KAPITEL 18
Nix und Valya

Es war an einem Nachmittag Ende Mai, als
Max pfeifend den steilen Pfad vom See herauf zum Hof erklomm.
Porcellino versuchte, es ihm gleichzutun, aber seine Bemühungen
brachten kaum mehr als ein feuchtes Pusten hervor.
Claudia blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Du
spuckst«, beschwerte sie sich. »Du spuckst auf meine Fische!«
»Steck sie halt in den Korb«, erwiderte Porcellino
ungerührt. »Du hast sie ja nur in der Hand, weil du angeben
willst.«
»Ich mag es, wie ihre Farben in der Sonne
leuchten«, erklärte Claudia und betrachtete wohlwollend vier
glänzende Forellen. »Du bist ja nur neidisch, weil du keine
gefangen hast.«
»Ich habe jede Menge Fische gefangen«, behauptete
der Junge und bückte sich, um seinen Schuh zu binden. »Aber ich bin
nicht so gierig wie du, deshalb habe ich sie zurückgeworfen. Ganz
kurz bevor wir gegangen sind, habe ich noch einen ganz großen
gefangen!«
»Und warum hast du dann noch einen Köder am
Haken?«, wollte Claudia wissen.
»Ich bin gerne bereit für das nächste Mal.«
Claudia lachte laut und spöttisch und Max befahl
ihr aufzuhören. Sie sollte sich auf ihren schönen Fang
konzentrieren und Porcellino sollte weiter pfeifen üben, damit er
sich von ihrer ständigen Zankerei erholen konnte.
Im warmen Wind trieben Pollen, und der Wald war
voller zwitschernder Vögel und Eichhörnchen, die einander von Baum
zu Baum jagten. Max musste an Julie und seine Freunde in Rowan
denken. Bald standen die Abschlussexamen bevor. Die Bibliotheken
waren bestimmt überfüllt und in den Kaffeehäusern und Kaffees der
Stadt Rowan saßen Schüler mit besorgten Gesichtern über
Runensymbole und elementare Beschwörungen gebeugt … Er dachte an
die Küche und Bob, der jetzt ohne die Gesellschaft von Mr McDaniels
oder den Hexen arbeiten musste. Da ihn das aber traurig machte,
versuchte sich Max lieber Nick und Circe, die alte YaYa oder sogar
Sir Olaf vorzustellen, wie er Frigga und Helga herumkommandierte.
Rowan schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Sein Leben auf dem Hof verlief relativ ruhig und
isoliert. Seit sie Max getroffen hatten, brachten die Kobolde jetzt
zwei Lieferungen im Monat und fünf weitere Kinder wohnten auf dem
Hof. Ihr Wohlstand und ihre wachsende Zahl ließen Max über eine
Vergrößerung nachdenken. Im Haupthaus gab es acht Schlafzimmer,
aber jetzt, wo so viele Kinder da waren, wurde es dennoch langsam
eng, zusammen mit Max, Isabella und Gianna, die gerade Zähne bekam
und häufig quengelte.
Als sie sich dem Hof näherten, hörten sie viele
vertraute Geräusche. Da waren natürlich die Schafe, aber seit dem
letzten Besuch der Kobolde hatten sie auch noch drei Milchkühe und
einen verdrießlichen Bullen. Letzterer muhte auf der Weide und sein
liebeskrankes Rufen gesellte
sich zu den Schlägen der Hämmer auf dem Dach des alten
Bauernhauses – zweifellos reparierten Mario und Paolo die undichten
Ziegel über dem Schlafzimmer an der Nordwestecke. Doch dann hörte
er plötzlich ein unerwartetes Geräusch.
Das Lachen eines Mannes.
Max stürmte die Hügelkuppe hinauf und sah auf der
anderen Straßenseite einen Wagen vor dem neuen Zaun um die
Weinreben parken. Zwei schwarze Stuten waren am Zaun festgebunden
und fraßen Hafer aus Minas Hand. Sie winkte Max zu, als er mit
Porcellino und Claudia im Schlepptau aus dem Wald auftauchte.
Wieder hörte Max das Lachen; es kam von der
Rückseite des Bauernhauses. Er legte die Angel am Wassertrog nieder
und ging zur Terrasse, wo er Isabella im Gespräch mit zwei Fremden
fand, einem Mann und einer Frau.
»Ai!«, rief die Frau, als Gianna nach ihren Haaren
grapschte und versuchte, sie sich in den Mund zu stopfen. Die Frau
lachte und steckte die weißen Zöpfe unter ihr Kopftuch, sodass das
Baby nur an den eigenen rosa Fäustchen kauen konnte.
»Schmier ihr etwas Olivenöl auf den Gaumen«, riet
Isabella ein untersetzter, kräftiger Mann, der schon über siebzig
zu sein schien. »Dann ist sie nicht mehr so quengelig.« Er wandte
seinen Blick Max zu, der kurz vor ihnen stehen geblieben war, um
sie zu beobachten, und rief: »Du musst Max sein!«
»Hallo«, nickte Max dem Paar höflich zu.
»Was für eine Freude!«, sagte die Frau und reichte
Gianna ihrer Mutter zurück. »Isabella hat uns alles über dich
erzählt!«
»Tatsächlich?«, erwiderte Max mit eingefrorenem
Lächeln.
»Sie sagt, du seist ein Segen«, schmunzelte der
alte Mann. »Und wenn ich mich so umsehe, muss ich sagen, sie hat
recht. Ich hätte nie gedacht, dass wir es noch einmal erleben,
dieses Haus in einem so guten Zustand vorzufinden.«
Der alte Mann, der vor Gesundheit und Lebensfreude
strotzte, streckte Max eine kräftige, schwielige Hand
entgegen.
»Ich bin Nix«, stellte er sich vor und zwinkerte
Max unter dichten grauen Augenbrauen hervor mit blauen Augen
fröhlich zu. »Und das ist meine Frau Valya.«
Die mollige Frau lächelte breit und schüttelte Max
mit derselben Herzlichkeit die Hand wie ihr Mann.
»Wir wohnen auf der anderen Seite des Tals«,
erklärte er. »Unser Besuch war längst überfällig, aber wir mussten
uns um Pietro und Ana kümmern, als sie plötzlich bei uns
auftauchten.«
Valya verzog das Gesicht.
