Einundfünfzig

Es war kalt im Schwarzen Hirschen, dunkel und kalt. Nico ging gleich in die Gaststube. Leon rannte nach oben, um seinen Vater zu wecken und ihm von den Ereignissen der Nacht zu berichten. Er hatte darauf bestanden, ihn dabeizuhaben. Als Zeugen, vielleicht auch als Beschützer, wenn jemand durchdrehte. Es würde das schwierigste Gespräch werden, das Nico jemals geführt hatte. Ihr war schlecht vor Angst und der Anstrengung, sie nicht zu zeigen.

Nico ging ans Fenster und sah hinüber zur Kirche. Der Himmel war immer noch dunkel. Eigentlich hatte sie erwartet, einen Vorboten der Morgendämmerung am Firmament zu entdecken, aber dafür war es wohl noch zu früh. Es hätte genauso gut Mitternacht sein können.

Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien. Die Räumfahrzeuge waren schon unterwegs. Bald hätte Siebenlehen wieder Anschluss an den Rest der Welt. Sie dachte an ihre Mutter, die verging vor Sorge, und musste sich eingestehen, dass Stefanie mit ihren Bedenken nicht ganz danebengelegen hatte. Kurz geriet sie in Versuchung, das Telefon zu benutzen und sie anzurufen. Dann ließ sie es bleiben.

Ein Licht ging an in einem Haus schräg gegenüber. Es musste das Gemeindehaus sein. Sie wurde unruhig bei dem Gedanken, dass auch der Pfarrer schon wach war. Vielleicht bereitete er die Morgenmesse vor. Wenn er noch dazu kam und ihn die Ereignisse nicht überrollen würden …

Das Quietschen einer Tür ließ Nico herumfahren. Jemand knipste das Flurlicht an. Nicos Herz klopfte bis zum Hals, als sie die gebeugte Gestalt Zitas erkannte. Die alte Frau trug ein bodenlanges Nachthemd. Das weiße halblange Haar fiel ihr ungekämmt auf die Schultern. Ihr Gehstock wackelte genauso wie ihre Beine, als sie in den Gastraum kam. Aber ihre Augen funkelten böse. So böse, dass Nico sich den Impuls, auf sie zuzugehen und ihr zu helfen, verkniff.

»Schon so früh wach?«, sagte die Alte. »Und die Koffer gepackt?«

»Es wäre besser, wenn Sie wieder ins Bett gingen.« Nico wunderte sich, wie ruhig sie klang. Das musste die Erschöpfung sein. Für alles andere hatte sie keine Kraft mehr.

»Sag du mir nicht, was besser für mich wäre«, zischte die alte Frau. Sie hielt auf den ersten Tisch zu und versuchte, einen der Stühle herunterzuziehen. Das gelang ihr nicht, gleich zwei Exemplare polterten zu Boden. Nico löste sich vom Fenster und ging widerwillig auf Zita zu. Sie hob einen der Stühle auf, stellte ihn vor die Frau hin und machte eine Handbewegung, mit der sie sie aufforderte, Platz zu nehmen.

»Oh, sehr freundlich«, war der bissige Kommentar. »Nun? Genug Unfrieden gestiftet?«

»Nein. Ich habe vor, noch eine Zugabe zu geben.«

»Ah. Eine Gratisvorstellung. Wo denn? Hier?«

»Wenn es sein muss.«

Nico sah ungeduldig zur Tür. Wo blieb Leon? Sie wollte nicht mit Zita allein bleiben. Filis Großmutter war ihr unheimlich. Nicht nur, weil sie so großzügig mit ihren Flüchen umging.

