10
Sophie wurde von seiner Stimme aus dem Schlaf gerissen. Der Klang ließ ihren ganzen Körper zittern. Kalter Schweiß brach aus ihren Poren und ihre Haarwurzeln stellten sich auf.
Als sie ihre Augen öffnete, starrte sie in seine blassblauen Augen.
Der Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie fast die ganze Strecke geschlafen hatte.
Er starrte sie regelrecht an, als wüsste er genau, warum sie wieder hier war.
Er beachtete Frank überhaupt nicht, der ausgestiegen war und direkt neben ihm stand.
„Was führt Sie denn wieder zu mir? Wollen Sie es etwa wieder zurückgeben?“
„Nein, nein, wir sind mit Ihrem Wohnmobil sehr zufrieden. Meiner Frau geht es nicht gut. Sie haben es ja selbst erlebt. Deshalb brechen wir unsere Reise ab und fahren nach Hause. Wir wollen nur eine Nacht bleiben“, antwortete Frank und gab sich souverän.
Sie unterbrach den Blickkontakt und floh in den hinteren Bereich des Wohnmobils, um sich zu beruhigen.
Sie öffnete eine Flasche Wasser und nahm sich ein Glas, doch ihre Hände zitterten so stark, dass sie es nicht schaffte, das Wasser ins Glas zu schütten.
Sophie musste sich etwas einfallen lassen, sonst ging ihr Plan nicht auf. Diese Panik, die sie jedes Mal durchfuhr, wenn sie ihm begegnete, musste sie irgendwie abschalten, um ihm selbstbewusst gegenübertreten zu können.
Sie hatte nur eine einzige Chance, sein wahres Gesicht zu enttarnen.
Wenn sie ihn beschreiben müsste, dann würde sie sagen, dass er ein starker großer Mann war. Seine Narbe an der rechten Augenbraue verlieh ihm Männlichkeit und sie konnte sich vorstellen, dass er zuschlagen würde, wenn ihn jemand provozierte.
Aber diese Aussagen würden ihn nicht brutal oder unmenschlich wirken lassen. Er war zwar nach außen hin rau und robust, zeigte aber auch eine gewisse Verantwortung seiner kranken Frau und seiner kleinen Schwester gegenüber, was ihn sofort wieder entlasten würde.
„Da bin ich beruhigt. Ich zeige Ihnen den Stellplatz. Bitte folgen Sie mir“, hörte Sophie ihn sagen und ging zurück zu ihrem Platz.
Frank stieg ein und fuhr langsam hinter Philipp her.
„Ich weiß nicht, ob wir das Richtige tun. Er wirkt auf mich völlig normal.“
Frank schaute in ihre Richtung.
Sophie starrte auf Philipps Rücken.
„Er wird sich verraten“, flüsterte sie.
„Und wenn nicht? Was, wenn wir hier unschuldige Menschen beschuldigen, schlimme Dinge zu tun?“, gab er schroff zurück.
Sophie sah ihn überrascht an.
„Du glaubst mir nicht.“
„Ich glaube dir, dass du diese schrecklichen Träume erlebst. Aber ich habe so meine Bedenken, dass dieser Mann da draußen so etwas tun soll“, erwiderte er und lächelte nervös, als sich Philipp umdrehte und ihm den Platz zeigte.
„Dann werde ich Beweise finden, damit du mir glaubst. Ich werde nachher zu seinem Haus gehen und ihn beobachten.“
„Das wirst du nicht tun!“, antwortete er.
Frank hatte das Wohnmobil eingeparkt und Philipp verschwand in der Dunkelheit.
„Und ob ich das tun werde! Ich bin nicht zurückgekommen, um nichts zu tun und morgen mit meinen Albträumen nach Hause zu fahren!“, beteuerte sie, stand auf und lief an ihm vorbei.
„Dann komme ich mit!“
„Tu, was du nicht lassen kannst“, antwortete sie und wühlte in einer Kiste neben dem Bett, bis sie zwei Taschenlampen fand.
Ihren dunklen Jogginganzug schnell übergezogen, die Kapuze über den Kopf gestülpt, stand sie startklar vor ihm.
„Bist du so weit?“, fragte sie.
„Willst du nicht noch etwas warten? Wir haben die ganze Nacht vor uns“.
„Nein. Ich kann nicht warten. Wir müssen jetzt los.“
Sie stürmte aus dem Wohnmobil, sodass Frank hinterher laufen musste, um sie im Notfall zu beschützen.
*
Vor ihnen lag ein dichter Kiefernwald – dunkel und unheimlich.
Nur die Hauptwege waren mit Straßenlampen beleuchtet.