»Wie geht es ihnen?«, erkundigte sich Max.
»Keine Ahnung«, erklärte Nix und lehnte sich in
seinem Stuhl zurück. »Sie sind vor ein paar Monaten weitergezogen.
Sie wollten nicht länger bleiben, nachdem eines Abends der Troll
bei uns vorbeisah.«
»Ihr wohnt bei dem Troll?«, fragte Max
interessiert.
Valya nickte. »Direkt in seinem Schatten. Er hat
uns noch nie zuvor belästigt, aber in letzter Zeit kommt er
gelegentlich von seinem Berg herunter. Als die Pässe schneefrei
waren, sind Pietro und Ana weiter nach Osten gezogen.«
»Das war natürlich ihre Entscheidung«, sagte Nix.
»Aber wir waren nicht sehr böse darum, sie los zu sein, nicht wahr?
Uns hat es nie gefallen, was hier vor sich ging«, meinte er und
griff nach einer Olive, die Isabella auf einem Holzbrett
anbot.
»Wenn es Ihnen nicht gefallen hat, warum haben Sie
dann nichts dagegen unternommen?«, wollte Max kühl wissen.
»Das haben wir ja versucht«, erwiderte Valya,
beschmierte ihre Finger mit Olivenöl und rieb damit Giannas Gaumen
ein. »Aber wir konnten es mit so einem Monster nicht aufnehmen. Wir
haben Pietro aufgefordert, hier wegzugehen … und wir haben den
Kleinen Süßigkeiten mitgebracht, wenn wir konnten.«
»Wir haben auch heute welche mit«, schmunzelte Nix
und wies auf einen Stapel Kisten, »aber im Vergleich zu dem, was du
den Broadbrims abgeknöpft hast, scheint es nur eine Kleinigkeit zu
sein. Sieh dir nur an, wie es hier aussieht! Frische Farbe und
Kühe, neues Werkzeug und sogar Schokolade … Richtige, echte
Schokolade!«
»Isabella hat mir das Spinnrad gezeigt«, flüsterte
Valya und neigte sich mit verschwörerischem Lächeln vor. »Das
magische, das ganz von allein arbeitet … wo kriegt man denn so
etwas her? Ich bekomme immer nach einer Weile Krämpfe in den
Händen.«
Max sah Isabella finster an. »Hmm. Da scheint
jemand all unsere kleinen Geheimnisse ausgeplaudert zu haben.
Vielleicht sollten wir doch das eine oder andere für uns
behalten.«
»Oh, darüber müsst ihr nicht streiten!«, gluckste
Valya und rieb sich ihre von den fliegenden Pollen juckenden Augen.
»Wir sind hier alle Freunde. Isabella hat erzählt, dass du ein
tapferer Junge bist, aber sie hat nicht gesagt, wie hübsch du
bist!«
»Um Himmels willen, Valya, jetzt mach ihn doch
nicht verlegen«, befahl Nix. »Außerdem sitze ich hier gleich neben
dir.«
»Ach, sei still«, widersprach ihm Valya. »Ich übe
lediglich das Recht meines Alters aus. Alte Damen können über
so etwas reden, so viel sie wollen. Und wenn ich sagen will, dass
dieser junge Mann hier das schönste Geschöpf auf Gottes grüner Erde
ist, dann tue ich das auch. Glaubst du etwa, ich hätte diese
Herumtreiberin Sophia vergessen?«
»Sie war Schauspielerin«, stöhnte Nix und rieb sich
die Schläfen. »Ich habe sie noch nie getroffen, sondern lediglich
vor fünfzig Jahren einmal einen Film mit ihr gesehen, mein Gott
…«
»Das ist dasselbe«, beharrte Valya
eingeschnappt.
»Sie erinnern sich an Filme?«, warf Max erstaunt
ein.
Doch Nix zwinkerte nur und lächelte Max an, als
hätte er die Frage nicht gehört. Auch als Max sie wiederholte, fuhr
das Paar damit fort, zu streiten, bis das Gespräch wieder zu
angenehmen Belanglosigkeiten überging.
»Nun«, sagte Valya und tätschelte Isabella das
Knie. »Die Kobolde haben euch also Nahrung und Werkzeug gebracht,
ja? Aber was ist mit Spielzeug? Ich wette, die Kleinen könnten auch
etwas zum Spielen gebrauchen.«
»Wahrscheinlich schon«, sagte Isabella. »Aber ihr
seid schon so großzügig gewesen.«
»Unsinn«, wehrte Nix ab und schlug sich aufs Knie.
»Wir lieben es, Geschenke zu machen. Nun, ich denke, an der
Kreuzung könnten wir ein paar Spielsachen eintauschen. Vielleicht
sind sie für andere gemacht – kleine Faune oder Satyrn -, aber den
Kindern werden sie trotzdem gefallen.«
»Wenn ich mal fragen darf«, begann Max, »wie … nun
… wie kommt es, dass Sie sich so frei bewegen? Sie scheinen keine
Angst vor den Kobolden zu haben.«
»Was sollen denn garstige Kobolde oder ein alter
Troll von uns schon wollen?«, entgegnete Valya amüsiert. »Wir
lassen sie in Ruhe und sie lassen uns in Ruhe. Leben und leben
lassen.«
»Nun, Max«, fragte Nix und sah ihn listig an. »Ich
hoffe,
es ist keine Beleidigung, wenn ich sage, dass du unsere Sprache
sprichst, als seist du hier geboren. Isabella sagt, du wärest eines
Tages übers Meer hergekommen. Wie kann das sein?«
Die Frage verwunderte Max und er antwortete
nicht.
»Du redest zu viel«, zischte Valya ihren Mann
stirnrunzelnd an.
»Nein«, erwiderte Max und ging über die Terrasse.
»Das macht Isabella. Bitte entschuldigen Sie mich.«
Er ging hinein und verfluchte Isabellas Naivität.
