14
Betty parkte den VW genau daneben und stieg aus. Sie rief Philipp, der nun in Sophies Blickwinkel auftauchte, zu:
„Wie weit bist du?“
Er sprang aus einem Loch im Waldboden, das er zuvor gegraben hatte, denn sein Gesicht, schweißgebadet und rot von der Anstrengung, verriet es.
Es war eine Kiesgrube. Ein paar hundert Meter weiter konnte sie einen großen Bagger erkennen.
Sophie begriff seinen perfiden Plan. Sie befanden sich vor einem großen Loch in der Erde, das nur wenige Meter weiter mit Schlamm und anderen Materialien zugeschüttet werden sollte, die vom Kies getrennt wurden und nicht verwendet werden konnten. Bis man nach ihnen suchen würde, würde man hier nichts mehr von ihnen finden.
Die Zeit tickte gegen sie.
Als Philipp sich dem WV näherte, schmiegte sie sich an Frank, der regungslos neben ihr lag.
Sie lagen mit den Köpfen zum Fahrerhaus und Uta schrie plötzlich laut auf, als würde sie abgeschlachtet.
Sophie musste mit ansehen, wie Betty ihre Füße packte und sie von der Ladefläche zog.
„Dich hört sowieso keiner. Schrei nur!“, lachte sie hämisch und ließ Utas zerschundenen Körper auf den Boden fallen.
Sophie hörte einen dumpfen Aufprall und dann herrschte Stille.
„Wach endlich auf!“, flüsterte sie in Franks Ohr.
Sie zitterte und zog ihre Füße dicht an ihren Körper, damit Betty sie nicht zu greifen bekam.
Aber es passierte nichts. Eine gespenstische Ruhe umgab sie.
Sophie hörte nur ihren eigenen schnellen Atem und sie fühlte sich, als würde sie gleich zum Schafott abgeholt.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch große Angst gespürt wie in diesem Augenblick. Wenn sie jetzt kämen und sie erstechen oder erschießen würden, dann wäre es endlich vorüber. Aber dieses Nichtstun wurde für sie unerträglich.
Ein lauter jammernder Schrei befreite sich aus ihrem Mund und entlud die Angst in ihr.
Dann spürte sie, wie Frank von ihr weggezogen wurde und sie klammerte sich an ihm fest.
Betty schlug ihr ins Gesicht, sie schwankte nach hinten und ließ Frank los.
Kurze Zeit später lag nur noch Sophie auf der Ladefläche.
Sie stützte sich auf ihre gefesselten Handgelenke und richtete sich auf.
Ihr bot sich ein Bild des Grauens. Auch wenn sie nur mit einem Auge sehen konnte, weil das andere mit Blut zugeklebt war, konnte sie es klar vor sich erkennen.
Betty stand Uta gegenüber, die große Probleme hatte, ihr Gleichgewicht zu halten und aufrecht stehen zu bleiben.
„Warum hast du das getan?“
Speichel spritzte wie eine Fontäne aus ihrem Mund in Utas Richtung.
Fuchsteufelswild grub Betty ihre Füße in den weichen Waldboden und drückte sie vor sich her.
Sophie erinnerte sich daran, dass sie diese Situation schon einmal erlebt hatte – in einem ihrer Träume.
Betty schob die schwache Uta zu einem Abhang.
Sophies Mund wurde trocken und sie glaubte, ohnmächtig zu werden, denn ihr fiel das Ende des Traumes ein. Sie sah Frank wieder in einem Holzsarg mit gebrochenen Beinen und totem Blick.
„Lass sie in Ruhe. Wir müssen uns erst um die da kümmern“, protestierte Philipp und kam auf Sophie zu.
„Deine Neugierde wird euch umbringen“, scherzte er und zog sie zu sich heran.
Sophie sträubte sich nicht, wollte ihre wenige Kraft aufheben, um sich zu wehren, wenn sich auch nur eine Chance vor ihr auftat.
