KAPITEL 22
Der große rote Drache

An diesem Abend begleitete Mr Bonn Max
nicht zum Kolosseum, nur die Malakhim leisteten ihm Gesellschaft.
Max fragte sich, was die Arena wohl für ihn bereithielt. Er sah aus
dem Fenster und dachte darüber nach, wie gefährlich die Kämpfe
geworden waren. Er konnte sich nicht länger darauf verlassen, dass
er auf jeden Fall siegen würde.
Blys erstrahlte bereits hell, jeder Bezirk, von den
Ghettos bis hin zu den unteren Palästen, war von Lichtern
durchflutet und von Hunderten von Zuschauern, die an der Atmosphäre
teilhaben wollten, die die bevorstehenden Endkämpfe des Turniers
umgab. Max entdeckte ein mehrere Stockwerke langes Banner, auf dem
sein Bild – oder besser das von Bragha Rùn – aufgedruckt war. Beim
Anblick von Astaroths Wappen auf seiner Stirn wurde ihm beinahe
schlecht.
Nur noch ein klein wenig länger.
Schließlich bogen sie um eine Ecke und die Kutsche
begann ihren letzten Anstieg zum Palast und dem Eingang für die
Kämpfer. Hinter dem Tor brachten die Malakhim Max zu den wartenden
Zwergen in der Schmiede. Max ging auf
sie zu, in der Erwartung, dass ihm Sudri oder einer seiner
Gehilfen die Waffe reichte, die er benutzen sollte, wie es
normalerweise der Fall war.
Doch diesmal bedeuteten ihm die Zwerge durch Worte
und Gesten, dass Max unter dem Dutzend Waffen, die vor ihm
ausgebreitet waren, frei wählen konnte. Das Sortiment umfasste fast
alle Waffengattungen: eine schwere Stielaxt, ein stacheliger
Morgenstern und sogar ein Beidhänder, der genauso groß war wie er
selbst.
Warum solche Waffen?
Max bezweifelte, dass sie willkürlich ausgesucht
worden waren. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass sie mit
einem bläulichen Metall überzogen waren, das er noch nie gesehen
hatte. Es war nur spärlich eingesetzt worden, einzig an den Klingen
und Spitzen. Max nahm an, dass das Material sehr selten war und
außerordentlich wertvoll, und schloss daraus, dass die Verteidigung
seines Gegners schwer zu durchdringen war.
Max’ Blick blieb an einer Waffe hängen, die ein
Zwischending zwischen einem Schwert und einem Speer war. Sie war
groß und schwer und hatte eine etwa drei Fuß lange blattförmige
Klinge. Sie war geeignet.
Nach der Fahrt in dem Werkstattaufzug erwartete ihn
ein unbekannter blauhäutiger Gnom. Das geschäftige Wesen machte
sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, sondern führte Max rasch
durch den Gang in den leeren Warteraum. Dann verbeugte er sich und
verschwand und Max blieb allein in dem dunklen Raum mit den
blutbefleckten Fellen und den bizarren, unmenschlichen
Verzierungen. Es vergingen mehrere Minuten, bis Max die Stimme der
Sprecherin vernahm. Sie benutzte die Sprache der Dämonen, sodass
Max lediglich seinen Namen verstand, dem ein Aufbrüllen der Menge
folgte.
Stück für Stück glitt das Gatter nach oben.
Max spürte ein vertrautes Zucken in den
Fingern.
Max McDaniels packte den Speer fester, trat aus dem
Schatten und marschierte einmal mehr in die Arena ein, in der ihn
so viel Licht, Lärm und Schmerz erwartete.
Noch nie war er als Erster gerufen worden. Zuvor
hatten seine Gegner bereits in der Arena auf ihn gewartet und ihm
ein Ziel geboten, auf das er sich konzentrieren konnte. Doch jetzt
stand er allein in dem riesigen Raum vor den Augen und Erwartungen
von hunderttausend Zuschauern. Noch nie hatte er sich so allein
gefühlt. In seinem Magen machte sich mit dumpfem Knurren Nervosität
bemerkbar, als er auf das gegenüberliegende Gatter blickte. Lauerte
hinter diesen Gittern der Tod?