»Und wen willst du dieses Mal an den Pranger stellen?«

»Den Schuldigen, Zita.«

»Für dich immer noch Frau Urban! Und wer wäre das?«

Nicos Blick flitzte wieder zur Tür. »Ich weiß nicht, ob Leon will, dass Sie das mitkriegen. Aber andererseits – Sie haben ja damals so gerne weggesehen, dann wird Ihnen das Hinschauen heute vielleicht ganz guttun.«

»Wie meinst du das?« Die alte Frau stützte sich auf ihren Stock und beugte sich vor. »Weggesehen? Wie meinst du das?«

»Fili wurde missbraucht. In diesem Haus. Vor aller Augen.«

Zita stieß ein Zischen aus. Nico hätte sich nicht gewundert, wenn sie sich vor ihren Augen in eine Schlange verwandelt hätte. »Du wagst es? … Du wagst es? So eine Anschuldigung? So ein Wort?«

»Ja. Missbrauch. Man könnte es auch Vergewaltigung nennen. Aber das ist für zarte Ohren wie die Ihren wohl noch schlimmer. Ein sechsjähriges Mädchen. Ihre eigene Urenkelin Fili wurde oben in ihrem Zimmer zu Dingen gezwungen, die sie nicht hören möchten. Oder?«

Zita stöhnte auf. In Sekundenschnelle wurde ihr Gesicht zu einer papiernen Fratze. Abscheu, Ekel und Verständnislosigkeit spiegelten sich darin. Sie wusste es nicht, dachte Nico schockiert. Himmel, sie sieht so aus, als wusste sie es wirklich nicht.

»Es … Es tut mir leid.« Nico räusperte sich. »Aber es ist die Wahrheit. Und wir wissen, wer es getan hat.«

Zita rang nach Worten. Eigentlich rechnete Nico damit, dass nun Widerspruch kommen würde. Empörtes Abstreiten, wüste Beschimpfungen, Flüche. Das ganze Programm. Aber die alte Frau schien noch mehr zu schrumpfen, geradezu in sich zusammenzufallen.

»Kiana …« Die faltige, blau geäderte Hand fuhr ruhelos über die Tischkante. »Sie war meine Freundin. Sie hat versucht, mit mir zu reden, aber ich wollte es nicht hören. Böse Dinge. Schreckliche Dinge hat sie gesagt. Ich habe sie rausgeworfen. Ich habe ihr nicht geglaubt. Warum sollte ich dir glauben?«

»Weil es die Wahrheit ist.«

»Die Wahrheit? Was ist das denn? Das, was man ahnt, oder das, was man weiß? Wovon redest du? Raus mit der Sprache!«

In diesem Moment polterte Leon die Treppe hinunter und lief weiter in Trixis und Zachs Wohnung.

»Ich will lieber warten, bis Leon dabei ist.«

»Leon … ja.« Zitas Blick verlor sich irgendwo in der Ferne. »Der letzte der Urbans. Der Erbe. Mein Urenkel. Wie Philomenia …«

Leon kam um die Ecke und stürmte in die Gaststube.

»Trixi ist nicht da! Wo ist Trixi?« Sein Blick fiel auf seine Großmutter.

Zita schreckte hoch. »Sie wird in der Kirche sein. Saufen und Beten. Ihr Ein und Alles.«

»In der Kirche ist niemand. Aber im Gemeindehaus ist noch Licht«, sagte Nico.

»Ich gehe schnell rüber. Zita, geh ins Bett.«

Er wollte sich abwenden, aber die alte Frau schüttelte erstaunlich energisch den Kopf. »Nichts da. Ich bleibe hier.«

Mit einem hilflosen Schulterzucken ließ Leon Nico mit dem alten Drachen alleine. Sie hörte irgendwo im Haus eine Tür knallen, dann kamen schlurfende Schritte über den Flur. Zacharias erschien, die Haare vom Schlaf zerstrubbelt, einen verwaschenen Frotteebademantel über dem Schlafanzug. Dazu trug er seine Stiefel; die Schnürsenkel hingen aus den Ösen.

»Was ist hier los?«

Nico musterte ihn mit Abscheu. Ihr entging nicht, dass auch Zita über das Auftauchen ihres Sohnes nicht sehr erfreut war.

»Schmeißt mich aus dem Bett und sagt, ihr wollt mit mir reden. Was soll das?«

Er ging direkt auf Nico zu, die nicht mehr schnell genug ausweichen konnte und unsanft von ihm zur Seite geschubst wurde.

»Wo ist der Bengel? Dem wird ich was erzählen.«

»Er sucht Trixi. Und den Pfarrer«, sagte Nico.