Er zerrte sie zu dem Baum, an dem Frank angelehnt saß.
Er hatte seine geschwollenen Augen ein wenig geöffnet und Sophie war erleichtert, dass er bei ihr war.
Sie setzte sich neben ihn und klammerte sich fest.
„Was hat er mit dir gemacht?“, fragte sie und weinte.
Es tat so weh, ihn in diesem Zustand zu sehen, und alles nur, weil sie nicht auf ihn warten konnte.
„Frag lieber, was du mit ihm gemacht hast“, mischte sich Philipp ein, der sich vor sie stellte und verachtend zu ihr herab sah. „Warum konntest du nicht einfach nach Hause fahren? Warum musst du dich in das Leben anderer einmischen?“, fluchte er und stieß seinen rechten Fuß tief in den Waldboden.
Sophie zuckte zusammen und glaubte, einen Tritt abzubekommen.
Betty hatte auf ihren Bruder gehört und Uta in Ruhe gelassen, die auf allen vieren durch den Wald robbte. Sie hatte seit Stunden keine Drogen mehr bekommen und dementsprechend reagierte ihr Körper. Ihre Muskeln zitterten und sie verlor die Orientierung. Hinzu kamen Magenkrämpfe, die sie immer wieder außer Gefecht setzten. Sie rollte sich auf dem Boden hin und her und schrie furchtbar.
„Was wollen Sie von uns?“, fragte Sophie, doch sie bekam keine Antwort.
Betty lief zum Wohnmobil.
Philipp ließ sich nicht von Sophie stören und packte sich Frank, der laut aufstöhnte, als er ihn hochzog.
„Wusstest du denn nicht, dass Neugierde tödlich sein kann?“, fragte er rhetorisch.
„Die Papiere sind hier!“, rief Betty ihm zu. „Ich habe sogar den Kaufvertrag, beide Exemplare.“
Sie wedelte mit den Blättern.
Sophie erinnerte sich noch gut an den Morgen, als Frank sie überrascht hatte. Er hatte ihr den Kaufvertrag gezeigt und ihn ins vordere Handschuhfach gelegt.
Sie sah Philipp an und spürte die Macht.
Er lachte triumphierend.
Er hatte Frank am Kragen gepackt und hielt ihn vor sich wie eine Marionette.
„Deine Neugier wird ihn das Leben kosten oder hast du etwas anderes zu bieten? Würdest du dein Leben für ihn opfern? Ist eure Liebe so groß, dass du für ihn sterben würdest?“, fragte er und sah Sophie erwartungsvoll an.
„Tun Sie ihm nichts“, flehte sie und sah zu Betty, die sich neben Philipp gestellt hatte.
„Ich kann dieses Gejammer nicht mehr ertragen. Bring es endlich zu Ende!“, forderte sie von ihrem Bruder.
Philipp lächelte.
Er hatte Frank erneut eine Spritze gesetzt, um ihn gefügig zu machen.
„Ich frage mich, ob er gerade alles versteht, was um ihn herum passiert. Wie muss es sein, wenn man seine Frau nicht beschützen kann?“
Franks Bewegung war stark beeinträchtigt, sodass er mit seinen Armen wirr umherwedelte.
Philipp lachte laut und schlug Frank ins Gesicht.
„Du kleiner Schlappschwanz. Dank deines Versagens müsst ihr jetzt beide sterben.“
Philipp hatte sichtlich Spaß daran und ließ Frank nahe des Abgrunds los. Er fand keinen Halt mit seinen Beinen und rutschte herunter. Philipp bückte sich und hielt ihn fest, um ihn anschließend wieder aufzustellen.
Betty freute sich über dieses Spektakel und lachte ein irres Lachen.
„Das war gut. Mach das noch einmal“, forderte sie ihn auf.
Philipp wurde ernst und sah Sophie an, neben sich der schwache Frank, der zusehen musste, wie seine Frau gleich sterben sollte. Sophie blieb in dem Moment das Herz stehen. Sie atmete erleichtert durch, als Frank wieder mit beiden Füßen auf dem Boden stand.