Max vertrieb die Gedanken und beschloss, durch
keine Geste oder seine Haltung auch nur eine Spur von Angst oder
Schwäche zu zeigen. Er fasste den Speer fester und stand so stolz
und hoch aufgerichtet da wie das Bild von Cúchulain, das er vor so
langer Zeit in dem Wandteppich gesehen hatte. Wenn das hier sein
Ende sein sollte, dann würde er ihm mit offenen Augen
entgegensehen.
Die Stimme der Sprecherin ertönte wieder. Max
bemühte sich, über das Geschrei der Zuschauer den Namen seines
Gegners zu vernehmen, und lauschte auf etwas, was wie Rùk
oder Myrmidon klang. Doch er konnte keinen der beiden Namen
heraushören. Stattdessen fand eine merkwürdige Wanderung statt –
die Zuschauer in den unteren Reihen verließen fluchtartig ihre
Sitze und drängten sich in die Gänge zwischen den oberen
Reihen.
Trotz der Unruhe auf den Rängen konzentrierte sich
Max weiter auf das Gatter gegenüber. Doch das bewegte sich nicht.
Stattdessen schob sich ein ganzer Wandabschnitt daneben beiseite
und enthüllte ein gähnendes schwarzes
Loch. Max starrte hinein und sah winzige blinkende Lichter, die
ihn fast an die Konstellationen in seinem alten Schlafzimmer in
Rowan erinnerten. Doch diese Lichter wurden rasend schnell größer,
als ob sie sich mit einem fahrenden Zug näherten.
Als der Grylmhoch in die Arena rauschte, erkannte
Max augenblicklich, dass seine Herkunft irgendwo anders lag, auf
einem fernen Planeten oder in einem anderen Universum oder der
Hölle.
Der erste Vergleich, der sich ihm aufdrängte, war
der mit einer riesigen Spinne, denn das Monster hatte in dem
Zentrum, das sein Gesicht hätte sein können, einen ganzen Haufen
Augen. Darunter waren schnappende Mäuler, die nach Belieben
auftauchten und verschwanden, als ob die Kreatur sie nach Wunsch in
ihrem wabernden, unbehaarten Fleisch erzeugen könnte.
Max erkannte, dass es sinnlos war, das Wesen mit
irgendetwas Irdischem zu vergleichen. Nichts an der Gestalt dieses
Monsters blieb konstant. Nicht einmal die einzelnen Phasen blieben
beständig, denn es gab Augenblicke, in denen der ungeheure Körper
flackerte und durchsichtig wurde, als ob irgendein Naturgesetz sich
gegen seine Anwesenheit in dieser Welt auflehnte.
In den kugelrunden Augen des Grylmhochs zeigte sich
kein Aufblitzen tierischer Intelligenz. Die Dutzenden von Augen
sahen sich starr in der Arena um.
Waren die furchtbare Größe und die blasse,
tintenfischartige Färbung des Monsters schon erschreckend, so
verbreiteten seine Bewegungen erst richtig Entsetzen. Der Grylmhoch
lief nicht, er glitt auf einer schleimigen Substanz, die er aus
seinem breiten Unterleib absonderte, über den Boden der Arena und
schob eine Welle von Sand vor sich her. Zwar verfügte er über jede
Menge Beine und Arme sowie
flossenartige Gliedmaßen, Tentakel und Scheinfüßchen, die reichten
jedoch allesamt nicht aus, um eine solche Masse vorwärtszubewegen.
Er schien besser an das Meer oder sogar den Weltraum angepasst zu
sein.
Max trat unwillkürlich einen Schritt zurück und
betrachtete seine Waffe.
Wie sollte ein einfacher Speer so einer
Kreatur überhaupt Schaden zufügen können?
Eines nach dem anderen richteten die kreiselnden
Augen ihren Blick auf ihn. Ein Schrei entwand sich einem der Mäuler
des Grylmhochs – der Schrei eines Afriten, eines Feuergeistes. Max
hatte diesen Schrei schon früher einmal gehört, als ein solcher
Afrit aus dem biologischen Museum der Frankfurter Werkstatt
ausgebrochen war.
Warum schrie der Grylmhoch wie ein
Afrit?
Das wurde bald klar.
Als das Wesen auf Max zuglitt, formte sich ein
weiteres Maul und stieß ein völlig anderes Geräusch aus, das wilde
Heulen eines unbekannten Wesens. Dieses Heulen verklang zu einem
seltsamen, unterschwelligen Summen, das in ein abstoßendes Kichern
überging.