Sie hoffte inständig, Leon würde gleich zurückkommen. Sie wollte nicht allein bleiben mit diesen beiden Menschen, in deren Anwesenheit sie kaum noch Luft bekam. Zach lief in die Großküche, Flaschen klirrten, eine Kühlschranktür wurde auf- und wieder zugemacht, und zu ihrem größten Erstaunen kam er wieder mit einer Flasche – Milch.

»Ach ja?« Er beäugte Nico misstrauisch. »Soll ich dir mal was sagen? Du schiebst jetzt deinen hübschen kleinen Arsch zur Tür raus und machst, dass du hier nie wieder auftauchst. Verstanden?«

Er setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug halb leer.

»Ich warte auf Leon. Wir haben mit Ihnen zu reden. Mit Ihnen allen.«

»Und worüber? Etwa wieder über meine Tochter?«

»Ja«, sagte Nico tapfer. Sie hatte Angst. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie Zita alles gesagt hatte. Ein falsches Wort von der alten Frau, und Zach würde explodieren.

Aber Zita schwieg.

»Meine Tochter geht nur mich etwas an. Nur mich, verstanden? Mach, dass du rauskommst!«

Die letzten Worte brüllte er ihr ins Gesicht. Zita schüttelte den Kopf und hörte gar nicht mehr auf damit.

»Leon wird gleich wieder …«

»Ich scheiß auf Leon und die ganze Mischpoke! Du hast mir gar nichts zu sagen, gar nichts! Das ist Hausfriedensbruch! Wenn ich will, knall ich dich ab!«

»So wie Trixi das vorhatte?«

Seine Augen funkelten gefährlich. »Ja«, sagte er gedehnt. »Schade, dass sie nichts mehr trifft. Aber ich krieg dich noch. Dich krieg ich. Wer in meinem Haus nicht spurt …«

Er war so eine lächerliche Figur. Der abgeranzte Bademantel, die Milchflasche, das unrasierte Gesicht. Ein Wicht. Einer, der glaubte, er wäre der Größte. In Nico platzte der letzte Knoten. Sie vergaß, was sie Leon versprochen hatte. Sie fühlte nur noch, wie eine gleißende Stichflamme von Wut in ihr aufflackerte.

»So wie Fili?« Sie fühlte nur noch Verachtung für diesen Mann, der jedes Gefühl dafür verloren hatte, wie jämmerlich er war. »Musste die auch spuren?«

Mit einem Knall stellte er die Milchflasche vor Zita ab, die erschrocken zusammenzuckte.

»Was willst du damit sagen, du Schlampe? Was?«

»Sie waren es. Sie haben Fili missbraucht. Ihre eigene Tochter.«

Stille.

Dann kam von Zita ein würgendes Geräusch, aber Nico achtete nicht darauf. Ihre Wut verpuffte und Angst kroch wie Gift in ihre Adern. Sie hätte sich die Zunge abbeißen können. Wie blöd musste man sein, ausgerechnet in diesem Moment die Wahrheit zu sagen? Allein mit einer alten Frau, die sie hasste, und dem Mann, der sie um ein Haar umgebracht hätte, um seine Untat zu vertuschen?

»Lüge«, krächzte Zach, weiß vor Wut. »Das ist eine Lüge!«

»Fili hat es aufgeschrieben.«

»Ha! Aufgeschrieben! Sie konnte ja noch nicht mal lesen! Wo denn aufgeschrieben? In ihrem Malheft vielleicht?«

»Oben im Stollen, bevor sie gestorben ist. Dort steht es an der Wand. Ein Kind, ein Bett, ein Mann. Und darüber das Wort Papa. Vier Buchstaben. Die lernt man, glaube ich, recht früh.«

Zach wandte sich ab. Er schwankte.

»Das ist eine Lüge. Ich hab ihr nie wehgetan. Nie! Sie war doch mein kleines Mädchen!«

»Das ihr oben im Zimmer eingeschlossen habt, wenn zu viel zu tun war?«

Er fuhr herum. »Das werft ihr mir vor? Habt ihr eigentlich jemals in eurem Leben gearbeitet? Richtig gearbeitet?«

Zita schnaubte verächtlich. Ihr Blick streifte erst Nico, dann Zach, aber sie sagte nichts. Sie hielt sich einfach raus. So, wie sie das wohl schon immer gemacht hatte. Nico war fassungslos.