„Sage mir jetzt deutlich, dass du nur mich liebst und bitte mich, dein Mann zu werden“, forderte Philipp entschlossen.
„Was hast du gesagt? Du willst diese Schlampe als Frau haben?“
Philipps Augen blieben an Sophie haften und er wartete auf eine Antwort.
Dann sah er Betty an und deutete mit einer Kopfbewegung in Utas Richtung.
„Sie ist am Ende, zu nichts mehr zu gebrauchen. Sieh sie dir doch an. Kein Fleisch mehr dran“, erwiderte er.
Betty schaute zu Uta.
„Dann darf ich sie haben, ja?“, fragte sie und lief schnell zu Uta, die auf dem Boden hockte und sich gerade übergab.
Mit leerem Blick sah sie Philipp an.
„Töte mich“, flüsterte sie.
Doch Philipp wandte sich wieder Sophie zu, die zitternd am Baum saß und alles beobachtet hatte.
„Nun frage mich endlich oder soll er hier sterben?“
Philipp zog Frank über den Abgrund.
„Neiiin!“, schrie Sophie. „Wenn du mir versprichst, dass du ihn laufen lässt, werde ich bei dir bleiben!“, rief sie mit zittriger Stimme.
Philipp legte seine freie Hand ans Ohr, als wollte er sie als Trichter benutzen.
„Du bist zu leise. Ich kann dich nicht hören. Du musst mich anflehen, dass ich dich nehme. Nur dann lasse ich diese Kreatur am Leben“, erwiderte er mit einem Lächeln, das Sophie in Panik versetzte.
Völlig unerwartet schleuderte Philipp Frank über den Abgrund und hielt ihn nur mit einer Hand fest.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Philipp ihn nicht mehr halten konnte. Sophie musste etwas tun.
Sie sprang auf und lief ihm entgegen.
„Ich flehe dich an, nimm mich! Ich will mit dir zusammenleben, aber lass ihn nicht fallen“, wimmerte sie vor ihm.
„Geht doch“, antwortete er.
Sie begriff, dass er nie vorgehabt hatte, Frank zu verschonen. Er wartete nur den richtigen Augenblick ab, bis Sophie dicht genug bei ihm war.
Sie blieb stehen und sah zu seinem Arm, an dem Frank hing.
Philipps irrer Blick sagte ihr, dass es hoffnungslos war.
Sie erinnerte sich an die Träume, in denen es keine Situation gegeben hatte, in der er Menschlichkeit verkörperte.
Sophie sah zu Uta und begriff in diesem Moment, dass diese Frau all das erlebte, was sie in den Nächten geträumt hatte.
Sie weinte, wollte es nicht glauben und schüttelte ihren Kopf.
„Bitte nicht“, flehte sie.
Die Blutadern drückten sich wie Schläuche aus der Haut und sein Arm fing an zu zittern.
Philipp zog Frank wieder zu sich heran und zerrte ihn zu dem Loch, das er kurz vorher gegraben hatte.
Er warf ihn einfach hinein.
Sophie sah Philipp entsetzt an und hörte einen dumpfen Aufprall.
Sie rannte wie eine Furie auf ihn zu und wollte hinterherspringen.
Doch Philipp schnappte sie an ihrer Schulter. Seine kräftigen Arme umschlangen ihren zierlichen Körper und stoppten sie abrupt.
Seine Umarmung fühlte sich wie stechende Nadeln auf ihrer Haut an und sie schrie vor Entsetzen.
Seine Stärke war für sie unüberwindlich.
Sie hatte nichts mehr, für was sie kämpfen konnte.
Der wichtigste Mensch in ihrem Leben lag hilflos in einem Loch und starb. Tiefe Trauer überfiel sie. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihrem Herzen breit.
