Verbrechen und Strafe

Dass einige Neurowissenschaftler die Freiheitsdebatte nicht genau kennen, wäre ja nicht so schlimm, wenn sie nicht auch noch eine Reform des Strafrechts fordern würden: Man solle nicht mehr bestrafen, schließlich sei ja niemand für seine Taten verantwortlich. Dennoch müsse man Verhalten regulieren, damit jeder in Frieden leben könne. Das sind die Thesen. Man kann sich mit guten Gründen über die Funktion von Strafe streiten, aber schon die Forderung nach Regulation setzt die Freiheit desjenigen voraus, der jemand anders regulieren will.

Wenn man Moral und Recht unbedingt reformieren will, dann eher umgekehrt. Wer Handlungen genauer studiert, merkt, dass wir in viel mehr Situationen verantwortlich sind, als unsere Alltagsmoral und unser Strafrecht vorsehen. Viele Menschen verteidigen sich damit, dass sie nicht anders konnten, meinen aber in Wirklichkeit, dass sie nicht anders wollten. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie hängen mit beiden Armen an einer Stange. Am Anfang können Sie sich gut festhalten, aber irgendwann kommt der Punkt, an dem es so weh tut, dass Sie sich nicht mehr festhalten wollen. Unter normalen Umständen würden Sie jetzt loslassen. Aber stellen Sie sich vor, Sie hängen über einem Abgrund. Dann würden Sie bis zuletzt Ihren Schmerzen trotzen. Doch unausweichlich würde irgendwann der Moment kommen, wo Sie sich wirklich nicht mehr halten können.

Man kann dieses Beispiel leicht auf Straftäter übertragen, die sagen, dass sie ihre Aggression oder ihre pädophilen Neigungen nicht hätten stoppen können. Oft meinen sie damit den ersten Moment, wo sie nicht mehr halten wollten, und nicht den zweiten, wo sie wirklich nicht mehr konnten. Kant hat sich für diese Fälle den etwas makabren Galgentest ausgedacht. Man stelle sich vor, jeder würde für seine abgrundtief bösen Taten sofort mit dem Galgen bestraft werden. Wer jemanden ermordet, spürt in der nächsten Sekunde schon die Schlinge um den Hals. Wenn jemand sich auch dadurch nicht von seiner Tat abbringen ließe, dann konnte er wirklich nicht anders. So etwas mag es geben. Aber in den meisten Fällen können die Täter anders, wollen es aber nicht und setzen darauf, nicht erwischt zu werden, denn die Strafe folgt ja nicht immer auf dem Fuße. An den Gewaltverbrechen an Kindern in den vergangenen Jahren zeigt sich: In vielen Fällen haben die Täter ihre Taten geplant, gründlich vorbereitet, dabei umsichtig gehandelt und ihre Spuren zu verwischen versucht. Das spricht dafür, dass sie rational und im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte waren, also in jedem Moment von ihrer Tat hätten zurücktreten können. Sie mögen zwar von einem mächtigen Trieb gesteuert gewesen sein, waren aber eben nicht komplett ferngesteuert. Auch im Alltag sind wir viel öfter für unsere Taten verantwortlich, als wir wahrhaben wollen. Wir haben uns bloß daran gewöhnt, dass man sich herausreden kann.

Unsere Freiheit ist Segen und Fluch zugleich. Wir können tun, was wir wollen, aber wir haben auch die Verantwortung, an uns zu arbeiten und die Nebeneffekte unserer Taten zu durchdenken, beispielsweise die Folgen von Koffeinmissbrauch für unsere Gesundheit. Dabei können wir gar nicht anders, als uns für etwas zu entscheiden, denn selbst wenn wir uns zurücklehnen und nichts tun, haben wir uns eben dafür entschieden. Das ist einer der wenigen Zwänge, den unsere Freiheit mit sich bringt. Hier ist noch einer: Als der polnisch-amerikanische Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer gefragt wurde: «Glauben Sie an die Willensfreiheit?», antwortete er: «Ich muss, ich habe keine Wahl.»

Folge dem weißen Kaninchen
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