12
Sie spürte ein schmerzhaftes Pochen an ihrem Hinterkopf, und als sie ihre Augen öffnete, sah sie durch einen Schleier, der ihr nicht erlaubte, ein klares Bild zu erkennen. Ihre Stirn zog sich zusammen und langsam spürte sie die Schmerzen an ihrem gesamten Körper. Sophie bemerkte, dass sich nur ein Auge öffnen ließ. Das andere war zugeschwollen und mit Blut verklebt.
An ihren Handgelenken schnitt sich ein Seil in die Haut und ihre erste Reaktion war, sich befreien zu wollen. Doch dies erwies sich als schwierig, da sie auf einem Stuhl saß und ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren.
Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie spürte ein Stoffstück zwischen ihren Lippen und versuchte, es auszuspucken, aber es steckte so tief in ihrem Rachen, dass ihre Mühe vergeblich war.
Einen Moment später war der Schleier vor ihren Augen verschwunden und sie sah in Bettys Gesicht.
„Ich hab dir gesagt, die macht Ärger! Aber auf mich hörst du ja nicht!“, belehrte sie ihren Bruder.
„Sei still. Ich muss nachdenken!“, erwiderte Philipp, der nervös auf und ab lief.
„Sie müssen verschwinden. Ich hole das Wohnmobil erst einmal hierher.“
Sophie kannte diese Situation nur zu gut. Wieder einmal gefangen, doch dieses Mal in der Realität, oder?
Für einen Augenblick musste sie darüber nachdenken, ob sie sich nicht doch in einem dieser Träume befand.
Ihre Frage wurde sofort beantwortet, als sie Frank neben sich auf einem Stuhl entdeckte. Er war bewusstlos.
Sie wollte nicht aufgeben und versuchte, ihre Fesseln zu lockern.
„Wir können doch sagen, dass er es nie abgeholt hat oder es wieder zurückgebracht hat, weil seine Frau es nicht mochte“, schlug Philipp vor.
Wenn er wüsste, wie recht er damit hat, dachte Sophie.
Er lief auf seine Schwester zu.
„Ich muss nachdenken“, sagte er und verließ den Schuppen, der sich neben dem Wohnhaus befand.
Betty lief hinter ihm her und schlug die Tür zu.
Eine gefährliche Stille machte sich im Raum breit.
Sophie horchte und wartete auf die Rückkehr der beiden.
Erst als sie sich sicher war, dass sie nicht so schnell wiederkommen würden, rüttelte sie energisch an den Fesseln hinter ihrem Rücken.
Ein angeborenes Talent kam ihr hier zugute. Sie konnte ihren Daumen ausrenken, ohne dabei Schmerzen zu empfinden.
Es war ihr immer ein Vergnügen gewesen, es bei Partys den anderen Mädchen zu zeigen, die darauf entsetzt reagierten.
Sie lockerte ihre Fessel am Handgelenk und versuchte mit ausgerenktem Daumen durch die enge Schlaufe zu schlüpfen.
Dabei ließ sie Frank keine Sekunde aus den Augen.
Auf der einen Seite war sie froh, dass er endlich erfuhr, dass Philipp gefährlich war. Auf der anderen Seite saßen sie in einem Schuppen und wussten nicht, ob sie hier lebend herauskommen würden.
Plötzlich riss Betty die Tür auf und lief direkt auf Sophie zu. Sie schlug ihr ins Gesicht, dass sie samt Stuhl umstürzte.
Der Schlag war so heftig, dass Sophie für einen Moment das Bewusstsein verlor und die Stimmen nur leise und dumpf bei ihr ankamen.
„Lass das, Betty!“, rief Philipp wütend und stellte den Stuhl mit Sophie darauf wieder aufrecht hin.
„Was denn?“, fragte Betty vorwurfsvoll und ging einen Schritt zurück. „Wenn sie schon sterben müssen, dann können wir doch auch noch unseren Spaß haben. Sieh sie dir doch an. Die ist jung und knackig. Hast du keine Lust auf sie?“
Ihre Zahnlücke kam zum Vorschein, während sie ihn lustvoll anlächelte.
„Dafür ist keine Zeit. Ich muss mir einen Plan ausdenken, der keine Lücken aufweist“, erklärte er und lief zum Schrank.
Betty stellte sich neben Sophie, die ängstlich durch die Nase schnaufte.
„Hast du Uta schon die Spritze gegeben?“, fragte sie.
Philipp hörte abrupt auf zu suchen und sah sie starr an.
