KAPITEL 22
Der große rote Drache
023
An diesem Abend begleitete Mr Bonn Max nicht zum Kolosseum, nur die Malakhim leisteten ihm Gesellschaft. Max fragte sich, was die Arena wohl für ihn bereithielt. Er sah aus dem Fenster und dachte darüber nach, wie gefährlich die Kämpfe geworden waren. Er konnte sich nicht länger darauf verlassen, dass er auf jeden Fall siegen würde.
Blys erstrahlte bereits hell, jeder Bezirk, von den Ghettos bis hin zu den unteren Palästen, war von Lichtern durchflutet und von Hunderten von Zuschauern, die an der Atmosphäre teilhaben wollten, die die bevorstehenden Endkämpfe des Turniers umgab. Max entdeckte ein mehrere Stockwerke langes Banner, auf dem sein Bild – oder besser das von Bragha Rùn – aufgedruckt war. Beim Anblick von Astaroths Wappen auf seiner Stirn wurde ihm beinahe schlecht.
Nur noch ein klein wenig länger.
Schließlich bogen sie um eine Ecke und die Kutsche begann ihren letzten Anstieg zum Palast und dem Eingang für die Kämpfer. Hinter dem Tor brachten die Malakhim Max zu den wartenden Zwergen in der Schmiede. Max ging auf sie zu, in der Erwartung, dass ihm Sudri oder einer seiner Gehilfen die Waffe reichte, die er benutzen sollte, wie es normalerweise der Fall war.
Doch diesmal bedeuteten ihm die Zwerge durch Worte und Gesten, dass Max unter dem Dutzend Waffen, die vor ihm ausgebreitet waren, frei wählen konnte. Das Sortiment umfasste fast alle Waffengattungen: eine schwere Stielaxt, ein stacheliger Morgenstern und sogar ein Beidhänder, der genauso groß war wie er selbst.
Warum solche Waffen?
Max bezweifelte, dass sie willkürlich ausgesucht worden waren. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass sie mit einem bläulichen Metall überzogen waren, das er noch nie gesehen hatte. Es war nur spärlich eingesetzt worden, einzig an den Klingen und Spitzen. Max nahm an, dass das Material sehr selten war und außerordentlich wertvoll, und schloss daraus, dass die Verteidigung seines Gegners schwer zu durchdringen war.
Max’ Blick blieb an einer Waffe hängen, die ein Zwischending zwischen einem Schwert und einem Speer war. Sie war groß und schwer und hatte eine etwa drei Fuß lange blattförmige Klinge. Sie war geeignet.
Nach der Fahrt in dem Werkstattaufzug erwartete ihn ein unbekannter blauhäutiger Gnom. Das geschäftige Wesen machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, sondern führte Max rasch durch den Gang in den leeren Warteraum. Dann verbeugte er sich und verschwand und Max blieb allein in dem dunklen Raum mit den blutbefleckten Fellen und den bizarren, unmenschlichen Verzierungen. Es vergingen mehrere Minuten, bis Max die Stimme der Sprecherin vernahm. Sie benutzte die Sprache der Dämonen, sodass Max lediglich seinen Namen verstand, dem ein Aufbrüllen der Menge folgte.
Stück für Stück glitt das Gatter nach oben.
Max spürte ein vertrautes Zucken in den Fingern.
Max McDaniels packte den Speer fester, trat aus dem Schatten und marschierte einmal mehr in die Arena ein, in der ihn so viel Licht, Lärm und Schmerz erwartete.
Noch nie war er als Erster gerufen worden. Zuvor hatten seine Gegner bereits in der Arena auf ihn gewartet und ihm ein Ziel geboten, auf das er sich konzentrieren konnte. Doch jetzt stand er allein in dem riesigen Raum vor den Augen und Erwartungen von hunderttausend Zuschauern. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt. In seinem Magen machte sich mit dumpfem Knurren Nervosität bemerkbar, als er auf das gegenüberliegende Gatter blickte. Lauerte hinter diesen Gittern der Tod?