Er wusste, dass sie es nicht böse meinte, aber es war eindeutig,
dass Nix und Valya im ganzen Tal herumreisten und mit anderen
Menschen oder anderen Wesen zu tun hatten. Das Letzte, was Max
brauchen konnte, war, dass man darüber redete, der Hof würde unter
dem Schutz eines mysteriösen Menschen von jenseits des Meeres
blühen und gedeihen. Es würde möglicherweise Fragen aufwerfen und
Neugier erregen – vielleicht sogar einen Brayma dazu veranlassen,
Nachforschungen anzustellen. Max trat gegen einen Stuhl, der
scheppernd über den Boden rutschte. Er sah sich in dem großen
Zimmer um. Das magische Spinnrad tat in einer Ecke seine Arbeit und
spann gekämmte Wolle zu feinem Garn. An den Wänden war frische
Farbe und in den Vorratsräumen lagen Pökelfleisch, Obstkonserven
und sogar Honig, den die Broadbrims in glasierten Steinkrügen
eingesiegelt hatten. Draußen stand das Gerüst für eine neue
Scheune, ein Stapel frisches Bauholz stapelte sich und es gab eine
Weide voller Vieh. Der neue Reichtum des Haushaltes war ziemlich
augenfällig.
Vielleicht war ja auch er derjenige, der naiv
gewesen war.
Max stieg die Treppe hinauf und ging den langen
Gang zu seinem Zimmer entlang. Es war das kleinste der acht Räume,
nur eine enge Nische unter dem Dach mit einem
schmalen Fenster über die grünen Hügel und die Straße nach Süden
hinaus.
Er legte seine Sachen auf die schmale Schlafmatte:
seinen zerschlissenen Rucksack, den Wanderstab, den Gladius und
seine persönlichen Dinge, zu denen auch der Rasierer seines Vaters
gehörte und die Elfenbeinbrosche von Scathach. Im Rucksack lagen in
einem weißen Leinentuch die Reste der gae bolga. Unter
diesem Leinentuch zog Max die arg mitgenommenen Seiten seines
Tagebuchs heraus.
Es klopfte und Isabella stand mit bekümmertem
Gesicht in der Tür.
»Ich weiß, dass ich etwas falsch gemacht habe«,
sagte sie. »Es tut mir leid – bitte sei mir nicht böse.«
»Wo sind sie?«, fragte Max.
»Valya hält Gianna und Nix spielt mit den Kindern
Fußball.«
»Du vertraust ihnen offensichtlich«, bemerkte
Max.
»Ja, das tue ich«, antwortete sie. »Es sind sehr
gute Menschen. Es tut ihnen leid, wenn sie dich beleidigt haben
sollten.«
Max nickte. »Du musst das verstehen, Isabella«,
erklärte er. »Ich habe viele Feinde, die sich vielleicht fragen,
wohin ich gegangen bin. Diese Feinde wissen, dass ich aus einem
Land jenseits des Meeres komme. Wenn die Leute über den Hof hier zu
reden beginnen … über einen Jungen, der das Monster vernichtet hat,
dann könnten diese Feinde kommen, um nach mir zu suchen. Sie würden
nicht nur den Hof, sondern euch alle finden, und sie sind
wesentlich schlimmer als Kobolde.«
»Ich werde sie bitten, nichts zu erzählen«, sagte
sie. »Ich bin sicher, dass sie das verstehen werden. Es sind
ziemlich kluge Leute – vor dem Krieg waren sie wohl Professoren
oder so etwas. Normalerweise bleiben sie über Nacht, wenn
sie uns besuchen kommen, aber sie werden sicher gehen, wenn du das
möchtest.«
»Nein.« Max fühlte sich plötzlich schuldig, und er
glaubte, ungastlich zu sein. »Ich rede nach dem Essen mit ihnen,
wenn du die Kinder ins Bett bringst. Sie können in meinem Zimmer
schlafen.«
Isabella nickte und betrachtete dann die Brosche.
»Hast du die von einer Frau bekommen?«, fragte sie.
»Ja.«
Mit seiner Erlaubnis untersuchte sie die Brosche
und bewunderte die kunstvolle Verzierung, dann sah sie einen
Eintrag in seinem offenen Tagebuch.
»Kannst du diese Zeichen lesen?«
»Natürlich«, erwiderte Max. »Ich habe sie
geschrieben.«
»Würdest du es mir beibringen?«, bat sie. »Ich
konnte das auch einmal und ich träume oft davon … aber die Träume
verblassen und ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich würde
es gerne wieder lernen.«
Max musste an Astaroths Edikte denken.
»Das kann ich nicht«, seufzte er. »Wenn jemand
erführe, dass du schreiben kannst … es ist die Gefahr nicht wert,
Isabella.«
»Dann kümmere ich mich lieber ums Abendessen«,
meinte sie verletzt.
Eine Stunde später hatten sich schnatternde Kinder
und Erwachsene um die Tische im großen Raum versammelt. Die Kobolde
hatten richtige Tischdecken gebracht, Waltran für die Lampen und
sogar Salz und Pfeffer, die sparsam in kleinen Schälchen auf den
Tischen standen.
Max saß am Kopfende des größten Tisches und
unterhielt sich höflich mit Nix und Valya, wenn sie nicht gerade
von den Kindern belagert wurden, die sie bei früheren Besuchen
schon kennengelernt hatten. Als Claudia dem Paar
zwei Fische aus ihrem Fang serviert hatte, wandte sich Nix an
Max.
»Du bist ein Gottesgeschenk für diesen Ort«, sagte
er, während er sich Butter auf sein Brot schmierte. »Bitte verzeih
uns das Missverständnis vorhin. Wir hatten nichts Böses im
Sinn.«
»Natürlich nicht.« Max konzentrierte sich auf
seinen Teller. »Wir reden nach dem Essen.«
Doch die Gelegenheit ergab sich erst spät am Abend.
Die Besucher und die Geschenke machten die Kinder so übermütig,
dass sie kaum mehr zu bändigen waren. Sie sausten im großen Zimmer
herum, kletterten über die Möbel, packten Süßigkeiten aus und
verbreiteten allgemeines Chaos, bis die erschöpfte Isabella sie
schließlich nach oben scheuchte. Unter heftigem Protest stampften
sie hinauf und Max blieb mit dem älteren Ehepaar allein
zurück.
Er bat sie, sitzen zu bleiben, während er das
Geschirr abräumte. »Ich hoffe, dass Sie meine Bedenken verstehen
können«, begann er. »Es wäre nicht gut, wenn andere hiervon
erfahren würden, von unserer Abmachung mit den Kobolden oder von
mir …«
»Wir werden die Diskretion in Person sein«,
versprach Nix.
