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Sie wusste sofort, wo sie war. Ihr Körper zitterte und ihr Herz schlug schneller. Krampfartige Schmerzen, als würde sie bei lebendigem Leib aufgeschlitzt, ließen ihren Magen zusammenziehen.

Das Gefühl, nicht zu wissen, was gleich geschehen wird, ohne sich wehren zu können, schnürte ihr die Kehle zu.

Sie öffnete ihre Augen und starrte in Bettys wütendes Gesicht.

Ihre Hände gruben sich in Sophies Oberarme.

„Was hast du getan?“, fauchte Betty und spuckte sie dabei an.

Fuchsteufelswild drückte Betty ihre Füße in den weichen Waldboden und schob sie vor sich her.

Die Kraft der kleinen untersetzten Frau hatte Sophie unterschätzt und so wurde sie rückwärts durch den weichen Sand in eine Richtung gedrängt, wo sich ein tiefer Abgrund befand, den Sophie erst entdeckte, als sie es schaffte, über ihre Schulter zu sehen.

Sie versuchte sich gegen Betty zu stemmen, doch es gelang ihr nicht.

„Was tun Sie denn da?“

Knapp vor dem Abhang blieb Betty plötzlich stehen und sah sie verachtend an.

„Ich will dich aus meinem Leben verbannen!“, antwortete sie.

Mit einem Blick nach unten verstand Sophie sofort, dass sie das nicht überleben würde.

Als sie sich wieder umdrehte, war Betty ihr gefährlich nahe, bereit, sie herunterzustoßen.

„Warte!“, ertönte seine Stimme.

„Warum verdirbst du mir immer den Spaß? Ich wollte sie gerne winseln hören“, protestierte Betty.

Wie Henker standen sie Sophie gegenüber, als warteten sie noch auf ein letztes Wort, bevor sie ihre Arbeit vollenden.

Philipp, die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, stand lässig vor ihr. Er genoss diesen Augenblick.

„Du bist ein böses Mädchen. Ich hatte dich gewarnt, mehrmals, aber du wolltest nicht hören“, erklärte er, als wollte er richtigstellen, dass sie ganz allein an dieser Situation schuld sei und jetzt sterben musste.

„Ich, ich …, ich tue alles, was du willst.“

Philipp lachte und wurde abrupt ernst.

Sie spürte noch deutlich Bettys Griff an ihren Armen und rieb über die schmerzenden Stellen.

„Sieh dir die Schweinerei an. Daran bist du schuld. Begreifst du es endlich? Du tötest Menschen mit deinem Verhalten!“

Betty zog sie weg vom Abhang und schleppte sie weiter an eine Stelle, die wie eine Grube aussah.

Erst als Sophie dicht genug am Rand der Vertiefung stand, erkannte sie, dass dort unten jemand in einem Holzsarg lag.

Es war Frank – mit verschränkten Armen und offenen Augen, als hätte man ihn für die Beerdigung fertiggemacht.

Er war tot.

„Ja, das ist deine Schuld. Du machst mir zu viel Ärger. Ich kann dich nicht mehr behalten.“

Sophie sah sich um und entdeckte in der Nähe noch ein frisch geschaufeltes Loch im Waldboden, das leer war.

„Jetzt tue es endlich!“, forderte Betty ihn auf, etwas auszuführen, was Sophie nur erahnen konnte.

Sie sah zu Philipp, der langsam auf sie zukam.

„Nein, nicht. Ich will nicht sterben!“, flehte sie und ging kleine Schritte rückwärts, bis sie plötzlich mit einem Fuß ins Leere trat und wieder einen Schritt vorwärts wollte, doch Philipp war schon da.

Betty war neben ihm hergelaufen und hatte ihn angefeuert, es endlich zu tun.

Ihr hämisches Lachen schallte durch den Wald, als hätte sie Spaß daran, Menschen beim Sterben zuzusehen.

„Ihre Birne soll Matsch werden“, lachte sie und sprang jetzt fröhlich hinter Philipp herum.

Er sah Sophie in die Augen und lächelte.

„Sorry, Baby, aber du wolltest es nicht anders. Blut ist eben dicker als Wasser.“

Er nahm seine rechte Hand aus der Hosentasche und legte sie auf ihre Brust. Er gab ihr einen kleinen Schubs und Sophie begann zu schwanken, versuchte noch, das Gleichgewicht mit ihren Armen zu halten, doch sie schaffte es nicht, ihren Körper nach vorn zu beugen.

Er kam näher, sie verlor den Boden unter ihren Füßen und stürzte in das tiefe Loch. Dabei prallte ihr Kopf an einen vorstehenden Stein und sie verlor für einen Augenblick das Bewusstsein.