Max vertrieb die Gedanken und beschloss, durch keine Geste oder seine Haltung auch nur eine Spur von Angst oder Schwäche zu zeigen. Er fasste den Speer fester und stand so stolz und hoch aufgerichtet da wie das Bild von Cúchulain, das er vor so langer Zeit in dem Wandteppich gesehen hatte. Wenn das hier sein Ende sein sollte, dann würde er ihm mit offenen Augen entgegensehen.
Die Stimme der Sprecherin ertönte wieder. Max bemühte sich, über das Geschrei der Zuschauer den Namen seines Gegners zu vernehmen, und lauschte auf etwas, was wie Rùk oder Myrmidon klang. Doch er konnte keinen der beiden Namen heraushören. Stattdessen fand eine merkwürdige Wanderung statt – die Zuschauer in den unteren Reihen verließen fluchtartig ihre Sitze und drängten sich in die Gänge zwischen den oberen Reihen.
Trotz der Unruhe auf den Rängen konzentrierte sich Max weiter auf das Gatter gegenüber. Doch das bewegte sich nicht. Stattdessen schob sich ein ganzer Wandabschnitt daneben beiseite und enthüllte ein gähnendes schwarzes Loch. Max starrte hinein und sah winzige blinkende Lichter, die ihn fast an die Konstellationen in seinem alten Schlafzimmer in Rowan erinnerten. Doch diese Lichter wurden rasend schnell größer, als ob sie sich mit einem fahrenden Zug näherten.
Als der Grylmhoch in die Arena rauschte, erkannte Max augenblicklich, dass seine Herkunft irgendwo anders lag, auf einem fernen Planeten oder in einem anderen Universum oder der Hölle.
Der erste Vergleich, der sich ihm aufdrängte, war der mit einer riesigen Spinne, denn das Monster hatte in dem Zentrum, das sein Gesicht hätte sein können, einen ganzen Haufen Augen. Darunter waren schnappende Mäuler, die nach Belieben auftauchten und verschwanden, als ob die Kreatur sie nach Wunsch in ihrem wabernden, unbehaarten Fleisch erzeugen könnte.
Max erkannte, dass es sinnlos war, das Wesen mit irgendetwas Irdischem zu vergleichen. Nichts an der Gestalt dieses Monsters blieb konstant. Nicht einmal die einzelnen Phasen blieben beständig, denn es gab Augenblicke, in denen der ungeheure Körper flackerte und durchsichtig wurde, als ob irgendein Naturgesetz sich gegen seine Anwesenheit in dieser Welt auflehnte.
In den kugelrunden Augen des Grylmhochs zeigte sich kein Aufblitzen tierischer Intelligenz. Die Dutzenden von Augen sahen sich starr in der Arena um.
Waren die furchtbare Größe und die blasse, tintenfischartige Färbung des Monsters schon erschreckend, so verbreiteten seine Bewegungen erst richtig Entsetzen. Der Grylmhoch lief nicht, er glitt auf einer schleimigen Substanz, die er aus seinem breiten Unterleib absonderte, über den Boden der Arena und schob eine Welle von Sand vor sich her. Zwar verfügte er über jede Menge Beine und Arme sowie flossenartige Gliedmaßen, Tentakel und Scheinfüßchen, die reichten jedoch allesamt nicht aus, um eine solche Masse vorwärtszubewegen. Er schien besser an das Meer oder sogar den Weltraum angepasst zu sein.
Max trat unwillkürlich einen Schritt zurück und betrachtete seine Waffe.
Wie sollte ein einfacher Speer so einer Kreatur überhaupt Schaden zufügen können?
Eines nach dem anderen richteten die kreiselnden Augen ihren Blick auf ihn. Ein Schrei entwand sich einem der Mäuler des Grylmhochs – der Schrei eines Afriten, eines Feuergeistes. Max hatte diesen Schrei schon früher einmal gehört, als ein solcher Afrit aus dem biologischen Museum der Frankfurter Werkstatt ausgebrochen war.
Warum schrie der Grylmhoch wie ein Afrit?
Das wurde bald klar.
Als das Wesen auf Max zuglitt, formte sich ein weiteres Maul und stieß ein völlig anderes Geräusch aus, das wilde Heulen eines unbekannten Wesens. Dieses Heulen verklang zu einem seltsamen, unterschwelligen Summen, das in ein abstoßendes Kichern überging.