Valya nickte zustimmend und nieste in ihre
Serviette.
»Haben Sie sich erkältet?«, fragte Max und stapelte
die Teller in einen Bottich mit Seifenwasser.
»Nein«, antwortete sie und rieb sich die Augen. »Es
sind die Pollen. Um diese Jahreszeit ist es immer besonders
schlimm.«
»Wie lange wohnen Sie schon hier im Tal?«,
erkundigte sich Max.
»Oh«, schmunzelte Nix, »ziemlich lange … länger,
als wir zugeben wollen.«
»Sind das die Alpen da im Norden?«, fragte
Max.
»Nein«, antwortete Nix und griff nach einem Keks.
»Das sind die Apenninen. Die Amerikaner verwechseln das
häufig.«
Max sah den Mann scharf an. »Sie erinnern sich an
Amerika«, bemerkte er. »Und auch an Filme. Das ist
ungewöhnlich.«
»Wie ich schon sagte«, schniefte Valya und sah
ihren Mann finster an. »Du redest zu viel!«
»Schon gut, meine Liebe«, erwiderte Nix ernst und
ließ Max dabei nicht aus den Augen. »Ich habe das Gefühl, dass bei
dieser Freundschaft mehr Vertrauen als Taktgefühl gefragt
ist.«
»Isabella hat gesagt, Sie seien Professoren«,
erinnerte sich Max. »Wo haben Sie gelehrt?«
»In Siena«, sagte Nix. »Ich habe Mathematik
unterrichtet und Valya Medizin.«
»Wie kommt es, dass Sie sich an Dinge vor dem
Verblassen erinnern können?«, fragte Max. »Wieso können Sie in
diesem Tal leben, als sei nichts geschehen? Da stimmt doch etwas
nicht… da ist etwas falsch!«
»Die Kinder haben gesagt, dass du Bilder erzeugen
und Lichter in der Luft erscheinen lassen kannst«, sagte Valya.
»Sie sagen, dass aus deinen Händen Feuer kommt. Sie sagen, du seist
ein Zauberer.«
Nix nieste in seinen Ärmel und schob dann eine
flackernde Kerze von seinen immer roter werdenden Augen fort.
»Sozusagen«, gab Max zu, da er einsah, dass Leugnen
sinnlos gewesen wäre.
»Nun, wir sind auch Magier«, lächelte Nix.
»Sozusagen …«
Mit einem Fingerschnippen gingen die Kerzen aus und
flackerten dann erneut auf.
Nix kicherte leise. »Nun, das ist auch schon so
ziemlich alles, was wir an Tricks draufhaben. Wir haben die
Eingangstests nicht bestanden …«
»Die Tests für die Potenziellen?«, stieß Max
aufgeregt hervor. »Sie waren … Potenzielle?«
»Bist du ein Schüler von Rowan?«, fragte Valya.
»Das haben wir schon vermutet. Wir hätten die Schule so gerne
besucht, aber es hatte nicht sein sollen.«
»Ist es dort so schön, wie man sagt?«, wollte Nix
wissen.
»Ja«, antwortete Max und die Erinnerung ließ ihn
lächeln. »Es ist ein ganz besonderer Ort. Aber… warum haben Sie
nicht bestanden?«
»Oh«, meinte Valya achselzuckend. »Diese Tests
waren sehr anspruchsvoll. Wir haben beide beim letzten
versagt.«
Max musste an seine eigene Prüfung durch Nigel vor
langer Zeit in Chicago denken. Im letzten Test wurden sein
Charakter und sein Mut geprüft. Waren Nix und Valya
Feiglinge?
Nix nieste erneut und rieb sich die Augen, die rot
und entzündet aussahen. »Es wird spät«, meinte er schniefend und
sah seine Frau an.
»Geh schon hinauf, mein Lieber«, sagte sie. »Du
wirst nach einem guten Mahl immer so müde und ich habe noch meine
Strickarbeit.«
Er wünschte den beiden eine Gute Nacht und ging die
Treppe hinauf. Als er weg war, griff Valya in ihre Tasche und holte
ein Wollknäuel heraus, aus dem sie ein paar Socken für Mario
strickte, den sie am besten kannte.
»Er wächst wie Unkraut«, seufzte sie. »Und
schließlich können ja nicht ständig seine Zehen durch die Löcher
sehen, oder?«
»Wissen Sie«, begann Max, während er Becher
einsammelte, »Mario hat mir neulich eine lustige Frage gestellt.
Ich war völlig perplex, aber ich bin sicher, dass eine Professorin
eine Antwort darauf hat.«
»Ich werde mein Möglichstes versuchen«, amüsierte
sie sich mit klappernden Nadeln.
»Nun«, erzählte Max. »Da ist ein Bauer, der hat
einen Fuchs, ein Huhn und einen Sack Getreide. Er muss alle drei
mit seinem Boot über einen Fluss bringen, kann aber immer nur eines
auf einmal mitnehmen.«
»Oh?«, fragte Valya und sah mit höflichem Interesse
auf.
»Ja, aber da liegt das Problem«, fuhr Max fort.
»Wenn der Bauer nicht aufpasst, frisst das Huhn das Getreide oder
der Fuchs das Huhn.«
»Natürlich«, bestätigte Valya. »Das liegt in ihrer
Natur.«
»Ja, genau. Die Frage ist also: Wie kann der Bauer
alle drei sicher über den Fluss bringen, wenn er jedes Mal nur
einen Passagier mitnehmen kann?«
»Nun, das ist doch einfach«, behauptete Valya.
»Wenn er nur das Getreide mitnimmt … nein, dann frisst der Fuchs
das Huhn. Hmm … Er muss den Fuchs hinüberbringen! Nein, dann frisst
das Huhn das Getreide.«
Max beobachtete Valya scharf, während sie sich mit
dem Rätsel abmühte. Die Stricknadeln hatte sie beiseitegelegt und
das Wollknäuel war zu Boden gerollt. Sie kaute an ihrer Lippe und
wiegte sich vor und zurück, während ihre Stimme immer aufgeregter
klang.