Ein Kratzen in ihrer Kehle, als hätte sie sich verschluckt, verursachte einen heftigen Husten, der versuchte, sie vor dem Ersticken zu bewahren.

Immer mehr Sand drängte in ihren Mund und sie hob ihre Hände, um ihr Gesicht zu schützen.

Blinzelnd sah sie Betty, die mit einer Schaufel den Sand auf ihren Körper warf und dabei lachte. Philipp stand neben ihr und beobachtete sie, bis es um sie herum dunkel wurde.

In Embryostellung lag sie in dem Loch und wimmerte. Jede Schaufel Sand, deren Aufprall sie spürte, brachte die Erkenntnis näher, lebendig begraben zu werden.

Der Sand machte sich in ihrem Rachen breit, weil sie nach Luft rang, die nicht mehr vorhanden war.

Sie unternahm einen letzten Versuch zu atmen, dann folgte eine Stille, die sie ruhig werden ließ. Das musste das Ende sein.

*

Sie schoss geradezu hoch in eine aufrechte Haltung und nahm einen tiefen Atemzug, als hätte sie minutenlang die Luft angehalten.

Sie starrte Frank entsetzt an. Sophie befand sich wieder im Wohnmobil.

Er drehte sich zu ihr um und lächelte.

In welcher Welt befand sie sich? Und welche Rolle spielte darin ihr eigener Ehemann? Feind oder Freund?

„Hattest du wieder einen Traum?“, fragte er und sein Blick schweifte zurück auf die Straße.

Sie musste aus dem Traum direkt in die reale Welt geswitcht sein. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum er lebendig vor ihr saß.

Sophie bekam die schrecklichen Bilder nicht aus ihrem Kopf.

Diese toten Augen, Franks tote Augen, die sie anstarrten, als wollte er ihr sagen, sie sei schuld daran, dass er dort lag.

Was hatte das alles zu bedeuten?

Erschöpft fiel Sophie zurück aufs Bett.

Sie schloss ihre Augen und wünschte sich zurück in die Klinik. Dort hatte sie Ansprechpartner gehabt, wenn sie das Gefühl bekommen hatte, alles würde über ihr zusammenbrechen.

Sollte es tatsächlich so sein, dass sie in diesem Augenblick den Verstand verlor?

Ihr fiel die Tablette ein, die Frank ihr gegeben hatte.

Sie versuchte sich wieder aufzurichten und spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper.

„Alles in Ordnung bei dir?“, hörte sie Frank und öffnete ihre Augen.

„Ich bin gleich bei dir“, antwortete sie und raffte sich schmerzverzerrt auf, um einigermaßen gerade zu sitzen.

„Bring mir bitte eine Flasche Wasser mit nach vorn“, sagte er.

Die Qual der Schmerzen steigerte sich von Traum zu Traum bis ins Unermessliche und sie wusste nicht, wie lange sie das noch ertragen konnte.

Sie war an einem Punkt angelangt, an dem sie kapitulierte – keine Lösung vor Augen, die schrecklichen Träume auszulöschen. Was sie am meisten bedauerte, war, dass sie nicht mit ihm reden konnte.

Da war es wieder, das Gefühl der Leere, des Alleinseins.

In diesem Augenblick musste sie erkennen, dass jeder auf sich selbst gestellt war. Niemand hätte ihr helfen können, keine Medikamente, keine Ärzte und auch nicht der eigene Ehemann, der sowieso mit der Situation überfordert war oder vielleicht sogar etwas mit diesen Umständen zu tun hatte.

Sophie fühlte sich orientierungslos.

War sie gerade dabei, durchzudrehen, oder hatte sich tatsächlich Frank gegen sie gestellt und verfolgte einen grausamen Plan?

Sophie griff zwischen dem Bett und der Toilette nach einer Flasche Wasser.

Ihr Blick schweifte kurz in die Ecke, als sie etwas entdeckte, was ihre vollste Aufmerksamkeit forderte.

Ihre schmalen Hände suchten Platz in der Ritze zwischen der Verkleidung des Wohnmobils und der Chemietoilette, die Frank erst kurz vorher eingebaut hatte.

Der Zwischenraum war so eng, dass sie es vorsichtig herausziehen musste, damit es nicht aus ihren Fingern rutschte.

Ihre Hoffnung, dass er nichts mit ihren Träumen zu tun hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase.

Es ist noch nicht vorbei, flüsterte sie in ihren Gedanken.

„Ist alles in Ordnung da hinten?“

Sophie hielt das Ding, das zwischen ihren Fingern klemmte, dicht vor ihre Augen, weil sie nicht glaubte, was sie in ihren Händen hielt.

Seine Worte hallten dumpf wieder, als wäre er weit weg.

Ihre Befürchtung bestätigte sich. Es gab keinen Zweifel.