Das Monster imitierte Geräusche, die es gehört
hatte. Waren es die nichtssagenden Echos früherer Opfer oder ein
seltsamer Versuch zu kommunizieren? Max erschauderte, als die
Missgeburt die Stimme einer Frau erklingen ließ.
»Schicken Sie schnell jemanden vorbei! Mein
Mann hat etwas Schreckliches getan!«
Die Menge johlte begeistert, weil Max sich nicht
vom Fleck rührte, sie erkannte nicht, dass er vor Schreck erstarrt
war. Während er stocksteif stehen blieb, bildete der Grylmhoch
einen fleischigen Tentakel und streckte diesen wie eine Sonde
langsam in seine Richtung. Das Anhängsel hielt vier oder fünf Fuß
vor seinem Gesicht an. Auf seiner Haut bildeten
sich blubbernde Beulen und Blasen. Zu Max’ Entsetzen erschufen sie
ein Maul, einen weichen Kreis blasigen Fleisches, das sich weiter
öffnete, als rasiermesserscharfe Zähne durch den Gaumen
stießen.
Vor Abscheu überwand Max seinen Schrecken und
schwang die Waffe.
Als die Klinge durch das Fleisch des Grylmhochs
glitt, fuhr ein elektrischer Stromstoß durch Max’ Arm. Die Klinge
durchtrennte den Scheinfuß mühelos und das abgehauene Ende fiel in
den Sand und schnappte mit dem Maul blindlings um sich, während
sich der Rest des Stumpfes langsam in den Körper des Monsters
zurückzog.
Schnell zog sich Max von dem abgetrennten,
schnappenden Maul vor seinen Füßen zurück. Wieder begann das
Fleisch zu pulsieren, und starr vor Angst sah Max, wie es sich in
eine etwa mannsgroße Version des Grylmhochs verwandelte, die sich
mit einem Schrei auf Max stürzte, der zur Seite sprang. Im gleichen
Moment schickte das große Monster weitere Füßchen zu ihm.
Die Menge schrie auf, als eines davon Max in die
Höhe hob. Das sich gerade erst bildende Maul presste sich auf sein
Handgelenk. Der Griff war unerwartet sanft, doch plötzlich
verspürte Max einen unwiderstehlichen Sog und augenblicklich
steckte sein Arm bis zur Schulter in wabbeligem, quellendem
Fleisch, das ihn stetig weiter in Richtung des mit Zähnen
bewaffneten Abgrunds zog, der sich in der Mitte des Monsters
bildete.
Mit der freien Hand packte Max den Speer und hackte
mit entsetzlicher Verzweiflung auf die Tentakel, die seinen anderen
Arm umfasst hielten. Für genaues Zielen hatte er keine Zeit, er
konnte nur hoffen, dass er sich nicht selbst verletzte.
Er verspürte einen weiteren elektrischen Schock und
hatte das Gefühl, zu fallen. Als er auf dem Boden der Arena
aufprallte, stellte er fest, dass er zwar noch beide Arme hatte,
dass jedoch einer davon immer noch in dem klebrigen, lebendigen
Fleisch des Grylmhochs steckte. Hektisch riss er an dem
gummiartigen Gewebe und warf eine Handvoll zuckendes Fleisch nach
der anderen von sich.
Der Grylmhoch jagte Max mit eiskalter Geduld von
einer Ecke der Arena in die nächste. Wie der Troll verfolgte er ihn
mit stumpfer Hartnäckigkeit, doch anders als dieser schien er nie
zu ermüden. Er bewegte sich nicht schneller als im Trab, nur dass
er dieses Tempo schier unendlich beibehalten konnte. Und während
der ganzen Jagd hörte er nicht auf, Schreie und panische Bitten in
einer Unmenge fremder Sprachen auszustoßen.
Und doch konnte sich Max nicht auf dieses
fleischfressende Ungetüm konzentrieren, denn er hatte noch vier
weitere Tentakel abgetrennt, die sich jeweils in Miniaturausgaben
des Monsters verwandelt hatten und ihn gemeinsam durch die Arena
jagten.