»Kiana hat es geahnt, als sie Filis erste Zeichnung gesehen hat«, sagte sie. »Woher wussten Sie, dass es noch eine gab? Eine mit Ihrem Namen? Oben im silbernen Grab? Die Sie verraten hätte, wenn sie jemals gefunden worden wäre? Sie wollten mich aus Siebenlehen vertreiben. Und als Ihnen das nicht gelungen ist, wollten Sie mich umbringen.«

»Du spinnst. Raus!«

»Sie sind mir gefolgt. Den ganzen Weg rauf auf den Berg. Sie haben Maik niedergeschlagen, ihm ein Schloss geklaut und mich in den Stollen gesperrt!«

Ein gefährliches, verschlagenes Lächeln huschte über Zachs Gesicht. »In den Stollen? Welcher Stollen?«

»Sie haben die tote Krähe in meinen Schornstein geworfen, damit ich ersticke!«

»Bisschen Verfolgungswahn, was?«

»Wo waren Sie heute Nacht?«

»Im Bett, Schätzchen. Leider allein. Frag doch mal Trixi.«

Nico sah auf den Boden. Rund um Zach befanden sich feuchte Fußspuren. »Nicht nötig. Es sei denn, Sie gehen mit nassen Stiefeln schlafen.«

Der Schnee, der sich in den Profilen von Zachs Sohlen gesammelt hatte, war geschmolzen. Und die letzten Reste der Feuchtigkeit verteilten sich gerade auf dem Parkett. Entsetzt starrte er auf die verräterischen Spuren.

»Zach?« Zitas Stimme klang dünn und zerbrechlich. »Zacharias?«

Blitzschnell war er hinter der Theke, riss die Schublade auf und kam mit einem Messer in der Rechten zurück. Vorsichtig tastete Nico sich um den Tisch herum Richtung Ausgang – zu spät. Zach schnitt ihr den Weg ab.

»Komm her, Schlampe. Ich schneid dir die Gurgel durch!«

Er kam näher, die Klinge zielte auf Nicos Gesicht. Sie wich aus, rannte um den Tisch herum, aber Zach tauchte sofort wieder vor ihr auf.

»Aufhören!«, schrie sie. »Das hat doch keinen Sinn! Leon hat es gesehen und Maik auch!«

»Maik, der Irre!« Zach lachte und es klang auch nicht gerade zurechnungsfähig. »Und Leon? Wo ist er denn? Ihr seid hier eingebrochen und ich hab mich gewehrt. Jugendliches Gesindel! Glaubt, es gibt hier was zu holen!«

Die Klinge erwischte Nico am Oberarm. Sie spürte einen kurzen, brennenden Schmerz und warf sich zur Seite.

»Zita!« Die Alte saß da und murmelte vor sich hin. »Er bringt mich um! Zita!«

Nico rannte zur Tür, stolperte über einen Stuhl und fiel der Länge nach hin. Sofort war Zach über ihr. Sie hob die Hände und griff direkt in die Klinge. Dieses Mal war es die Hölle. Blut spritzte aus der Wunde und lief ihren Arm hinunter. Zach packte ihren Kopf und zog ihn nach hinten. Sie spürte das Messer an ihrem Hals.

»Ihr wollt mich fertigmachen, ja?«

»Nein«, wimmerte Nico. »Nein!«

Etwas zerschnitt die Luft. Der Schlag klang wie Holz auf Holz. Zachs Kopf kippte nach hinten. Er riss die Augen auf und sank, beinahe anmutig, zur Seite. Über ihm, aus Nicos Sicht fast überirdisch groß, stand Zita, den Gehstock in der Hand, schwer atmend, zitternd, und ließ ihn nach einer Ewigkeit sinken.

Die Haustür wurde aufgestoßen. In dem Stimmengewirr identifizierte Nicos Hirn einzig und allein Leon. Leon, der hereingestürzt kam, seine Großmutter im letzten Moment auffangen und zum Stuhl begleiten konnte, sich dann über Nico beugte und ihr hochhalf.