„Das habe ich in der Aufregung völlig vergessen.“
Er stürmte aus dem Schuppen.
Betty ließ sich von seiner Panik nicht anstecken und schlenderte um Sophie herum. Sie blieb hinter ihr stehen, sodass sie nicht mehr sehen konnte, was Betty vorhatte.
Ihr Herz raste und sie hielt ihre Hände ruhig, in der Hoffnung, Betty würde nicht bemerken, dass das Seil um ihre Hände schon beträchtlich gelockert war.
Jede Faser ihres Körpers war angespannt, um auf einen Schlag vorbereitet zu sein.
Doch plötzlich spürte sie sanft Bettys Finger an ihrem Hals. Ihre Hand verweilte einen Augenblick, bis Sophie aus Panik laut stöhnte, weil sie glaubte, sie würde zudrücken.
Doch stattdessen streichelte Betty sie nur und wühlte ihr zärtlich durch die Haare.
Zu der Angst vor den Schmerzen, die diese kranke Frau ihr zufügen könnte, gesellte sich die Panik zu ersticken. Durch ihre Nasenlöcher konnte sie nicht genügend Luft einatmen. Luft, die sie dringend gebraucht hätte – ihr Herz raste.
Bettys Hände wanderten ihren Rücken hinunter und wieder hoch.
Sophie hielt diese Ohnmacht nicht länger aus und schrie durch den Fetzen in ihrem Mund, doch zu hören war nur ein jämmerliches Stöhnen.
Betty stellte sich vor Sophie. Das beruhigte sie etwas, weil sie jetzt sehen konnte, was geschah.
In Bettys Augen spiegelte sich diese Macht wieder, die sie auch bei Philipp gesehen hatte, wenn sie in seinen Träumen gefangen war.
Betty packte mit ihren Händen an Sophies Brust und knetete diese so, wie sie es bei Philipp beobachtet hatte, wenn sie ihm heimlich nachspionierte.
„Ich frage mich, was daran so schön sein soll. Das sind doch nur Titten und dann noch so kleine“, lästerte sie und stellte sich provokatorisch vor Sophie auf, die ihre Angst nicht mehr verbergen konnte.
„Dein Mann kann dir nicht helfen“, sagte sie und zeigte auf Frank, der leblos auf dem Stuhl hockte.
Ohne Vorwarnung beugte sich Betty zu Sophie hinunter, die zusammenzuckte in der Annahme, gleich noch einen Schlag zu spüren.
Doch sie führte nur ihren Mund an Sophies rechtes Ohr.
„Warum müsst ihr eigentlich immer den Männern den Kopf verdrehen? Und dann beschwert ihr euch, wenn sie an euch herumfummeln.“
Bettys Gesicht war nur wenige Zentimeter von Sophies entfernt.
Sie sah in kalte Augen. Diese Frau schien zu allem fähig zu sein, sie hatte keine Skrupel, einen Menschen zu töten, ihn aber vorher noch zu quälen, bis er bettelt, endlich getötet zu werden, gab ihr anscheinend einen Kick.
Das, was Sophie in diesem Haus gesehen hatte, war nicht nur das Werk von Philipp. Sophie erkannte, dass das wahre Monster vor ihr stand.
Betty drückte mit zwei Fingern Sophies Nase zu und beobachtete schaulustig, wie sie nach Luft rang.
Ihre Wangen zogen nach innen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sophie glaubte zu ersticken. Kurz bevor sie ohnmächtig wurde, ließ Betty sie wieder atmen.
Der Stofffetzen in ihrem Mund saß so fest, dass sie es nicht schaffte, ihn auszuspucken.
„Na? Wie ist das Gefühl, von mir abhängig zu sein? Ihr könnt noch so hübsch und liebenswert sein, aber mein Bruderherz wird immer nur mich lieben. Daran wird sich nichts ändern“, sagte sie und lächelte.
„Ihr werdet nur benutzt, wie Vieh. Ihr seid nichts wert“, steigerte sie sich mit jedem weiteren Wort in einen fanatischen Zustand.
Betty presste Sophies Nase noch einmal zu und sah sie dabei an.
„Das ist dieser flehende Blick, den ihr alle habt, wenn es zu Ende geht. Dann würdet ihr plötzlich alles für mich tun, um zu überleben. Aber ich habe die Macht, euch sterben zu lassen“, fauchte sie wie eine Katze, die sich für ihren Angriff bereit machte.
„Sie ist verschwunden! Das Bett ist leer!“, rief Philipp aufgebracht, als er in den Schuppen stürmte.