Das Monster imitierte Geräusche, die es gehört hatte. Waren es die nichtssagenden Echos früherer Opfer oder ein seltsamer Versuch zu kommunizieren? Max erschauderte, als die Missgeburt die Stimme einer Frau erklingen ließ.
»Schicken Sie schnell jemanden vorbei! Mein Mann hat etwas Schreckliches getan!«
Die Menge johlte begeistert, weil Max sich nicht vom Fleck rührte, sie erkannte nicht, dass er vor Schreck erstarrt war. Während er stocksteif stehen blieb, bildete der Grylmhoch einen fleischigen Tentakel und streckte diesen wie eine Sonde langsam in seine Richtung. Das Anhängsel hielt vier oder fünf Fuß vor seinem Gesicht an. Auf seiner Haut bildeten sich blubbernde Beulen und Blasen. Zu Max’ Entsetzen erschufen sie ein Maul, einen weichen Kreis blasigen Fleisches, das sich weiter öffnete, als rasiermesserscharfe Zähne durch den Gaumen stießen.
Vor Abscheu überwand Max seinen Schrecken und schwang die Waffe.
Als die Klinge durch das Fleisch des Grylmhochs glitt, fuhr ein elektrischer Stromstoß durch Max’ Arm. Die Klinge durchtrennte den Scheinfuß mühelos und das abgehauene Ende fiel in den Sand und schnappte mit dem Maul blindlings um sich, während sich der Rest des Stumpfes langsam in den Körper des Monsters zurückzog.
Schnell zog sich Max von dem abgetrennten, schnappenden Maul vor seinen Füßen zurück. Wieder begann das Fleisch zu pulsieren, und starr vor Angst sah Max, wie es sich in eine etwa mannsgroße Version des Grylmhochs verwandelte, die sich mit einem Schrei auf Max stürzte, der zur Seite sprang. Im gleichen Moment schickte das große Monster weitere Füßchen zu ihm.
Die Menge schrie auf, als eines davon Max in die Höhe hob. Das sich gerade erst bildende Maul presste sich auf sein Handgelenk. Der Griff war unerwartet sanft, doch plötzlich verspürte Max einen unwiderstehlichen Sog und augenblicklich steckte sein Arm bis zur Schulter in wabbeligem, quellendem Fleisch, das ihn stetig weiter in Richtung des mit Zähnen bewaffneten Abgrunds zog, der sich in der Mitte des Monsters bildete.
Mit der freien Hand packte Max den Speer und hackte mit entsetzlicher Verzweiflung auf die Tentakel, die seinen anderen Arm umfasst hielten. Für genaues Zielen hatte er keine Zeit, er konnte nur hoffen, dass er sich nicht selbst verletzte.
Er verspürte einen weiteren elektrischen Schock und hatte das Gefühl, zu fallen. Als er auf dem Boden der Arena aufprallte, stellte er fest, dass er zwar noch beide Arme hatte, dass jedoch einer davon immer noch in dem klebrigen, lebendigen Fleisch des Grylmhochs steckte. Hektisch riss er an dem gummiartigen Gewebe und warf eine Handvoll zuckendes Fleisch nach der anderen von sich.
Der Grylmhoch jagte Max mit eiskalter Geduld von einer Ecke der Arena in die nächste. Wie der Troll verfolgte er ihn mit stumpfer Hartnäckigkeit, doch anders als dieser schien er nie zu ermüden. Er bewegte sich nicht schneller als im Trab, nur dass er dieses Tempo schier unendlich beibehalten konnte. Und während der ganzen Jagd hörte er nicht auf, Schreie und panische Bitten in einer Unmenge fremder Sprachen auszustoßen.
Und doch konnte sich Max nicht auf dieses fleischfressende Ungetüm konzentrieren, denn er hatte noch vier weitere Tentakel abgetrennt, die sich jeweils in Miniaturausgaben des Monsters verwandelt hatten und ihn gemeinsam durch die Arena jagten.