»Dieses Schwein«, sagte er. »Dieses miese Schwein.«

Um Nico und Zach drängelten sich Trixi – sie fiel erst einmal theatralisch auf die Knie und überzeugte sich davon, dass ihr Mann noch lebte, – der Pfarrer und ein Mann, den Nico noch nicht kannte, der aber eine große Ähnlichkeit mit Leon hatte: die gleichen dunklen Augen und widerspenstigen Haare, die gleichen schlaksigen Bewegungen. Sein Gesicht war gröber – wahrscheinlich das Alter, er war vielleicht Anfang fünfzig. Aber er sah sympathisch aus.

»Urban«, sagte er und reichte Nico die Hand. Seine Stimme klang verschnupft »Lars Urban. Oh, Verzeihung.«

Er sah Nicos Verletzungen.

»Ich kümmere mich mal um einen Verbandskasten.«

Leon führte Nico an Zitas Tisch und schob ihr den Stuhl zurecht. »Danke«, murmelte sie in Richtung der alten Frau. Das hätte sie Zita niemals zugetraut.

»Darf ich fragen, was geschehen ist?« Der Pfarrer sah sich ratlos um. »Wer hat denn Zacharias zusammengeschlagen?«

Nico hob ihre blutende Hand und deutete auf Zita. Alle sahen ungläubig auf die alte Frau, die wachsbleich und schweigend auf ihrem Stuhl saß.

»Er hatte vor, mich zu killen. Ich … ich hab’s ihm gesagt.«

»Du hast was?«, fragte Leon. »Du hast es ihm gesagt? Alleine?«

»Na ja, Zita war noch dabei.«

Trixi kam auf die Beine. »Was hast du ihm gesagt?«, fragte sie drohend.

Zach stöhnte. Trixi sah aus, als könnte sie sich nicht entscheiden zwischen der Option, Nico die Augen auszukratzen, und der, sich um ihren Mann zu kümmern.

»Vielleicht sollten wir uns erst einmal der Verletzten annehmen?«, fragte der Pfarrer.

Lars Urban kam gerade mit einem Verbandskasten zurück. »Gute Idee. Zeigen Sie mir mal Ihre Hand, junge Frau.«

Während Leons Vater Nico verarztete, hoben Leon und der Pfarrer Zach auf einen Stuhl. Er schien immer noch nicht ganz bei sich zu sein.

»Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung?«, fauchte Trixi Zita an. »Du hättest ihn töten können!«

»Ich glaube, Sie verwechseln da was.« Nico krempelte gerade ihren blutbefleckten Ärmel hoch. »Zita hat mir das Leben gerettet.«

»Schlampe«, murmelte Zach.

Sein Bruder sah kurz von Nicos Hand und dem Verband hoch. »Du solltest ruhig sein, ganz ruhig. Leon hat mir erzählt, was Fili an die Höhlenwand geschrieben hat. Ist das wahr?«

»Natürlich nicht!«, brauste Zach auf. »Das haben die sich ausgedacht, um einen Schuldigen zu haben.«

Leon war in drei Schritten am Tisch und fixierte Zach mit einem wütenden Blick. »Dann war es also auch der große Unbekannte, der Nico oben im Berg eingeschlossen hat?«

»Seht euch seine Schuhe an«, sagte Nico. »Sie sind noch ganz feucht vom Schnee. Er war oben. Er hat Maik niedergeschlagen und mich wollte er sterben lassen. Nur, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt.«

»Die Wahrheit!«, kreischte Trixi. »Welche Wahrheit?«

Der Pfarrer räusperte sich. »Die, die du schon zwölf Jahre mit dir herumträgst, und vielleicht sogar schon etwas länger. Ich habe dir vorhin in der Kirche einen Rat gegeben. Und wenn du ganz ehrlich bist – du wolltest ihn nicht hören. Denn du hast ihn eigentlich nicht gebraucht. Du bist so weit.«

»Was soll das?« Zach sah voller Abscheu von seiner Frau zu dem Seelsorger. »Macht ihr jetzt hinter meinem Rücken eine Gruppentherapie oder was?«

»Ich verlasse dich.« Trixi holte tief Luft. »Ich weiß, was du getan hast.«

»Was?«, brüllte Zach. »Was hab ich getan?«

»Ich habe weggeschaut! Ich wollte es nicht wahrhaben, was für ein Schwein du bist. Ich dachte, wenn ich es ignoriere, ist es auch nicht da. Aber das stimmt nicht. Es hat mich ausgehöhlt. Ich bin nur noch was Leeres. Eine Hülle. Von mir ist nichts mehr übrig.«

»Dann sauf nicht so viel!«

»Dann hör du auf, dir dieses Zeug im Internet anzuschauen! Diese ekligen Sachen, diese perversen Seiten, auf denen Kinder sind, Kinder! Du Schwein! Ich hasse dich! Ich hasse dich!«

Sie wollte sich auf ihn stürzen, aber dieses Mal war der Pfarrer schneller. Er zog Trixi von Zach weg und hielt sie fest. Sie brach heulend zusammen.

