nichts mit der ganzen Person zu tun haben, die tatsächlich handelt. Schon gar nicht würde der Mikromünzwurf der Person helfen, frei zu sein, denn wie gesagt: Wer ausschließlich von Uneindeutigkeiten oder vom Zufall gelenkt wird, ist überhaupt kein handelndes Wesen, sondern eher wie eine Polle, die vom Wind durch die Luft gewirbelt wird, oder wie ein Tischtennisball, den die Wellen im Meer tanzen lassen.
Wer den Zufall in den Vordergrund rückt, widerspricht unserer moralischen Auffassung von Schuld und Verantwortung. Die Figur Doppelgesicht ist eben nicht halb gut und halb böse, wie es im Comic manchmal suggeriert wird, sondern böse, denn wer seine Entscheidungen nicht von seinen eigenen Gründen abhängig macht, sondern vom Münzwurf, dem ist das Wohlergehen anderer vollkommen egal. So ein Verhalten würden wir jedem vorwerfen. Mehr noch: Würde jeder nach Zufall entscheiden, könnte man überhaupt nicht mehr planen, denn man könnte sich auf niemanden mehr verlassen. Eine Welt mit Doppelgesichtigen wäre eine Welt voller Chaos und Anarchie.
Das Problem liegt auf der Hand: Das Gegenteil des Determinismus ist der Indeterminismus, aber der Indeterminismus ist nicht dasselbe wie der blanke Zufall. Deshalb müssen sich die Freiheitsfreunde nicht gegen den Vorwurf verteidigen, in einer indeterministischen Welt herrsche das Chaos. Und schon gar nicht kann man den Zufall zur Verteidigung der Freiheit bemühen, denn der macht die Sache nicht besser. Nach allem, was wir wissen, ist unsere Welt weder deterministisch noch chaotisch, sondern sie ist relativ geordnet, ohne dabei alternativlos festgelegt zu sein. Der Weltlauf lässt Verzweigungen zu, ist dabei aber so gleichförmig, dass auf unserer Erde Leben entstehen konnte und wir weit in die Zukunft hinein planen können. Ordnung ist die Mittelposition zwischen strenger Notwendigkeit und bloßem Zufall.