Je kleiner der Nachwuchs war, desto schneller war er. Immer, wenn Max dem riesigen Ungeheuer entkommen konnte und ans entgegengesetzte Ende der Arena floh, wurde er dort bereits von den schnellen Nachkommen empfangen. Und in dem Bemühen, sich zu verteidigen, zerteilte er die Dinger in immer kleinere Teile, die wie hungrige Quallen nach ihm schnappten, während sich der Grylmhoch ihm wieder langsam näherte.
Der Menge gefiel seine Angst. Noch nie war es in der Arena so laut gewesen. Münzen und Blumen regneten herab, als Max keuchend ans andere Ende rannte. Sein Helm war entsetzlich bedrückend. Seine Lungen brannten. Verzweifelt nach Luft ringend, ließ er sich an die Gitterstäbe des Gatters sinken. Nur ein oder zwei Sekunden später vernahm er ein gieriges Quieken.
Als er sich umdrehte, sah er das kleinste und schnellste Ding auf sich zukommen. Zu erschöpft für einen ganzen Schlag, spießte Max es auf und das Gewicht des Speers presste das zappelnde Ding zu Boden. Wieder spürte er den leisen Schock, als die Waffe ihre elektrische Ladung abgab. Doch anstatt den Speer wie zuvor sofort zurückzuziehen, ließ er ihn jetzt mehrere Stromstöße abgeben. Schrecklicher Gestank wie von verbranntem Haar stieg ihm in die Nase.
Der Ableger rührte sich nicht mehr.
Er hatte keine Zeit, sich zu wundern, denn gleich darauf waren die anderen bei ihm. Max benutzte den Griff der Waffe als Keule, mit der er die Wesen zurücktrieb und benommen machte, bis er sie jeweils mit einer tödlichen Dosis Elektrizität töten konnte. Nach fünf wütenden Minuten waren ihre leblosen Körper über die Arena verteilt.
Doch trotz des momentanen Triumphes blieb immer noch der Grylmhoch.
Erschöpft wie er war, stellte Max fest, dass ihn das riesige Ungeheuer langsam einholte. Trotz seiner früheren Schläge schien es völlig unversehrt. Keine Narben oder Stümpfe zeigten sich auf seinem fleischigen blassen Körper. Immer noch bildeten sich nach Belieben Augen und Mäuler darin, während es durch die Arena glitt und Max verfolgte und unterwegs methodisch seine leblosen Nachkommen aufsaugte und verschlang.
Offensichtlich konnte es ewig so weitermachen, Max jedoch nicht.
Er stolperte in die Mitte der Arena, wandte sich um und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. In den Rängen standen viele Zuschauer auf, als erwarteten sie ein großes Finale. Im Kolosseum wurde es still, als ob die Menge gemeinsam den Atem anhielt. In den letzten beiden Monaten hatten sie gesehen, wie Bragha Rùn Schilde und Schwerter zerschmetterte, doch sein besonderer Reiz lag in der Möglichkeit, dass er etwas tun konnte, was die Menge noch nie zuvor gesehen hatte. Diese Momente waren ebenso unvorhersehbar wie dramatisch, es war eine Explosion reinster Wut und Macht, die einen Gegner völlig überwältigte und einem Kampf oft auf spektakuläre Weise ein plötzliches Ende setzte.
Über Max’ verschwitztes Gesicht breitete sich unter der Maske ein düsteres Grinsen aus. Er wusste, was sie sich erhofften, aber das würde nicht geschehen.
Tut mir leid, Leute. Keine Kaninchen mehr im Hut. Ich bin am Ende.
Max hätte alles darum gegeben, sich die Maske abreißen und fortwerfen zu können. Wenn das sein Ende sein sollte, dann wollte er die Sterne sehen und die Nachtluft ohne den grässlichen Filter atmen.
Und er wollte, dass die Menge wusste, wer sich hinter der Maske versteckte.
Er nahm seinen Speer und entschloss sich zu einem letzten Angriff. Er nahm fünf Schritte Anlauf, bevor er zum Sprung ansetzte. Einen wunderbaren Augenblick lang genoss er den Moment, als sein Körper sich immer höher aufschwang. Die vielen Augen des Grylmhochs folgten seiner Bahn. Münder bildeten sich, große, gähnende Schlunde, die einen Bulldozer hätten verschlingen können. Max wich ihnen knapp aus und stieß seinen Speer in ein glänzendes Auge etwa acht Fuß entfernt.