Sophie stampfte orientierungslos durch den Wald, aber mit einem überzeugten Tatendrang, endlich Beweise zu finden, dass Philipp ein brutaler Vergewaltiger war.
„Au!“, schrie Frank hinter ihr auf.
Er hockte auf dem weichen Waldboden und rieb seinen Knöchel.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie und drehte sich um.
„Ich bin über eine Wurzel gefallen“, stöhnte er. „Sophie, was tun wir hier? Lass uns umkehren und nach Hause fahren!“
Der Mond war mit Wolken bedeckt und es sah so aus, als wollte es wieder anfangen zu regnen.
Für einen Moment verlor sie die Gewissheit, dass Philipp diese Dinge, die sie träumte, tatsächlich tat. Sie schwankte zwischen Vernunft und ihrem eigenen Vertrauen, etwas auf der Spur zu sein, das nur sie aufdecken könnte.
Frank kam näher zu ihr gehumpelt und stöhnte vor Schmerzen.
„Ich glaube, dass deine Fantasie mit dir durchgeht“, sagte er und rieb seinen Knöchel.
Sophie sah sich im finsteren Wald um und versuchte sich zu orientieren.
Dann sah sie durch die Bäume ein winziges Licht und ein Gefühl machte sich in ihr breit, das ihr sagte, sie solle weitergehen.
„Ich kann nicht mehr umkehren. Wir gehen weiter“, bestimmte sie und verschwand in der Dunkelheit.
Frank hatte keine Zeit, seine Wunden zu lecken, und lief hinter ihr her.
Ein paar Minuten später hatte er sie eingeholt.
Sie saß hinter einem dichten Busch und winkte ihm zu.
„Mach die Taschenlampe aus!“, zischte sie ihn an.
Er gehorchte und hockte sich neben sie.
Sophie hatte das kleine Fernglas aus dem Wohnmobil mitgenommen und ließ das Haus nicht mehr aus den Augen.
„Du musst mir etwas versprechen. Wenn wir keinen Erfolg haben, fahren wir morgen früh sofort nach Hause“, flüsterte er.
Sie spähte konzentriert durch das Fernglas.
„Sophie! Hast du mich verstanden?“
Sie nahm das Fernglas zur Seite und sah ihn an.
„Ich verspreche es“, beteuerte sie und schon hatte sie das Fernglas wieder vor ihren Augen.
Es war ein Bungalow mit großen Fensterfronten, an denen keine Vorhänge hingen.
Dadurch konnte man gut in die Räume sehen, wenn das Licht brannte.
Plötzlich hörten sie das klapprige alte Auto von Philipp.
Es war ein VW T3 Syncro, giftgrün, aus den Achtzigern, und befand sich in dem gleichen Zustand wie der Zeltplatz oder das Wohnmobil, das Frank von ihm abgekauft hatte. Das Auto war durchgerostet, und als er die Fahrertür öffnete, konnte Sophie den Schaumstoff des Sitzes sehen, der aus dem aufgeschlitzten Leder herausquoll.
Philipp ging zur Ladefläche und drückte die seitlichen Hebel herunter. Das blecherne Geräusch machte Frank neugierig.
„Und? Was siehst du?“
Sophie hielt das Fernglas konzentriert vor ihre Augen, um zu beobachten, was er von der Ladefläche holte.
Dann nahmen sie ein schleifendes Geräusch wahr. Philipp zog etwas Schweres von der Ladefläche und ließ es auf den Waldboden fallen.
„Was ist das?“, fragte Frank.
„Frag nicht laufend, was ich sehe. Du machst mich verrückt damit“, flüsterte sie.
Frank nahm ihr das Fernglas weg und schaute hindurch.
„Illegale Jagd ist bestimmt weit verbreitet in dieser Gegend“, erklärte er und schon hatte Sophie das Fernglas wieder an sich gerissen.
„Ich bin nicht hergekommen, um nach dem Verbleib eines Rehs zu forschen“, gab sie ungeduldig zurück.
Sie beobachtete, wie Philipp dieses in Folie gewickelte tote Tier hinters Haus brachte und anschließend zurück kam und ins Haus ging.
Hinter einem Fenster wurde es hell und sie beobachtete, wie er seine Jacke auszog und sie an die Garderobe hing.
Dann ging er in den nächsten Raum, der sich als Küche offenbarte.
Philipp lief zum Kühlschrank und holte sich ein Bier heraus, öffnete es mit seinem Feuerzeug und trank einen großen Schluck.
„Ich will auch mal durchschauen!“, stieß Frank gegen ihre Schulter.
Sophie gab nach und überreichte ihm das Fernglas.
Philipp ging mit der Flasche Bier einen Raum weiter.