Zach sah in provozierender Frechheit in die Runde. »Na und? Macht das keiner von euch? Oder habt ihr alle was Knackiges im Bett statt so einer Alten?«

Trixi schluchzte auf. »Kinder!«

»Junge Mädchen!«, giftete Zach. »Wenn du nicht aufhörst, mir kriminelle Dinge unterzujubeln, dann werde ich dich …«

Er holte aus, Trixi zuckte zusammen. Lars und Leon wollten ihr zu Hilfe eilen, aber dieses Mal war der Pfarrer schneller. Mit dem rechten Arm drückte er Zach an den Türrahmen.

»Wag es nicht, die Hand gegen Weib und Kind zu erheben!«

»Ich hör mir das nicht mehr länger an!«, brüllte Zach. »Das ist doch Hexenjagd gegen mich! Ihr steckt doch alle unter einer Decke!«

Nico wechselte einen schnellen Blick mit Leon. Der bückte sich und inspizierte Zachs Schuhe.

»Warum sind sie nass? Du warst im Schnee heute.«

»War ich eben draußen. Ist das ein freies Land oder was?«

Lars Urban war fertig mit dem Verband. Nico hob ihre Hand und betrachtete die Bandage. »Das ist mal mindestens Körperverletzung.«

»Und das da?« Zach deutete auf seinen Hinterkopf und dann auf Zita. »Die ist doch irre. Ihr alle seid irre. Verschwindet aus meinem Haus!«

Er sprang auf und riss mit einer theatralischen Geste die Tür auf. Alle waren still. Scheiße, dachte Nico. Ich habe alles kaputt gemacht. Hätte ich doch bloß auf Leon gewartet. Jetzt steht Aussage gegen Aussage. Dieses Schwein wird niemals zur Rechenschaft gezogen. Was nutzt uns tauender Schnee an Stiefelsohlen? Er trocknet. Trixis Aussage ist nichts wert. Er wird den Rest seines Lebens sich und der Welt in die Tasche lügen. Sie spürte Leons Hand auf ihrer Schulter.

Sein Vater stand auf. »Hast du Fili … Hast du dich an deiner Tochter vergriffen? Wenn ja, dann prügele ich dich aus dem Haus und diesem Dorf, mit meinen eigenen Händen.«

»Raus!«, schrie Zach. Er sah aus wie ein wild gewordener Bulle. »Alles Lügen! Glaubt ihr etwa diesem versoffenen Miststück?«

Er deutete auf Trixi, die verzweifelt die Hände vors Gesicht schlug.

»Oder dieser kleinen dahergelaufenen Schlampe, die von Kiana erst so richtig angestachelt worden ist?«

»Kiana hatte recht!«, rief Nico. Der Druck von Leons Hand auf ihrer Schulter wurde stärker. Bleib sitzen, sollte das heißen. Bleib um Himmels willen sitzen.

»Kiana hatte recht«, wiederholte eine Stimme. Rau wie Sandpapier, brüchig wie altes Pergament. »Und wir haben sie aus dem Haus gejagt.«

Alle Köpfe fuhren herum, alle Augen blickten auf Zita. Die alte Frau mit den tiefen Falten und dem gebeugten Rücken hatten sie völlig vergessen. Zita umklammerte noch immer ihren Stock mit zitternden Händen. Sie sieht aus wie eine alte Indianerin, fuhr es Nico durch den Kopf. Eine Schamanin, die im Begriff ist, ein grausames Urteil zu verkünden. Auch die anderen schienen von Zitas Verwandlung in den Bann gezogen.