Je kleiner der Nachwuchs war, desto schneller war
er. Immer, wenn Max dem riesigen Ungeheuer entkommen konnte und ans
entgegengesetzte Ende der Arena floh, wurde er dort bereits von den
schnellen Nachkommen empfangen. Und in dem Bemühen, sich zu
verteidigen, zerteilte er die Dinger in immer kleinere Teile, die
wie hungrige Quallen nach ihm schnappten, während sich der
Grylmhoch ihm wieder langsam näherte.
Der Menge gefiel seine Angst. Noch nie war es in
der Arena so laut gewesen. Münzen und Blumen regneten herab, als
Max keuchend ans andere Ende rannte. Sein Helm war entsetzlich
bedrückend. Seine Lungen brannten. Verzweifelt nach Luft ringend,
ließ er sich an die Gitterstäbe des Gatters sinken. Nur ein oder
zwei Sekunden später vernahm er ein gieriges Quieken.
Als er sich umdrehte, sah er das kleinste und
schnellste Ding auf sich zukommen. Zu erschöpft für einen ganzen
Schlag, spießte Max es auf und das Gewicht des Speers presste das
zappelnde Ding zu Boden. Wieder spürte er den leisen Schock, als
die Waffe ihre elektrische Ladung abgab. Doch anstatt den Speer wie
zuvor sofort zurückzuziehen, ließ er ihn jetzt mehrere Stromstöße
abgeben. Schrecklicher Gestank wie von verbranntem Haar stieg ihm
in die Nase.
Der Ableger rührte sich nicht mehr.
Er hatte keine Zeit, sich zu wundern, denn gleich
darauf waren die anderen bei ihm. Max benutzte den Griff der Waffe
als Keule, mit der er die Wesen zurücktrieb und benommen machte,
bis er sie jeweils mit einer tödlichen Dosis Elektrizität töten
konnte. Nach fünf wütenden Minuten waren ihre leblosen Körper über
die Arena verteilt.
Doch trotz des momentanen Triumphes blieb immer
noch der Grylmhoch.
Erschöpft wie er war, stellte Max fest, dass ihn
das riesige Ungeheuer langsam einholte. Trotz seiner früheren
Schläge schien es völlig unversehrt. Keine Narben oder Stümpfe
zeigten sich auf seinem fleischigen blassen Körper. Immer noch
bildeten sich nach Belieben Augen und Mäuler darin, während es
durch die Arena glitt und Max verfolgte und unterwegs methodisch
seine leblosen Nachkommen aufsaugte und verschlang.
Offensichtlich konnte es ewig so weitermachen, Max
jedoch nicht.
Er stolperte in die Mitte der Arena, wandte sich um
und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. In den Rängen standen
viele Zuschauer auf, als erwarteten sie ein großes Finale. Im
Kolosseum wurde es still, als ob die Menge gemeinsam den Atem
anhielt. In den letzten beiden Monaten
hatten sie gesehen, wie Bragha Rùn Schilde und Schwerter
zerschmetterte, doch sein besonderer Reiz lag in der Möglichkeit,
dass er etwas tun konnte, was die Menge noch nie zuvor gesehen
hatte. Diese Momente waren ebenso unvorhersehbar wie dramatisch, es
war eine Explosion reinster Wut und Macht, die einen Gegner völlig
überwältigte und einem Kampf oft auf spektakuläre Weise ein
plötzliches Ende setzte.
Über Max’ verschwitztes Gesicht breitete sich unter
der Maske ein düsteres Grinsen aus. Er wusste, was sie sich
erhofften, aber das würde nicht geschehen.
Tut mir leid, Leute. Keine Kaninchen mehr im
Hut. Ich bin am Ende.
Max hätte alles darum gegeben, sich die Maske
abreißen und fortwerfen zu können. Wenn das sein Ende sein sollte,
dann wollte er die Sterne sehen und die Nachtluft ohne den
grässlichen Filter atmen.
Und er wollte, dass die Menge wusste, wer sich
hinter der Maske versteckte.
Er nahm seinen Speer und entschloss sich zu einem
letzten Angriff. Er nahm fünf Schritte Anlauf, bevor er zum Sprung
ansetzte. Einen wunderbaren Augenblick lang genoss er den Moment,
als sein Körper sich immer höher aufschwang. Die vielen Augen des
Grylmhochs folgten seiner Bahn. Münder bildeten sich, große,
gähnende Schlunde, die einen Bulldozer hätten verschlingen können.