»Aber er kann doch nur eines nehmen!«, brummte sie
leise und zählte sich die Bedingungen des Rätsels auf. Max stand am
Tisch und sah, wie sie mit den Fingernägeln über den Tisch kratzte.
Er ging zu einem Platz in der Nähe der Treppe und ließ unauffällig
ein Messer in seine Hand gleiten.
»Valya«, sagte er, doch die Frau reagierte nicht.
Max schnippte mit den Fingern und rief lauter.
Sie sah ihn mit roten Augen misstrauisch an und
wiegte sich immer noch hin und her.
»Glaubt ihr wirklich, ich weiß nicht, was ihr
seid?«, fragte Max bedrohlich leise.
Aus Valyas Gesicht wich das Blut und ihr Atem kam
plötzlich in schnellen Stößen.
»Und glaubt ihr, ich weiß nicht, dass Nix direkt
hinter mir steht?«
Am Ende des Satzes wirbelte Max herum und sah ein
verzerrtes graues Gesicht über sich. Mit gefletschten Zähnen wollte
der Vye ihn an den Schultern packen, doch Max entwand sich ihm,
drehte ihm den Arm auf den Rücken und trat ihm die Beine weg. Einen
Moment später lag der benommene Vye auf dem Rücken und Max saß über
ihm.
»Tu ihm nicht weh!«, flehte Valya, die fast von
ihrem Stuhl fiel. »Bitte!«
»Rühr dich nicht von der Stelle!«, fauchte Max sie
an und hielt dem Vye sein Messer an die Kehle. »Wenn du dich
bewegst, ist das sein Ende, verstanden?«
Der Vye keuchte in Max’ Griff, ein heiseres
Pfeifen, das sich seiner Kehle entrang, an die sich die Klinge
presste. Nix’ Fell war bleigrau und seine eisblauen Augen
verdrehten sich, um Max anzusehen, während sich die schwarze
Schnauze zum Sprechen verzog. Seine Stimme klang beängstigend
menschlich, es war die des großväterlichen Professors, der mit den
Kindern gespielt hatte.
»Wir verstehen das vollkommen«, keuchte er, »mein
lieber Junge, du bist der, der nicht versteht!«
»Was gibt es denn da zu verstehen?«, schäumte Max.
»Zwei Vyes, die so feige sind, dass sie ihre Beute umgarnen und
bestechen müssen?«
»Nein«, wandte Valya ein und in ihrer Stimme
schwang
Furcht mit. »Das ist es ganz und gar nicht … du musst uns das
erklären lassen.«
»Wir lieben Kinder«, sagte Nix leise. »Wir würden
ihnen nie etwas antun.«
»Das stimmt«, bestätigte Valya. »Bitte verurteile
uns nicht, nur weil wir anders sind. Hätten wir den Kindern etwas
tun wollen, dann hätten wir es doch längst getan.«
»Aber ihr seid Vyes«, beharrte Max und sah sie
finster an. »Vyes sind zu mir nach Hause gekommen. Vyes haben Rowan
angegriffen. Vyes waren es, die Astaroth zurückgebracht
haben.«
Valya bekreuzigte sich.
»Bitte!«, zischte sie. »Bitte rufe nicht das Böse
an, auf dass es dich nicht hört!«
»Ein Vye mit Angst vor dem Bösen?«, höhnte Max und
verstärkte seinen Griff um Nix. »Vyes sind böse. Ich weiß
alles über eure Art!«
»Deine Kenntnisse stammen aus Rowan«, hustete Nix.
»Und Rowan hat unsere Art, wie du es so schön sagst, nie
verstanden. Bitte, mein Junge, lass mich aufstehen. Wir führen
nichts gegen dich oder jemand anderen im Schilde.«
»Wenn ihr nichts Böses vorhabt«, erwiderte Max,
»warum habt ihr dann eure Gestalt verwandelt? Warum hast du
versucht, dich von hinten an mich heranzuschleichen?«
»Der Grund dafür ist nicht so düster, wie du
annimmst«, erklärte der Vye. »Ich habe meine Gestalt verändert,
weil die menschliche Gestalt schmerzhaft für mich ist. Ich hatte
mich bereits im Zimmer zurückverwandelt und bin heruntergekommen,
weil ich gehört habe, dass Valya aufgeregt war. Mir war klar, was
du vorhattest. Ich wollte nur, dass du aufhörst, sie zu quälen, und
dich aufhalten, bis wir es dir erklären können.«
»Warum sollte ich euch glauben?«, fragte Max.
»Warum
sollte ich eurem Leben nicht gleich hier und jetzt ein Ende
setzen?«
»Weil du mir nicht wie ein Mörder vorkommst.«
»Bitte lass meinen Mann aufstehen«, sagte Valya
leise. »Du tust ihm weh.«
Die ernsthafte Sorge, die in ihrem letzten Satz zum
Ausdruck kam, ließ Max innehalten. Nix’ Körper war nicht länger
angespannt, sein Atem ging langsam und flach, doch seine Augen
blickten starr geradeaus. Der Vye schien sich völlig seinem
Schicksal zu ergeben, was auch immer Max mit ihm vorhaben
sollte.
Langsam ließ Max das verfilzte Fell los und stieg
von ihm herunter. Nix sah vorsichtig Max und sein Messer an,
während er aufstand und zu seiner Frau am Tisch ging. Vor Max’
Augen schrumpfte der Vye zusammen und seine Wolfsgestalt
verschwand, bis er nur noch der alte Mann war, der in seinem
Nachthemd müde und erschöpft wirkte.
»Danke«, sagte er und stieß den Atem aus, als ihm
Valya besorgt den Schweiß von der Stirn wischte.
Lange Zeit sprach keiner von ihnen und im großen
Raum herrschte Stille, während die Schatten im flackernden Licht
der Kerzen tanzten. Max beobachtete Nix und Valya genau und ließ
den Blick zwischen ihnen hin und her gleiten, als sie sich ansahen
und einen Moment ohne Worte miteinander teilten.
»Na gut«, meinte Max und deutete mit dem Messer auf
sie. »Ihr wolltet etwas erklären, jetzt habt ihr die Gelegenheit
dazu.«
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte Valya mit müdem
Lächeln. »Es ist nicht leicht, ein Vye zu sein. Du musst dir
vorstellen, dass du dein ganzes Leben lang gejagt wirst und deine
Identität verbergen musst, damit die Rowan-Agenten dich nicht
aufspüren.«
»Ich habe vier Geschwister an Rowan verloren«,
berichtete Nix und zählte sie an seinen Fingern ab.
