Ist alles festgelegt?
Die Freiheitsfreunde sind davon überzeugt, dass wir frei sind. Man nennt sie auch Libertarier, nach dem Lateinischen «liber» für «frei». Da ihrer Meinung nach nur der Determinismus der Freiheit entgegensteht, müssen sie zeigen, dass der Weltlauf nicht festgelegt ist. Das ist nicht ganz leicht, denn der Determinismus ist nicht direkt nachweisbar oder widerlegbar, da es sich um eine metaphysische These handelt. Mit «Metaphysik» ist nichts Übersinnliches oder Unwissenschaftliches gemeint, sondern derjenige Teil der Philosophie, in dem es um die allgemeinste Natur der Welt geht, beispielsweise um Raum und Zeit. Metaphysische Thesen kann man nicht mit empirischen Methoden, also Beobachtungen und Experimenten, stützen. Wir können also niemals wissen, ob wirklich alles festgelegt ist, aber wir können uns fragen, welche Naturgesetze überhaupt für eine solche Annahme sprechen würden.
Dazu muss man sich zunächst im Klaren darüber sein, was Naturgesetze sind. Der Ausdruck «Gesetz» suggeriert, dass es sich um eine Vorschrift handelt. Diese vermenschlichte Sicht von Gesetzen hat selbst Newton noch vertreten: Wie der Mensch Gesetze verabschiede, die anderen Menschen vorschreiben, was sie zu tun haben, so erlasse Gott die Naturgesetze, die der Natur vorschreiben, wie sie sich verhalten soll. Tatsächlich sind Naturgesetze jedoch ganz anders als juristische Gesetze. Es sind unsere Beschreibungen und Verallgemeinerungen über Kräfte und gleichförmige Abläufe in der Welt. Sie sagen, wie die Natur sich verhält, aber nicht, wie sie sich verhalten soll. Naturgesetze legen den Lauf der Welt nicht buchstäblich fest. Der Weltlauf ist, wie er ist. Wir versuchen bloß, ihn mit Hilfe von Verallgemeinerungen zu verstehen. Daher kann man Naturgesetze auch niemals brechen. Man kann allenfalls beim Aufstellen der Gesetze Fehler machen.
Die amerikanische Philosophin Nancy Cartwright ist eine der prominentesten Kritikerinnen der deterministischen Auffassung von Naturgesetzen. Sie argumentiert so: Wir haben nur dann Grund, den Determinismus anzunehmen, wenn wir jedenfalls im Prinzip Naturgesetze finden könnten, die exakt sagen, was tatsächlich im Universum passiert, zu jedem Zeitpunkt an jeder Stelle. Wenn also die perfekte Physik der Zukunft Gesetze finden könnte, die denen eines Laplace’schen Dämons sehr nahe kommen. Aber, so fährt Cartwright fort, keines der bekannten physikalischen Gesetze erfüllt all diese Bedingungen. Wenn aber die Gesetze der Physik schon nicht für den Determinismus sprechen, dann spricht nichts dafür, denn noch genauere Gesetze gebe es nicht. Die Annahme eines Determinismus sei reines Wunschdenken einiger Naturwissenschaftler und Philosophen.
Warum ist das so? Der Laplace’sche Dämon benötigt Gesetze, die wahr sind, keine Ausnahmen zulassen und etwas über den tatsächlichen Weltlauf sagen. Cartwright zeigt, dass keines der bisher bekannten Gesetze der Physik alle drei Bedingungen zugleich erfüllt. Die meisten Gesetze sagen nur etwas über das Verhältnis von universellen Größen wie «Kraft ist Masse mal Beschleunigung», «Stromstärke ist Spannung durch Widerstand» oder «E = mc²», also «Energie ist Masse mal die Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat». Aber dann betreffen sie nicht den tatsächlichen Verlauf der Welt: Sie handeln ja nicht davon, was an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert.
Oder Gesetze sagen etwas über ideale Zustände, beispielsweise über den reibungslosen Fall. Aber auch dann handeln sie nicht vom tatsächlichen Weltlauf: Sie gelten ja nur in einem Gedankenmodell. Wenn es dann wirklich einmal um regelmäßige Abläufe in der Welt geht wie: «Alle Dinge fallen zu Boden», ist klar, dass man sie stören kann: Das weiß jeder, der schon einmal einen Ball gefangen hat. Aber dann sind die Gesetze nicht exakt, also ausnahmslos: Sie gelten ja nur, solange nichts dazwischenkommt oder nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Der Determinismus allerdings verlangt absolute Präzision. Einschränkungen dieser Art darf es nicht geben.
Cartwright schließt daraus, dass die Naturgesetze nicht zugleich wahr und ausnahmslos gültig sind, und dazu noch etwas über unsere Welt aussagen. Solche Gesetze braucht der Determinismus aber, um anzunehmen, dass alles aus Notwendigkeit geschieht. Wenn wir diese Gesetze nicht finden können, dann haben wir einen guten Hinweis, dass auch der Weltlauf nicht unausweichlich festgelegt ist.
Die Gegner der Freiheitsfreunde halten den Determinismus für wahr und deshalb die Menschen für unfrei. Auf den ersten Blick schien die Freiheitsannahme die gewagtere These zu sein. Cartwrights Einwände sind aber so gewichtig, dass sie das Verhältnis umdrehen. Ihr amerikanischer Kollege Patrick Suppes drückt das so aus: Handlungsfreiheit ist die Tatsache, die Annahme des Determinismus hingegen die wilde Spekulation. Mit der Kritik am Determinismus leugnet man natürlich nicht das Kausalprinzip, das sagt: Jedes Ereignis hat eine Ursache. Man stellt nur die stärkere Behauptung in Frage, nämlich dass jedes Ereignis durch seine Ursache zwingend festgelegt ist.
Da Freiheitsfreunde wie Suppes den Determinismus für falsch halten, glauben sie auch, dass unserer Freiheit nichts im Wege steht. Aber was ist eigentlich die Alternative zum Determinismus?