Max wich ihnen knapp aus und stieß seinen Speer in ein glänzendes
Auge etwa acht Fuß entfernt.
Die Spitze drang glatt durch die Pupille.
Und Max’ Welt explodierte.
In einer plötzlichen Aufwallung von Schmerz
schleuderte ihn der Grylmhoch quer durch die halbe Arena. Max
schlug auf dem harten Sandboden auf und spürte, wie ihm mehrere
Rippen brachen. In seinen Ohren klingelte es, doch er konnte immer
noch das wilde Gebrüll der Menge hören.
Max rollte sich auf die Seite und versuchte, den
Kopf klar zu bekommen. Obwohl er nur verschwommen sah, erkannte er,
dass der Grylmhoch mit der Beständigkeit eines Ozeanriesen auf ihn
zukam. Immer noch benommen, griff er abwesend nach seinem
Speer.
Aber der war fort.
Blinzelnd sah er den Speer immer noch dort stecken,
wo das riesige Auge gewesen war. Das Auge hatte sich zurückgezogen,
anscheinend war es wieder von der fremden Materie, aus der der Leib
des Wesens bestand, aufgesogen worden. Jetzt pulste nur noch eine
Masse weißen, geäderten Gewebes um den Schaft herum. Gleich darauf
wurde der Speer wie ein Splitter in den Körper des Grylmhochs
gesogen.
Einen Augenblick beobachtete Max, wie er näher kam.
So etwas konnte er nicht bekämpfen. Während Max zerschlagen und
unbewaffnet war, schien das Monster nicht einmal müde, geschweige
denn verletzt. In seinem Kopf machte sich ein hässlicher Gedanke
breit.
Lieg still. Lieg still, dann ist es gleich
vorbei …
Doch etwas in Max unterdrückte diesen Gedanken. Es
kam tief aus seinem Innersten. Max konnte nicht erkennen, ob es die
Alte Magie war oder etwas zutiefst Menschliches. Er grub die Finger
in den Sand und richtete sich auf.
Die Menge brüllte auf, als er aufstand. Unsicher
wich er vor dem Monster zurück, bis er gegen eine der hohen Mauern
der Arena gedrängt war. Doch als der Grylmhoch näher kam, bemerkte
Max plötzlich im Publikum etwas Merkwürdiges.
Zu Beginn des Kampfes hatten sich die meisten
Zuschauer aus den unteren Rängen verzogen, als sie erfuhren,
dass sich Bragha Rùn dem Grylmhoch stellen sollte. Es war eine
vernünftige Entscheidung, warum sollte jemand in Reichweite eines
so großen und gnadenlosen Unwesens bleiben. Aber in einem der
unteren Abschnitte waren die Zuschauer sitzen geblieben. Er sah sie
auf der anderen Seite der Arena in den ersten beiden Reihen genau
unterhalb der königlichen Loge.
Warum waren sie nicht weggegangen?
Aus irgendeinem Grund mussten sie sich dort trotz
der Nähe des Monsters sicher fühlen …
Doch jetzt ragte das Monster über Max auf. Seine
wabernde weiße Gestalt zeichnete sich vor dem tiefschwarzen Himmel
und den Spiralen der Kathedrale hoch über ihnen ab. Ein paar
Tentakel schossen auf Max zu. Vor Erschöpfung konnte er sich kaum
noch ducken. Die Tentakel zischten knapp über seinen Kopf hinweg
und trafen die Mauer hinter ihm. Er schaffte es, sich aufzurichten,
und konnte nur noch davonlaufen.
Er stolperte zur königlichen Loge hinüber und sein
Herz und seine Lungen schienen zu bersten, während er seine letzten
Energiereserven mobilisierte. Er hörte, wie ihn der Grylmhoch mit
klatschenden, dumpfen Geräuschen verfolgte, doch er weigerte sich,
sich umzudrehen, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Prusias,
die Adligen, die ihn umgaben, und die kreischenden Zuschauer unter
ihnen.
Und dann sah er es.
Das Objekt hing etwa zwanzig Fuß hoch an der Wand
und sein mattes Aussehen ließ es vor den reichen Farben von
Prusias’ Banner unscheinbar wirken. Es war ein steinernes, etwa
fünfzig Zentimeter großes Siegel, mit einem grob geritzten Zeichen,
das entfernt einem Stern ähnelte. Max hatte es noch nie zuvor
gesehen. Hatte es einen Einfluss auf das Monster? Da er zu
erschöpft war, um zu springen,
würde er hinaufklettern müssen. Keuchend grub er die Finger in den
weichen Mörtel, entschlossen, den Stein zu erreichen.