Er schaltete das Licht ein und plötzlich wurde eine Frau im Rollstuhl am Fenster sichtbar.
Sophie konnte mit bloßem Auge erkennen, dass da noch jemand war, und riss Frank das Fernglas aus der Hand.
„Ist das seine Frau?“, fragte sie.
„Ja“, flüsterte Frank angespannt.
Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust.
Sie betrachtete die junge Frau im Rollstuhl und sah ein trauriges, fahles Gesicht – ausdruckslos.
Sah sie so aus, weil sie sich im Wachkoma befand oder weil dieser Mann sie bestialisch misshandelte?
Philipp stellte sich hinter den Rollstuhl und streichelte ihr Haar.
In dem Moment, als seine Hand ihren Nacken berührte, schloss die junge Frau ihre Augen und ihre Mimik verzerrte sich zu einer leidenden Fratze.
Sophie hatte ihren Beweis. Diese Frau befand sich nicht im Wachkoma.
„Ich habe ihn. Hier, sieh dir das an!“
Sie hielt ihm das Fernglas entgegen. Er nahm es und sah hindurch.
„Er streichelt sie liebevoll. Was ist daran verwerflich?“, antwortete er.
„Sieh genau hin! Ihr Gesicht ist verzerrt, ein Zeichen, dass sie sich ekelt“, dokumentierte Sophie.
Frank sah noch einen Moment durch das Fernglas und legte es dann auf seinen Schoß.
„Was hast du gesehen?“, fragte Sophie hektisch.
Er starrte auf den Bungalow und seufzte laut, dann schaute er Sophie an.
„Ich sehe nicht das, was du siehst. Ich sehe einen Mann, der sich um seine kranke Frau kümmert“, flüsterte er.
Sophie schüttelte ihren Kopf und riss ihm das Fernglas aus der Hand.
Philipp trug seine Frau ins Schlafzimmer, legte sie ins Bett und deckte sie liebevoll zu. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schaltete das Licht aus.
„Das kann nicht sein!“, klagte sie und Frank berührte sanft ihre Schulter.
„Erinnerst du dich an die Autofahrt vor ein paar Monaten? Als du von mir verlangtest, das Radio leiser zu machen, weil dir die Musik zu laut war?“, flüsterte er und Sophies Augen füllten sich mit Tränen, denn sie wusste genau, was er meinte.
„Das Radio war überhaupt nicht an. Du hast einen Rückfall, Sophie“, flüsterte er und erhob sich aus dem Versteck. „Lass uns gehen.“
Ihr Blick suchte seinen und sie erkannte, dass er ihr nicht mehr glaubte.
„Wir bleiben hier. Die Nacht ist noch lang und es kann noch viel passieren“, schlug sie vor und wartete nicht auf eine Antwort, sondern setzte ihre Observation fort.
Er versuchte noch einmal, sie umzustimmen.
„Dieser Mann ist unschuldig und wir gehen jetzt!“
Sophie reagierte nicht.
Zu guter Letzt setzte ohne Vorankündigung starker Regen ein. Ein Sturm gesellte sich hinzu und sie waren dem Unwetter ungeschützt ausgesetzt.
Philipp hatte es sich inzwischen im Wohnzimmer bequem gemacht und genoss sein Bier zum Feierabend.
„Noch fünf Minuten. Er geht bestimmt noch einmal zurück“, faselte sie vor sich hin, ohne auf Frank zu achten, der schon neben ihr stand.
„Wenn du nicht mitkommst, dann werde ich alleine gehen und dich hier zurücklassen. Entweder du nimmst meine Hilfe an oder nicht“, sagte er entschlossen.
Sophie wusste, dass es ihm ernst war. Sie erkannte es an seinem Tonfall. Würde sie bleiben, dann würde sie ihn verlieren.
Sie ließ das Fernglas auf ihren Schoß sinken und blieb noch einen Moment sitzen, während Frank sich von ihr entfernte.
Verzweifelt stand sie auf und warf einen letzten Blick zum Bungalow. Dann drehte sie sich um und lief Frank hinterher.
Genau in diesem Moment stellte Philipp sein Bier ab und stand von seinem Sessel auf.
Er ging zurück ins Schlafzimmer, schaltete das Licht an und stellte sich ans Fußende des Bettes.
Er zog langsam die Decke vom Körper seiner Frau, bis sie nackt vor ihm lag.
Sophie starrte auf den Rücken ihres Mannes und war wütend darüber, dass er recht hatte mit seiner Vermutung, dass seine eigene Frau gerade dabei war, ihren Verstand ein zweites Mal zu verlieren.
Die junge Frau auf dem Bett winselte laut und flehte Philipp an, aufzuhören.
Doch der lachte nur, zog sich aus und löschte das Licht.