Die Spitze drang glatt durch die Pupille.
Und Max’ Welt explodierte.
In einer plötzlichen Aufwallung von Schmerz schleuderte ihn der Grylmhoch quer durch die halbe Arena. Max schlug auf dem harten Sandboden auf und spürte, wie ihm mehrere Rippen brachen. In seinen Ohren klingelte es, doch er konnte immer noch das wilde Gebrüll der Menge hören.
Max rollte sich auf die Seite und versuchte, den Kopf klar zu bekommen. Obwohl er nur verschwommen sah, erkannte er, dass der Grylmhoch mit der Beständigkeit eines Ozeanriesen auf ihn zukam. Immer noch benommen, griff er abwesend nach seinem Speer.
Aber der war fort.
Blinzelnd sah er den Speer immer noch dort stecken, wo das riesige Auge gewesen war. Das Auge hatte sich zurückgezogen, anscheinend war es wieder von der fremden Materie, aus der der Leib des Wesens bestand, aufgesogen worden. Jetzt pulste nur noch eine Masse weißen, geäderten Gewebes um den Schaft herum. Gleich darauf wurde der Speer wie ein Splitter in den Körper des Grylmhochs gesogen.
Einen Augenblick beobachtete Max, wie er näher kam. So etwas konnte er nicht bekämpfen. Während Max zerschlagen und unbewaffnet war, schien das Monster nicht einmal müde, geschweige denn verletzt. In seinem Kopf machte sich ein hässlicher Gedanke breit.
Lieg still. Lieg still, dann ist es gleich vorbei …
Doch etwas in Max unterdrückte diesen Gedanken. Es kam tief aus seinem Innersten. Max konnte nicht erkennen, ob es die Alte Magie war oder etwas zutiefst Menschliches. Er grub die Finger in den Sand und richtete sich auf.
Die Menge brüllte auf, als er aufstand. Unsicher wich er vor dem Monster zurück, bis er gegen eine der hohen Mauern der Arena gedrängt war. Doch als der Grylmhoch näher kam, bemerkte Max plötzlich im Publikum etwas Merkwürdiges.
Zu Beginn des Kampfes hatten sich die meisten Zuschauer aus den unteren Rängen verzogen, als sie erfuhren, dass sich Bragha Rùn dem Grylmhoch stellen sollte. Es war eine vernünftige Entscheidung, warum sollte jemand in Reichweite eines so großen und gnadenlosen Unwesens bleiben. Aber in einem der unteren Abschnitte waren die Zuschauer sitzen geblieben. Er sah sie auf der anderen Seite der Arena in den ersten beiden Reihen genau unterhalb der königlichen Loge.
Warum waren sie nicht weggegangen?
Aus irgendeinem Grund mussten sie sich dort trotz der Nähe des Monsters sicher fühlen …
Doch jetzt ragte das Monster über Max auf. Seine wabernde weiße Gestalt zeichnete sich vor dem tiefschwarzen Himmel und den Spiralen der Kathedrale hoch über ihnen ab. Ein paar Tentakel schossen auf Max zu. Vor Erschöpfung konnte er sich kaum noch ducken. Die Tentakel zischten knapp über seinen Kopf hinweg und trafen die Mauer hinter ihm. Er schaffte es, sich aufzurichten, und konnte nur noch davonlaufen.
Er stolperte zur königlichen Loge hinüber und sein Herz und seine Lungen schienen zu bersten, während er seine letzten Energiereserven mobilisierte. Er hörte, wie ihn der Grylmhoch mit klatschenden, dumpfen Geräuschen verfolgte, doch er weigerte sich, sich umzudrehen, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Prusias, die Adligen, die ihn umgaben, und die kreischenden Zuschauer unter ihnen.
Und dann sah er es.
Das Objekt hing etwa zwanzig Fuß hoch an der Wand und sein mattes Aussehen ließ es vor den reichen Farben von Prusias’ Banner unscheinbar wirken. Es war ein steinernes, etwa fünfzig Zentimeter großes Siegel, mit einem grob geritzten Zeichen, das entfernt einem Stern ähnelte. Max hatte es noch nie zuvor gesehen. Hatte es einen Einfluss auf das Monster? Da er zu erschöpft war, um zu springen, würde er hinaufklettern müssen. Keuchend grub er die Finger in den weichen Mörtel, entschlossen, den Stein zu erreichen.