Während Max hinaufkletterte, kam der Grylmhoch
näher. Panisch versuchte Max, seine Anstrengungen zu verdoppeln,
doch ihm fehlte die Kraft dazu. Er würde den Stein nicht
rechtzeitig erreichen.
Doch plötzlich geschah etwas Merkwürdiges.
Der Grylmhoch schien angehalten zu haben.
Ein Blick über seine Schulter bestätigte Max’
Vermutung. Das Monster blieb etwa zwanzig Meter entfernt stehen,
als wäre es gegen eine unsichtbare Schranke geprallt. Seine trüben
Augen waren immer noch auf ihn gerichtet, aber es kam nicht näher.
Stattdessen blubberte und schrie es und seine Tentakel suchten
einen anderen Weg, ihr Opfer zu erreichen.
Als das Monster an der unsichtbaren Schwelle hielt,
begann sein Körper, intensiver zu pulsieren und zu flackern. Jetzt
konnte Max durch das Monster hindurch sehen und erblickte dahinter
verschwommen Teile der Arena. Zähneknirschend setzte er seinen
langsamen, schmerzhaften Weg an dem matten, grünen Stein hinauf
fort.
Der unbeholfen gehauene Stern war abgewetzt und
verwittert, es hatte den Anschein, als wäre er vor Urzeiten gemacht
worden. Max hakte ihn von der Eisenkette los, holte tief Luft und
ließ sich zu Boden fallen.
Beim Aufprall auf dem Sand gaben beinahe seine Knie
nach, doch er konnte sich an der Wand abstützen. Abrupt ließ der
Grylmhoch sein unverständliches Geplapper verstummen und brach auf
dem Boden zusammen wie eine gestrandete Missgeburt. Max stolperte
darauf zu und hob die steinerne Plakette so hoch, dass das seltsame
sternförmige Zeichen ihm zugewandt war.
Je näher er kam, desto stärker wurde das Flackern,
bis es fast verschwamm.
Als Max der bebenden Kreatur bis auf Armeslänge
nahe gekommen war, wurde der Stein auf einmal unerträglich heiß und
sandte einen gleißend weißen Lichtstrahl aus.
Im gleichen Moment war der Grylmhoch verschwunden,
verbannt in eine andere Welt oder Daseinsebene.
Max ließ den schweren Stein fallen und brach
zusammen.
Er erwachte in einem von Kerzen nur schwach
erhellten Raum. Leise stöhnend tastete er um sich und stieß gegen
eine Art Keramikschüssel. Eine nach Kräutern riechende Flüssigkeit
schwappte über und benetzte seinen Arm. Eine sanfte Hand tupfte sie
auf und legte seinen Arm wieder an seine Seite. Max blickte auf und
erwartete fast, eine von Rowans freundlichen Muhmenhoven zu sehen,
doch stattdessen blickte er in die gesprungenen, sorgenvollen
Masken der Malakhim, die sich über ihn neigten.
»Was …?«
Plötzlich kam ihm wieder die Erinnerung an den
Grylmhoch und an seine gebrochenen Rippen. Benommen setzte er sich
auf und schwang die Beine vom Tisch, wobei er mehrere Schüsseln und
Metallinstrumente zu Boden stieß.
Lag er auf einem Operationstisch?
Max hielt sich die Seite, spürte seine nackte Haut
und erwartete fast, eine klaffende Wunde zu fühlen. Doch da war
keine Wunde und auch kein Schmerz. Verwirrt sah er die schweigenden
Malakhim an, die gehorsam die Unordnung aufräumten, die er gemacht
hatte.
»Bin ich tot?«
Er sprach die Frage leise und heiser aus.
Zu seiner Überraschung bekam er eine Antwort.
»Oh nein, mein Junge, du bist äußerst
lebendig.«
Max wandte sich um und sah Prusias in einem Sessel
auf der anderen Seite des Zimmers sitzen. Die Augen des Dämons
waren zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, während er an seinem
Champagner nippte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Mir geht es … gut«, antwortete Max überrascht. Er
betrachtete seinen Oberkörper, an dem er keine blauen Flecken und
keine Spur von gebrochenen Rippen erkennen konnte, sondern nur
glatte Haut und die feine Linie einer langen Narbe an der linken
Seite.