Betty sprang erschrocken zurück und Sophie versuchte panisch, genug Luft durch ihre Nasenflügel zu ziehen, um nicht zu ersticken.
Philipp sah, wie schwer Sophie atmete.
„Was machst du denn da?“
„Ich habe sie nur ein wenig geärgert“, lächelte sie ihren Bruder an.
„Wir haben keine Zeit für Spielchen. Komm endlich, wir müssen sie suchen!“, befahl er Betty und lief zum Schrank, um sein Jagdgewehr zu holen.
Eilig rannten sie aus dem Schuppen und ließen die Tür offen.
Sophie nutzte die Gelegenheit, renkte ihren Daumen aus und schlüpfte aus den Fesseln.
Dann zog sie den Stofffetzen aus ihrem Mund und löste das Seil an den Füßen.
„Frank, wach auf! Wir müssen hier weg!“, rief sie ihm zu.
Doch er saß wie ein lebloser Sack auf dem Stuhl.
Als sie es endlich geschafft hatte, sich zu befreien, hockte sie sich vor ihn.
Sie zog ihm den Stofflappen aus dem Mund und er kam zu sich. Schmerzverzerrt sah er in Sophies Augen.
„Wo sind wir?“, flüsterte er.
„Sie haben uns gefangen. Er will uns töten. Wir müssen hier weg“, antwortete sie und löste seine Fesseln.
Sie versuchte ihm aufzuhelfen, indem sie ihre Schulter unter seine Achsel positionierte und sich dann hochdrückte.
Doch Sophie war zu zierlich und kraftlos, um ihn zu bewegen.
Sein Körper sackte zurück auf den Stuhl.
„Ich suche ein Telefon. Du bleibst hier. Ich muss es alleine versuchen“, flüsterte sie.
„Es tut mir leid.“
Sie nahm mit beiden Händen sein Gesicht und lächelte ihn an.
„Ich liebe dich und verspreche dir, dass wir das hier überleben werden“, antwortete sie und verschwand durch die offene Tür.
*
Der Wald wirkte düster auf Sophie. Die Sonne hatte es auch an diesem Tag nicht geschafft, sich durchzusetzen. Der Himmel war verhangen mit dunklen Wolken und es sah aus, als würde es jeden Moment anfangen zu regnen.
Sie befand sich immer noch auf dem Grundstück, sah aber vor sich das Haus von der Rückseite.
Langsam schlich sie mit einem wachen Blick um das Wohnhaus herum.
In ihr stieg eine Hoffnung auf, die sie mutig werden ließ, und sie trat hinein.
Im Flur blieb Sophie stehen und horchte, ob sich jemand im Haus befand. Leise schlich sie zur Tür und sah in die Küche.
Sie war leer.
Sie hörte Philipp im Wald nach Uta rufen und hoffte inständig, dass Betty bei ihm war.
In der Küche suchte sie in den Schubfächern nach einem passenden Messer, um sich im Notfall wehren zu können.
Ihre Finger fest um den Griff geschlungen betrat sie das Wohnzimmer.
Sophie entdeckte ein kleines Schränkchen, auf dem ein Telefon mit Wählscheibe stand. Es war so alt wie die Inneneinrichtung, mindestens zwanzig Jahre.
Ängstlich sah sie sich um.
Sie hatte keine Zeit zu überlegen und lief zu dem Schränkchen.
Ihre Hände zitterten, als sie die Notrufnummer wählte, und die Zeit, in der das Freizeichen zu hören war, erschien ihr wie eine halbe Ewigkeit.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, sah sie eine faltige Hand, die die Verbindung unterbrach.
Sophie war wie gelähmt, als sie die Hand erkannte.
Es war Bettys.
Sie glaubte, ihre Beine würden wegknicken.
„Suchst du etwas?“
Betty lächelte sie an.
Sophies rechte Hand schnellte hoch. Sie stach das Küchenmesser in Bettys Schulter.
Über sich selbst erstaunt ließ sie das Messer los und trat einen Schritt zurück.
Betty lächelte immer noch und zog das Messer ganz langsam aus ihrem Fleisch.
Sophie war kampfbereit, machte einen Schritt zur Seite, um Betty auszuweichen, und rannte aus dem Haus in den Wald.
Sie rannte so schnell sie konnte durch das Dickicht und sah über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, ob Betty sie verfolgte.
In dem Moment, als sie wieder nach vorn sah, wurde sie abrupt von einem heftigen Schlag ins Gesicht gestoppt.
Sie sank zu Boden und verlor das Bewusstsein.