»Meine ganze Familie ist vor zwanzig Jahren zur
Strecke gebracht worden«, erzählte Valya. »Als sie sich zum
Geburtstag meines Onkels versammelten, gerieten sie im Wald in
einen Hinterhalt.«
»Du fragst dich, warum wir uns verstecken?«, fragte
Nix. »Du fragst dich, warum wir uns als Menschen verkleiden und
unsere wahre Natur verbergen?«
»Rowan würde die Vyes nicht jagen, wenn sie nichts
Böses tun würden«, wandte Max ein.
»Ach«, widersprach Valya, »würden Vyes denn Böses
tun, wenn die Menschen sie nicht jagen würden? Nein, bitte sage
nichts, höre nur einen Augenblick zu.«
Max ließ sich zurücksinken und verkniff sich seine
Bemerkung, während Valya fortfuhr.
»Es gibt viele Vyes, die sich von Menschen ernähren
und die sich dem Feind angeschlossen haben. Es gibt Vyes, die
Regierungen und Unternehmen unterwandert und dem Dämon zur Rückkehr
verholfen haben. Aber Vyes werden nicht böse geboren, mein Lieber.
Vyes sind nicht an sich böse.«
»Genau«, schnaufte Max empört. »Vyes werden nur
missverstanden. Ich verstehe.«
»Jetzt bin ich neugierig«, sagte Nix nachdenklich.
»Was weißt du denn wirklich über unsere Geschichte?«
»Alles«, behauptete Max und zitierte aus dem
Handbuch von Rowan. »Fleischfressende Gestaltwandler, die heimlich
unter den Menschen leben. Vyes können Opfer mit ihren Stimmen
hypnotisieren, aber Rätsel können sie ablenken und eine
obsessiv-zwanghafte Reaktion auslösen. Sie sind normalerweise
größer als Werwölfe, doch ihre Erscheinungsformen sind
vielfältiger. Sie können ihre Verwandlung
kontrollieren, da sie nicht vom Stand des Mondes abhängig sind.
Sie sind sehr lichtempfindlich. Intelligente Gegner, die sich oft
fürs ganze Leben an einen Partner binden und zu zweit arbeiten
…«
»Genau wie wir dachten«, sagte Valya zu ihrem Mann.
»Rowan bringt euch lediglich bei, wie man uns aufspürt und
tötet.«
»Es waren Vyes, die versucht haben, mich zu
entführen, bevor ich auch nur jemanden von Rowan getroffen hatte«,
sagte Max düster.
»Ja, viele von uns sind böse geworden«, gab Nix zu.
»Das wollen wir gar nicht abstreiten. Aber Vyes sind von Natur aus
nicht böser als Menschen oder Wölfe oder Bären. Die Menschen haben
schon immer alles bekämpft, wovor sie Angst hatten, und vor Vyes
hatten sie von Anfang an Angst.«
»Was war denn der Anfang?«, erkundigte sich Max.
»Und warum habe ich noch nichts davon gehört?«
»Du hast noch nichts davon gehört, Max, weil es
unterdrückt und zu seiner ganz eigenen Mythologie stilisiert worden
ist«, erklärte Nix. »Aber die Wurzeln der Vyes liegen ganz in der
Nähe dieses Tals. Sie sind mit der Gründung von Rom
verbunden.«
»Was haben die Vyes denn mit der Gründung Roms zu
tun?«, fragte Max und sah das Paar zweifelnd an.
»Nun«, erzählte Valya. »Du hast wahrscheinlich
gelernt, dass Rom nach einem Mann benannt wurde. Er hieß Romulus,
und er und sein Bruder Remus wurden ausgesetzt, weil sie in der
Wildnis umkommen sollten. Doch sie wurden von einer Wölfin
gerettet, die für sie sorgte, sodass sie überlebten. Nun war diese
Wölfin kein normaler Wolf, sondern ein alter Geist in Wolfsgestalt,
und einiges von ihrem Wesen ging auf die Kinder über, die sie
großzog.«
»Als sie erwachsen wurden«, fuhr Nix fort, »wollte
Romulus
über die Menschen herrschen und versuchte, die wilde, tierische
Seite seines Wesens zu unterdrücken. Doch Remus teilte weder die
Ambitionen noch die Scham seines Bruders und verbrachte sein Leben
im Wald. Die Geschichtsschreiber sagen, dass Romulus seinen Bruder
erschlug, um unbestritten über die Stadt zu herrschen, die seinen
Namen tragen sollte, doch so war es nicht. In Wahrheit machte sich
Romulus Sorgen, dass Remus ihr Geheimnis verraten und allen ihre
doppelte Natur enthüllen könnte. Aus Furcht, dass man sie ablehnen
oder sogar verfolgen könnte, plante Romulus, seinen Bruder zu
töten, und so dafür zu sorgen, dass das Geheimnis gewahrt blieb.
Aber er brachte es nicht fertig, den entscheidenden Schlag zu
führen, und schickte seinen Bruder stattdessen ins Exil. Daher
wanderte Remus nach Norden und verschwand aus der
Geschichtsschreibung.«
»Wir glauben, dass er genau hier vorbeigekommen
ist«, sagte Valya und drückte Nix’ Hand.
»Nun, mit Sicherheit können wir es nicht sagen,
aber es ist wahrscheinlich«, meinte Nix. »Was wir allerdings
wissen, ist, dass Remus eine etruskische Wicca traf und dass die
beiden den Rest ihres Lebens zusammen verbrachten und schließlich
nach Norden wanderten, nach Gallien und Germanien. Ihre Kinder
waren die ersten Vyes und diese direkten Nachfahren waren mit dem
wilden Geist ihres Vaters und dem mystischen Wesen ihrer Mutter
gesegnet. Außerdem verfügten sie über magische Fähigkeiten, genau
wie die, die an den alten Schulen lernten, doch die Vyes wurden
dort nie zugelassen.«
»Warum?«, wollte Max wissen.
»Weil die Menschen Angst vor ihnen hatten«,
erklärte Valya. »Es war dasselbe, als Nix und ich die Prüfungen für
die Potenziellen machen mussten.«
»Was für eine alberne Show«, seufzte Nix
kopfschüttelnd.