»Ist das von mir«, fragte er und wies auf einen
Stapel blutgetränkter Handtücher.
»Ja, genau«, erwiderte Prusias. »Zuerst stand es
auf der Kippe, aber du bist hart im Nehmen.«
»Wo sind wir hier?«, wollte er wissen und sah sich
im Zimmer um.
»Im Kolosseum«, antwortete Prusias. »Die Malakhim
hatten Angst, dich wegzubringen.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Fast zwei Tage.«
»Und der Grylmhoch?«, wollte Max wissen.
»Weg«, grinste Prusias. »Zu unser aller
Erleichterung, wie ich annehme …«
»Wohin ist er gegangen?«
»Zurück zu Astaroth«, meinte Prusias mit
nonchalantem Achselzucken.
»Zurück zu Astaroth«, war in Blys zu einer
beliebten Redensart geworden. Sie war ein Teil der Propaganda, dass
der Dämon ein göttliches Wesen war. Im Fall des Grylmhochs
allerdings schien es tatsächlich möglich zu sein. Mit blitzenden
Augen trank Prusias weiter seinen Champagner. »Wie hast du erkannt,
dass dir das Zeichen helfen könnte?«
Max sagte es ihm. Der Dämon stieß seinen Stock auf
den Boden.
»Gut!«, rief er. »Du hast mich ein Vermögen
gekostet, aber das kann ich dir nicht mal übel nehmen.«
»Wieso habe ich Sie ein Vermögen gekostet?«,
wunderte sich Max.
»Ich habe gegen dich gewettet«, erklärte Prusias,
lächelnd wie die Grinsekatze.
»Ich dachte, ich sollte gewinnen«, meinte Max
reserviert.
»Aber natürlich!«, lachte der Dämon. »Aber was hat
das damit zu tun? Doch nicht gegen einen Grylmhoch! Du hast das
schlechtere Los gezogen. Lord Rùk und Myrmidon hatten es
leichter.«
»Wer hat gewonnen?«, wollte Max wissen.
»Ach ja«, seufzte Prusias, »Lord Rùk ist ebenfalls
heim zu Astaroth gegangen …«
»Ich werde also gegen Myrmidon um den Titel kämpfen
müssen?«
»Das hängt von zwei Dingen ab«, erklärte Prusias.
»Ob du dazu in der Lage bist und ob dich das Komitee nicht
disqualifiziert.«
»Disqualifiziert?«, rief Max. »Wieso sollte
ich disqualifiziert werden?«
»Es gibt einige, die behaupten, du hättest die
Regeln gebrochen«, meinte Prusias. »Deine Kritiker haben eine
Petition eingereicht, in der sie bestreiten, dass du den Grylmhoch
wirklich besiegt hast. Sie behaupten, du hättest lediglich eine
schlaue Möglichkeit gefunden, deinem Gegner zu entfliehen, bevor er
dich fertigmachen konnte.«
Max stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Und was
glauben Sie?«
»Es sollte dich nicht so sehr interessieren, was
ich glaube«, sagte Prusias leichthin. »Damit erweist du deinen
Kritikern
zu viel Ehre, Max. Es ist leicht, daneben zu sitzen und mit dem
Finger zu zeigen.« Er hob sein Glas und zitierte mit seiner
Stentorstimme: »Nicht die Kritik zählt, und auch nicht der Mann,
der zeigt, wie ein starker Mann strauchelt, oder wie ein Handelnder
seine Taten hätte besser machen können. Die Anerkennung gebührt dem
Mann in der Arena, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut
bedeckt ist …« Weißt du, wer das gesagt hat?«
»Nein.«
»Ein amerikanischer Präsident namens Teddy
Roosevelt«, informierte ihn der Dämon. »Ein energischer Bursche …
hat mich zum Thema Panama konsultiert. Er hat nie offen zugegeben,
was ich war, aber ich bin sicher, dass er es wusste.«
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Max
ruhig.