Während Max hinaufkletterte, kam der Grylmhoch näher. Panisch versuchte Max, seine Anstrengungen zu verdoppeln, doch ihm fehlte die Kraft dazu. Er würde den Stein nicht rechtzeitig erreichen.
Doch plötzlich geschah etwas Merkwürdiges.
Der Grylmhoch schien angehalten zu haben.
Ein Blick über seine Schulter bestätigte Max’ Vermutung. Das Monster blieb etwa zwanzig Meter entfernt stehen, als wäre es gegen eine unsichtbare Schranke geprallt. Seine trüben Augen waren immer noch auf ihn gerichtet, aber es kam nicht näher. Stattdessen blubberte und schrie es und seine Tentakel suchten einen anderen Weg, ihr Opfer zu erreichen.
Als das Monster an der unsichtbaren Schwelle hielt, begann sein Körper, intensiver zu pulsieren und zu flackern. Jetzt konnte Max durch das Monster hindurch sehen und erblickte dahinter verschwommen Teile der Arena. Zähneknirschend setzte er seinen langsamen, schmerzhaften Weg an dem matten, grünen Stein hinauf fort.
Der unbeholfen gehauene Stern war abgewetzt und verwittert, es hatte den Anschein, als wäre er vor Urzeiten gemacht worden. Max hakte ihn von der Eisenkette los, holte tief Luft und ließ sich zu Boden fallen.
Beim Aufprall auf dem Sand gaben beinahe seine Knie nach, doch er konnte sich an der Wand abstützen. Abrupt ließ der Grylmhoch sein unverständliches Geplapper verstummen und brach auf dem Boden zusammen wie eine gestrandete Missgeburt. Max stolperte darauf zu und hob die steinerne Plakette so hoch, dass das seltsame sternförmige Zeichen ihm zugewandt war.
Je näher er kam, desto stärker wurde das Flackern, bis es fast verschwamm.
Als Max der bebenden Kreatur bis auf Armeslänge nahe gekommen war, wurde der Stein auf einmal unerträglich heiß und sandte einen gleißend weißen Lichtstrahl aus.
Im gleichen Moment war der Grylmhoch verschwunden, verbannt in eine andere Welt oder Daseinsebene.
Max ließ den schweren Stein fallen und brach zusammen.
 
Er erwachte in einem von Kerzen nur schwach erhellten Raum. Leise stöhnend tastete er um sich und stieß gegen eine Art Keramikschüssel. Eine nach Kräutern riechende Flüssigkeit schwappte über und benetzte seinen Arm. Eine sanfte Hand tupfte sie auf und legte seinen Arm wieder an seine Seite. Max blickte auf und erwartete fast, eine von Rowans freundlichen Muhmenhoven zu sehen, doch stattdessen blickte er in die gesprungenen, sorgenvollen Masken der Malakhim, die sich über ihn neigten.
»Was …?«
Plötzlich kam ihm wieder die Erinnerung an den Grylmhoch und an seine gebrochenen Rippen. Benommen setzte er sich auf und schwang die Beine vom Tisch, wobei er mehrere Schüsseln und Metallinstrumente zu Boden stieß.
Lag er auf einem Operationstisch?
Max hielt sich die Seite, spürte seine nackte Haut und erwartete fast, eine klaffende Wunde zu fühlen. Doch da war keine Wunde und auch kein Schmerz. Verwirrt sah er die schweigenden Malakhim an, die gehorsam die Unordnung aufräumten, die er gemacht hatte.
»Bin ich tot?«
Er sprach die Frage leise und heiser aus.
Zu seiner Überraschung bekam er eine Antwort.
»Oh nein, mein Junge, du bist äußerst lebendig.«
Max wandte sich um und sah Prusias in einem Sessel auf der anderen Seite des Zimmers sitzen. Die Augen des Dämons waren zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, während er an seinem Champagner nippte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er.