»Eines Morgens sah ich etwas höchst Unerwartetes – ein goldenes
Licht, das gerade außerhalb meiner Reichweite flackerte und tanzte.
Ich verfolgte es vergeblich, aber kurz darauf erhielt ich einen
Brief aus Amerika und einer weit entfernten Schule namens Rowan. Am
nächsten Tag, als meine Eltern auf dem Feld arbeiteten, kam eine
Anwerberin. Ich habe die ersten beiden Tests bestanden, aber der
dritte versetzte mir so einen Schreck, dass ich einen Fehler machte
und meine wahre Gestalt annahm.«
»Und was hat die Anwerberin getan?«, fragte
Max.
»Hat ihre Tasche gepackt und ist abgereist.« Nix
zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht. »Sie war natürlich
überrascht, aber bestimmt nicht so sehr wie meine Eltern, als sie
erfuhren, was passiert war. Wir rafften unsere Sachen zusammen und
flüchteten, bevor die Agenten die Jagd auf uns begannen. Für den
Moment waren wir sicher, aber irgendwann spürten sie meine Familie
auf. Ich war an der Universität, als es geschah.«
»Aber das ist ja schrecklich.« Max war beunruhigt.
»Ich meine, hatten sie etwas falsch gemacht?«
»Sie waren schuldig, Vyes zu sein«, erklärte
Nix.
»Es tut mir so leid«, murmelte Max. »Ich … ich
hatte keine Ahnung, dass so etwas geschehen kann … dass Rowan für
so etwas verantwortlich sein könnte.«
»Es ist gut, dass du Rowan verlassen hast, bevor du
auch ein Agent geworden bist«, meinte Valya. »Für dich besteht noch
Hoffnung.«
»Aber ich bin bereits ein Agent«, gestand Max
errötend. »Zumindest war ich das.«
»Du?«, lachte Nix. »Entschuldige, aber bist du
nicht ein wenig zu jung für einen Agenten?«
»Nein«, erwiderte Max. »Ich habe einen Eid
abgelegt. Ich bin sogar im Roten Dienst.«
Das Paar schauderte bei der Nennung dieses Namens,
doch dann schlug Valya ihrem Mann kichernd auf den Arm.
»Er zieht uns nur auf, mein Lieber. Das ist ein
Witz.«
»Nein«, antwortete Max und stand auf, um seinen
Ärmel zurückzuziehen, sodass sie die Tätowierung auf seinem
Handgelenk sahen. »Ich bin wirklich ein Mitglied des Roten
Dienstes.«
Die beiden alten Vyes starrten ihn an und vor
Entsetzen fiel ihnen der Unterkiefer herunter.
»Soll das heißen, du bist… Max McDaniels?«,
fragte Valya ungläubig.
Max nickte. »Aber … aber das ist unmöglich!«, stieß
Nix hervor. »Max McDaniels ist ein Monster, kein Junge!«
»Der Hund trinkt das Blut seiner Opfer«, murmelte
Valya leichenblass.
»Er ist ein Dämon«, fügte Nix hinzu. »Ein Dämon in
Menschengestalt...«
»Wo habt ihr denn den Unsinn gehört?«, erkundigte
sich Max.
»Was soll das heißen, wo habt ihr das gehört?«,
wunderte sich Valya. »Jeder Vye hat von ihm gehört. Er ist zum
Schreckgespenst geworden, um kleine Vyes zu bändigen.«
»Ins Bett oder Max McDaniels wird euch holen!«,
zitierte Nix, als ob es ein Sprichwort wäre.
»Ihr macht Witze!«, meinte Max, gleichermaßen
amüsiert wie erschrocken. »Aber so bin ich nicht!«
»Genau!«, rief Nix. »Der echte Max McDaniels ist
drei Meter groß …«
»… und bei seinem Schrei erzittern die Berge«, warf
Valya bestimmt ein.
»Du bist nur ein Bengel mit schrägem Humor«,
seufzte Nix.
Aber als Max sie ansah, glitt ihr Blick immer
wieder zu der Tätowierung auf seinem Handgelenk – die erhobene Hand
mit der roten Kordel, dem Symbol für die Elite von Rowan.
»So was konnte ja nur uns passieren«, schnaufte
Valya niedergeschlagen und zog ihren Schal fester.
»Ich habe ja gesagt, dass etwas nicht stimmt«,
murmelte ihr Mann. »Kobolde bringen nicht einfach jemandem magische
Spinnräder.«
»Und jetzt werde ich sterben«, stöhnte Valya und
warf einen Blick auf die glänzende Pracht des Gerätes. »Sterben,
bevor ich es auch nur einmal benutzen konnte.«
»Wovon redet ihr«, wollte Max wissen.
»Nun, du wirst uns töten«, stellte Nix sachlich
fest.
»Und die Wände mit unseren Eingeweiden tapezieren«,
fügte Valya hinzu. »Das ist dein Markenzeichen.«
»Das ist doch nicht euer Ernst«, sagte Max und sah
sie an.
Doch sie nickten ernst und hielten sich an den
Händen.
»Ich werde euch nichts tun«, lachte Max. »Ich
wollte mich eigentlich entschuldigen – euch um Vergebung bitten für
das, was ihr durch Rowan erlitten habt. Wenn das, was ihr sagt,
stimmt, dann hat es schreckliche Missverständnisse und großes
Unrecht gegeben.«
»Dann … dann willst du uns also nicht töten?«,
flüsterte Valya und verzog das Gesicht.
»Nein«, wehrte Max ab. »Ich wollte euch Tee machen.
Ihr könnt euch verwandeln, in was ihr wollt. Betrachtet euch als
meine Gäste.«
»Meint er das ernst, Valya?«
»Ich glaube schon.«
»Denk doch nur«, rief Nix und zog sich das
Nachthemd
zurecht, sodass es über seine blassen Schienbeine reichte. »Max
McDaniels macht uns Tee!«
»Mit zwei Stück Zucker, wenn es ihm nichts
ausmacht«, bat Valya.