»Weil du kein furchtsames Wesen bist und ich nicht
will, dass du dich wie eines verhältst«, erklärte Prusias und erhob
sich. Die Malakhim traten beiseite, als der große Dämon auf den
Tisch zuschritt. »Du hast dich in der Arena vielen würdigen Gegnern
gestellt und kümmerst dich trotzdem um die Meinung der Kritiker?
Mein Junge, die sind es nicht wert, deinen Namen
auszusprechen!«
»Wie wird also das Komitee entscheiden?«, wollte
Max wissen.
»Das hängt von dir ab«, meinte Prusias mit
hochgezogener Augenbraue. »Willst du den letzten Kampf
bestreiten?«
»Ich tue hier nicht, was ich will«, antwortete Max
verbittert. »Ich tue, was ich tun muss. Was werden Sie wegen Vyndra
unternehmen, wenn ich nicht kämpfe?«
Prusias zuckte mit den Schultern und erklärte
schlicht: »Nichts. Ich werde nichts tun, um dir zu helfen. Warum
sollte ich?« Der Gedanke ließ ihn beinahe kichern. »Bedingung
für meine Unterstützung gegen Vyndra ist, dass du Champion wirst.
Etwas anderes habe ich nie gesagt.«
Zornig dachte Max an die vielen Kämpfe zurück, die
er bestritten hatte. »Aber ich habe bereits …«
»Belohnungen erstritten, die ausgezahlt wurden«,
unterbrach ihn Prusias scharf.
Der Dämon schloss die Augen und hob die Stimme,
während er langsam im Raum umherging. »Als Lohn für deine Siege
habe ich eintausend Menschen Zuflucht in der Stadt gewährt, die
menschlichen Lager mit Waren beliefert und den Vyes verboten, unter
ihnen zu jagen. Ich habe diejenigen, die auf dem Bauernhof leben,
unter meinen persönlichen Schutz gestellt. Und trotzdem schreist
du, ich sei ungerecht?«
Der Dämon schwieg, ging aber weiter auf und ab.
Sein großer Schatten wand sich und zitterte an den Wänden und sah
aus wie ein Nest zappelnder Schlangen.
Max’ Blick glitt vom Schatten zu dessen Besitzer.
Gelegentlich verlockten das Aussehen und das joviale Verhalten des
Dämons ihn dazu, ihn für menschlich zu halten, oder zumindest für
fast menschlich.
Aber er war kein Mensch, rief sich Max selbst
streng ins Gedächtnis. Er war etwas vollkommen anderes. Und als er
den schrecklichen Schatten wieder ansah, schoss ihm ein Zitat durch
den Kopf: »Und siehe, ein großer roter Drache!«
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er diese
Worte das erste Mal gehört hatte, aber sie lösten eine unbestimmte,
tiefe Furcht aus. Denn dieser Drache war keine Märchengestalt, auf
dessen Speiseplan Jungfrauen standen, sondern ein uraltes Übel.
Eines, das ganze Nationen verschlang.
Langsam beruhigten sich die wilden Schatten, und
als
Prusias die Augen öffnete, war sein Tonfall wieder
liebenswürdig.
»Ich würde sagen, quid pro quo hat die Grundlage
für eine sehr erfolgreiche Partnerschaft gebildet. Ohne sie würde
unsere Beziehung lediglich auf Wohlwollen beruhen. Ich verteile
kein Wohlwollen, Max – das ist nicht meine Art. Also ist es ganz
einfach: Du hilfst mir, ich helfe dir.«
Max überlegte. Er stand so dicht davor, zu
bekommen, was er wollte, so dicht davor, die Gelegenheit zur Rache
zu bekommen und dabei noch anderen zu helfen. Es war nur noch ein
einziger Kampf. So viele hatte er schon gewonnen.
»Glauben Sie, dass das Komitee mich
disqualifizieren wird?«, fragte er.
Der Dämon musste laut lachen.
»Max«, schalt er, »mach dir darum mal keine
Gedanken. Das Komitee bin ich!«
»Na gut«, meinte Max. »Ich kämpfe.«
»Ausgezeichnet!«, rief Prusias. »Wir werden
verkünden, dass der Kampf um die Meisterschaft in zwei Wochen
stattfindet. Mr Bonn wird sich um die Einzelheiten kümmern. Und
jetzt sollten wir dir etwas zu essen besorgen. Wenn du dich
Myrmidon stellen willst, wirst du all deine Kräfte brauchen.«