Philipp hatte noch nicht genug von den Qualen, die sie durchlebte, und hielt sie mühelos über das Loch, damit sie sehen konnte, dass Frank tot war.
Betty hatte sich in der Zwischenzeit einen Spaten genommen und warf den Sandboden auf Frank, bis sein Körper damit bedeckt war.
Verzweifelt musste Sophie mit ansehen, wie Frank unter der Erde verschwand. Sie wusste, dass er früher oder später ersticken würde, sollte nicht noch ein Wunder geschehen.
Philipp lachte.
„Du hast deinen Mann getötet, weil du zu neugierig warst.“
Siegessicher stellte er sie wieder auf den Boden und ging einen Schritt zurück.
Sophie sank erschöpft auf den Boden.
Er lief auf Uta zu, die immer noch orientierungslos auf allen vieren herumkroch.
„Mein kleiner Käfer, komm zu Papa“, sang er und hob sie auf.
Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie heftig.
„Siehst du, was du damit anrichtest? Du tötest diese Menschen. Du ganz allein bist dafür verantwortlich, dass sie sterben müssen!“, schrie Philipp sie an. „Ich habe dir gesagt, dass du mein Eigentum bist! Ich habe dir gesagt, dass du für immer bei mir bleiben wirst! Weiß der Teufel, wie du mit denen Kontakt aufnehmen konntest.“
Betty kam näher. Sie befand sich in einem Rauschzustand. Ihre Augen funkelten, sie lachte und ihr Gesicht verzog sich dabei zu einer grotesken Fratze.
„Ich will die Nächste töten!“, forderte sie.
Sie sprang wie ein kleines Kind vor Sophie, das gleich seine Belohnung bekommen sollte.
„Ihr seid doch alle irre!“, fluchte Sophie.
Bettys Worte hallten noch in ihrem Kopf, als sie begriff, dass sich ihre Träume gerade vor ihren Augen abspielten.
Es fügte sich jedes Teilchen langsam zusammen, wie bei einem Puzzle.
„Nun wirf sie doch endlich hinein!“, schrie Betty wie eine Geisteskranke und lachte dabei furchterregend.
Das Gefühl der Hilflosigkeit verwandelte sich in Wut. Frank konnte sie nicht retten und Sophie fühlte sich für seinen Tod verantwortlich. Schließlich war sie es, die ihn überredet hatte zurückzufahren. Hätte sie auf ihn gehört, dann würden sie jetzt zu Hause sein, gesund und lebendig.
Direkt neben Sophie sprang Betty hysterisch herum.
Ihr wütender Blick durchbohrte Betty. Plötzlich sprang Sophie auf und packte sie an den Schultern.
„Hör auf zu lachen!“, fauchte sie und schüttelte Betty wutentbrannt.
Doch sie hörte nicht auf, sie wurde lauter und lauter, als freue sie sich über ihre Reaktion.
Sophie ertrug ihre Stimme nicht mehr und stieß sie den Abhang hinunter.
Mit überraschtem Blick starrte Betty sie an, bevor sie das Gleichgewicht verlor und in die Grube fiel. Mit ihr brach ein ganzes Stück des Randes ab und begrub sie unter einer Lawine von Sand.
Betty hinterließ einen erstickenden Schrei, der Philipp durch Mark und Bein ging, als er sich umdrehte.
Sophie beugte sich vor, um zu sehen, wo Betty gelandet war, aber sie sah nur Sand unter sich.
Philipp ließ Uta auf den Boden fallen und bewegte sich auf Sophie zu.
Eine aufbrausende, explodierende Wut schlug ihr entgegen. Sie sah deutlich seinen Kiefer aufeinander reiben, als balle sich seine ganze Kraft in seinem Kopf.
Er packte sie fest an ihren Armen.
„Was hast du getan?“, brüllte er sie an.
Sophie hing in der Luft. Er hatte sie hochgehoben und wollte sie gerade hinterherwerfen, als er hinter sich seinen Namen hörte.
„Philipp!“