»Mir geht es … gut«, antwortete Max überrascht. Er betrachtete seinen Oberkörper, an dem er keine blauen Flecken und keine Spur von gebrochenen Rippen erkennen konnte, sondern nur glatte Haut und die feine Linie einer langen Narbe an der linken Seite.
»Ist das von mir«, fragte er und wies auf einen Stapel blutgetränkter Handtücher.
»Ja, genau«, erwiderte Prusias. »Zuerst stand es auf der Kippe, aber du bist hart im Nehmen.«
»Wo sind wir hier?«, wollte er wissen und sah sich im Zimmer um.
»Im Kolosseum«, antwortete Prusias. »Die Malakhim hatten Angst, dich wegzubringen.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Fast zwei Tage.«
»Und der Grylmhoch?«, wollte Max wissen.
»Weg«, grinste Prusias. »Zu unser aller Erleichterung, wie ich annehme …«
»Wohin ist er gegangen?«
»Zurück zu Astaroth«, meinte Prusias mit nonchalantem Achselzucken.
»Zurück zu Astaroth«, war in Blys zu einer beliebten Redensart geworden. Sie war ein Teil der Propaganda, dass der Dämon ein göttliches Wesen war. Im Fall des Grylmhochs allerdings schien es tatsächlich möglich zu sein. Mit blitzenden Augen trank Prusias weiter seinen Champagner. »Wie hast du erkannt, dass dir das Zeichen helfen könnte?«
Max sagte es ihm. Der Dämon stieß seinen Stock auf den Boden.
»Gut!«, rief er. »Du hast mich ein Vermögen gekostet, aber das kann ich dir nicht mal übel nehmen.«
»Wieso habe ich Sie ein Vermögen gekostet?«, wunderte sich Max.
»Ich habe gegen dich gewettet«, erklärte Prusias, lächelnd wie die Grinsekatze.
»Ich dachte, ich sollte gewinnen«, meinte Max reserviert.
»Aber natürlich!«, lachte der Dämon. »Aber was hat das damit zu tun? Doch nicht gegen einen Grylmhoch! Du hast das schlechtere Los gezogen. Lord Rùk und Myrmidon hatten es leichter.«
»Wer hat gewonnen?«, wollte Max wissen.
»Ach ja«, seufzte Prusias, »Lord Rùk ist ebenfalls heim zu Astaroth gegangen …«
»Ich werde also gegen Myrmidon um den Titel kämpfen müssen?«
»Das hängt von zwei Dingen ab«, erklärte Prusias. »Ob du dazu in der Lage bist und ob dich das Komitee nicht disqualifiziert.«
»Disqualifiziert?«, rief Max. »Wieso sollte ich disqualifiziert werden?«
»Es gibt einige, die behaupten, du hättest die Regeln gebrochen«, meinte Prusias. »Deine Kritiker haben eine Petition eingereicht, in der sie bestreiten, dass du den Grylmhoch wirklich besiegt hast. Sie behaupten, du hättest lediglich eine schlaue Möglichkeit gefunden, deinem Gegner zu entfliehen, bevor er dich fertigmachen konnte.«
Max stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Und was glauben Sie?«
»Es sollte dich nicht so sehr interessieren, was ich glaube«, sagte Prusias leichthin. »Damit erweist du deinen Kritikern zu viel Ehre, Max. Es ist leicht, daneben zu sitzen und mit dem Finger zu zeigen.« Er hob sein Glas und zitierte mit seiner Stentorstimme: »Nicht die Kritik zählt, und auch nicht der Mann, der zeigt, wie ein starker Mann strauchelt, oder wie ein Handelnder seine Taten hätte besser machen können. Die Anerkennung gebührt dem Mann in der Arena, dessen Gesicht von Staub, Schweiß und Blut bedeckt ist …« Weißt du, wer das gesagt hat?«
»Nein.«
»Ein amerikanischer Präsident namens Teddy Roosevelt«, informierte ihn der Dämon. »Ein energischer Bursche … hat mich zum Thema Panama konsultiert. Er hat nie offen zugegeben, was ich war, aber ich bin sicher, dass er es wusste.«
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Max ruhig.