Bis tief in die Nacht unterhielt sich Max mit den
Vyes. Zu seiner eigenen Überraschung empfand er ihre Gesellschaft
als ungeheure Erleichterung. Das Paar hörte ihm aufmerksam zu und
gab ihm auf seine vielen Fragen über Vyes, ihre persönliche
Geschichte und das Königreich Blys wohlüberlegte Antworten.
Das letzte Thema interessierte Max am meisten, doch
er musste enttäuscht feststellen, dass Nix’ und Valyas Kenntnisse
darüber durch die Alpen und die Apenninen beschränkt waren. Vom
Land hinter den Bergen wussten sie nur wenig und konnten einzig
berichten, dass Blys in zehn Herzogtümer aufgeteilt war, die von
Dämonen von hohem Stand oder hoher Abstammung regiert wurden.
Prusias war vielleicht König, aber sein Königreich bestand offenbar
aus einem Splitterbündnis, in dem sich die Machtverhältnisse
verschoben wie Treibsand.
Nix und Valya zählten ihm Namen von Grafschaften
und anderen Ländereien auf, doch das waren nur zufällige Schnipsel,
die sie von den Kobolden oder von anderen auf den florierenden
Handelsstraßen aufgeschnappt hatten. Es ergab sich kein System,
nichts, was so wertvoll gewesen wäre wie eine Landkarte des
Königreichs oder eine Liste der großen Herzogtümer und ihrer
Herrscher. Max hatte etwas Gutes bewirkt, seit er in Blys
angekommen war, aber seiner Rache war er nicht nähergekommen, und
jedes Mal, wenn er den Rasierer seines Vaters in der Hand hatte,
gärte es in ihm.
»Du hast öfters von Vyndra gesprochen«, sagte Valya
und sah ihn nachdenklich an. »Und in deiner Stimme klingt Hass.
Hat dir dieser Dämon Unrecht getan?«
»Er hat meinen Vater ermordet«, antwortete Max mit
einer Stimme, die so angespannt klang wie eine Klaviersaite.
»Ah«, machte Nix. »Also willst du den Dämon
aufsuchen und dich an ihm rächen, stimmt’s?«
Max nickte und die Vyes wurden sehr ernst.
»Max«, begann Nix vorsichtig, »das ist ziemlich
dumm. Du steckst damit den Hals in die Schlinge.«
»Vielleicht«, gab Max ruhig zurück. »Aber es ist
schließlich mein Hals, den ich riskiere.«
»Würde Mina dir zustimmen?«, fragte Valya. »Oder
Isabella? Sie verlassen sich auf dich.«
»Ich werde nicht gehen, bevor hier nicht alles
sicher ist«, sagte Max. »Aber der Tag wird kommen.«
»Die Welt hat sich verändert«, meinte Nix und goss
Valya Tee nach. »In dieser Welt sind wir alle Waisen, Max. Wir
haben alle jemanden verloren. Du hast deinen Vater verloren. Aber
diese Kinder … haben sie nicht alles verloren?«
Unter dem nachdenklichen Blick des Vye wandte sich
Max ab.
»Rowan hat unsere Familien ermordet«, fuhr Nix
sanft fort. »Sie haben uns fast alles genommen. Sollten wir noch
mehr von uns dieser Tragödie opfern? Sollten Zorn und Hass uns für
den Rest unseres Lebens beherrschen? Ist das weise?«
»Ich bewundere euch, dass ihr damit so umgehen
könnt«, sagte Max, steckte die Hände in die Hosentaschen und
starrte aus einem Fenster an der Ostseite. »Aber ich kann das
nicht, Nix. Ich kann es einfach nicht.«
»Dann betrachte mal die praktischen
Gesichtspunkte«, verlangte Valya und wedelte mit einem ihrer dicken
Finger.
»Dämonen sind nicht von dieser Welt. Sie sind unsterblich und –
verzeih mir meine Direktheit – kein Junge geht einfach zu ihnen und
vernichtet so einen Dämon. Wenn dieser Vyndra hinter Prusias’ Krone
her ist, dann muss er ziemlich mächtig sein. Vielleicht einer der
Herzöge. Er ist Feuer, Tod und Pest. Er würde dich so sicher
vernichten, wie die Sonne aufgeht.«
Max betrachtete die dunkle Landschaft und den
Lichtstreifen, der die Dämmerung ankündigte. »Ich bitte nicht um
Begleiter«, sagte er und wandte sich zu ihnen, »nur um
Informationen.«
Valyas Wolfsgesicht war ruhig und gefasst und
entsprach so gar nicht der wilden Fratze tierischer Schlauheit, die
Max mit ihrer Art immer in Verbindung gebracht hatte. Sie zupfte an
ihrer Kette und betrachtete den kleinen Glücksbringer aus
getriebenem Gold.
»Er hat Vertrauen zu uns, Nix«, seufzte sie. »Wir
müssen ihm auch vertrauen.«
»Das müssen wir wohl, Valya.«
Damit stiegen die Vyes müde die Treppe hinauf, um
noch ein oder zwei Stunden zu schlafen, bevor der Haushalt
erwachte.
Sie blieben noch zwei Tage auf dem Bauernhof. Wenn
die Kinder sie nicht belästigten, weil sie mit ihnen spielen
wollten oder sie nach Süßigkeiten oder Geschichten verlangten,
stellten die Vyes ihre Erfahrung den vielen Berechnungen zur
Verfügung, die Max und Isabella beschäftigten.
Sie berechneten die Zahl der zu fütternden Münder,
die Produktion der Eier, Pflanzzyklen, Ernteerträge und
Nahrungsvorräte. Max bemerkte, dass die Vyes sich selbst stets bei
der Zählung mit einschlossen und behaupteten, dass sie bei den
Schätzungen »konservativ« sein mussten. Er sagte nichts dazu, aber
insgeheim hoffte er, dass sie für immer
einziehen und sich um Isabella und die Kinder kümmern
würden.
Als die Vyes schließlich abreisten, belud Max ihren
Wagen, während sie sich von den Kindern verabschiedeten und Gianna
streichelten. Valya kletterte auf den Fahrersitz und versprach Max,
dass sie ihr Bestes tun würden, um Informationen zu sammeln, mit
denen sie in ein oder zwei Monaten wiederkommen wollten. Nix
schnalzte mit der Zunge, schwang die Zügel und schnaubend trotteten
die Pferde die alte Straße hinunter.