»Weil du kein furchtsames Wesen bist und ich nicht will, dass du dich wie eines verhältst«, erklärte Prusias und erhob sich. Die Malakhim traten beiseite, als der große Dämon auf den Tisch zuschritt. »Du hast dich in der Arena vielen würdigen Gegnern gestellt und kümmerst dich trotzdem um die Meinung der Kritiker? Mein Junge, die sind es nicht wert, deinen Namen auszusprechen!«
»Wie wird also das Komitee entscheiden?«, wollte Max wissen.
»Das hängt von dir ab«, meinte Prusias mit hochgezogener Augenbraue. »Willst du den letzten Kampf bestreiten?«
»Ich tue hier nicht, was ich will«, antwortete Max verbittert. »Ich tue, was ich tun muss. Was werden Sie wegen Vyndra unternehmen, wenn ich nicht kämpfe?«
Prusias zuckte mit den Schultern und erklärte schlicht: »Nichts. Ich werde nichts tun, um dir zu helfen. Warum sollte ich?« Der Gedanke ließ ihn beinahe kichern. »Bedingung für meine Unterstützung gegen Vyndra ist, dass du Champion wirst. Etwas anderes habe ich nie gesagt.«
Zornig dachte Max an die vielen Kämpfe zurück, die er bestritten hatte. »Aber ich habe bereits …«
»Belohnungen erstritten, die ausgezahlt wurden«, unterbrach ihn Prusias scharf.
Der Dämon schloss die Augen und hob die Stimme, während er langsam im Raum umherging. »Als Lohn für deine Siege habe ich eintausend Menschen Zuflucht in der Stadt gewährt, die menschlichen Lager mit Waren beliefert und den Vyes verboten, unter ihnen zu jagen. Ich habe diejenigen, die auf dem Bauernhof leben, unter meinen persönlichen Schutz gestellt. Und trotzdem schreist du, ich sei ungerecht?«
Der Dämon schwieg, ging aber weiter auf und ab. Sein großer Schatten wand sich und zitterte an den Wänden und sah aus wie ein Nest zappelnder Schlangen.
Max’ Blick glitt vom Schatten zu dessen Besitzer. Gelegentlich verlockten das Aussehen und das joviale Verhalten des Dämons ihn dazu, ihn für menschlich zu halten, oder zumindest für fast menschlich.
Aber er war kein Mensch, rief sich Max selbst streng ins Gedächtnis. Er war etwas vollkommen anderes. Und als er den schrecklichen Schatten wieder ansah, schoss ihm ein Zitat durch den Kopf: »Und siehe, ein großer roter Drache!«
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er diese Worte das erste Mal gehört hatte, aber sie lösten eine unbestimmte, tiefe Furcht aus. Denn dieser Drache war keine Märchengestalt, auf dessen Speiseplan Jungfrauen standen, sondern ein uraltes Übel. Eines, das ganze Nationen verschlang.
Langsam beruhigten sich die wilden Schatten, und als Prusias die Augen öffnete, war sein Tonfall wieder liebenswürdig.
»Ich würde sagen, quid pro quo hat die Grundlage für eine sehr erfolgreiche Partnerschaft gebildet. Ohne sie würde unsere Beziehung lediglich auf Wohlwollen beruhen. Ich verteile kein Wohlwollen, Max – das ist nicht meine Art. Also ist es ganz einfach: Du hilfst mir, ich helfe dir.«
Max überlegte. Er stand so dicht davor, zu bekommen, was er wollte, so dicht davor, die Gelegenheit zur Rache zu bekommen und dabei noch anderen zu helfen. Es war nur noch ein einziger Kampf. So viele hatte er schon gewonnen.
»Glauben Sie, dass das Komitee mich disqualifizieren wird?«, fragte er.
Der Dämon musste laut lachen.
»Max«, schalt er, »mach dir darum mal keine Gedanken. Das Komitee bin ich!«
»Na gut«, meinte Max. »Ich kämpfe.«
»Ausgezeichnet!«, rief Prusias. »Wir werden verkünden, dass der Kampf um die Meisterschaft in zwei Wochen stattfindet. Mr Bonn wird sich um die Einzelheiten kümmern. Und jetzt sollten wir dir etwas zu essen besorgen. Wenn du dich Myrmidon stellen willst, wirst du all deine Kräfte brauchen.«