»Du bist nicht mehr mein Blut.«

Fassungslos fiel Zachs Hand von der Türklinke herunter. Mit offenem Mund starrte er Zita an.

»Ich habe dich gesehen, wie du aus Filis Zimmer gekommen bist. Den Reißverschluss deiner Hose hast du hochgezogen. Ich hörte Filis Weinen. Aber ich fürchtete mich, zu ihr zu gehen. Ich fürchtete mich, ein Monster großgezogen zu haben. Wird Gott mir diese Furcht je verzeihen?«

Ihr trüber Blick suchte den Pfarrer. Der ließ Trixi los, die sich das Gesicht abwischte. Er faltete die Hände und senkte den Kopf. Nico dachte an das Beichtgeheimnis. Wenn Trixi ihm tatsächlich von ihrem Verdacht erzählt hatte, musste er sich all die Jahre lang furchtbar gefühlt haben.

»Das … Das bildest du dir ein«, stotterte Zach. Sein Blick irrlichterte durch den Raum auf der Suche nach letzten Verbündeten. Aber keiner rührte sich.

»Also habe ich geschwiegen«, fuhr Zita fort. Ihre Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Lieber habe ich die Mahner vom Hof gejagt als dieser grausamen Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Und selbst heute, zu dieser Stunde noch, wäre ich lieber tot als dich zu sehen und zu wissen, was du bist. Geh. Geh mir aus den Augen. Ich will vergessen, dass du geboren wurdest.«

»Zita …«

»Ich kenne dich nicht. Wäre ich nur mutiger gewesen, ich hätte die Tragödie vielleicht verhindern können. Stattdessen wollte ich vergessen. Das Wegsehen hat Philomenia aus dem Haus gejagt. Und wir haben weiter geschwiegen. Aber das Ungesagte, Ungesühnte hat unsere Familie vergiftet. Die Feigheit hat die einen zu Säufern gemacht und die anderen zu hartherzigen Monstern. Bis dieses Mädchen kam und alles wieder aufwühlte.«

Nico erschauerte unter dem Blick, mit dem die Alte sie ansah.

»Ich habe dich verflucht, weil du die Geister aus den Gräbern geholt hast. Ich konnte es nicht ertragen, noch einmal dieselben Fragen zu hören. Alles kam wieder hoch, wie Moorleichen vom Grund eines trüben Sees. Weil du gekommen bist. Ich wünschte … Ich wünschte …« Nico stockte der Atem. Jetzt bitte kein Fluch, dachte sie. Das halte ich nicht mehr aus. »… ich hätte deinen Mut gehabt, mein Kind.«

Die Stimme der Alte war plötzlich ganz weich geworden. Tränen schimmerten in ihren Augen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Nico. »Aber es ging nicht anders.«

Zita stand auf. Sie würdigte Zach, der mit hängenden Schultern dastand und auch nicht mehr weiterwusste, keines Blickes. Stattdessen wandte sie sich Lars zu, und alle Blicke folgten ihr.

»Das Haus gehört dir, Lars. Das hatte dein Vater noch so bestimmt, aber du hast dich immer wieder von Zacharias an der Nase herumführen lassen. Nimm es und mach, was du willst. Ich werde mir einen Platz in einem Heim suchen. Wenn man meine alten Knochen noch nimmt.«

»Das … Das kommt nicht in Frage«, sagte Leon. Er rang nach Worten. Zitas Geständnis, das alles ans Licht gebracht hatte, hatte ihn genauso aufgewühlt wie die anderen. »Du bleibst hier. Der Schwarze Hirsch ist dein Zuhause und wird es bleiben. Nicht wahr?«

Er sah zu seinem Vater. Lars Urban nickte. Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als ob er etwas abwaschen wollte. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus.

»Das wird ein schweres Erbe. Ich weiß noch nicht genau, wie wir es anstellen werden, aber spätestens im nächsten Sommer herrscht hier wieder Betrieb. Und wenn du dann noch deine alte Tracht rauskramst und dich draußen unter den Apfelbaum setzt, werden die Gäste in Scharen kommen.«

Zita wies mit dem Kopf auf Nico. »Und was sagt sie?«

Nico räusperte sich. In die urbanschen Familienangelegenheiten wollte sie sich nicht einmischen. »Ich? Zita hat mir das Leben gerettet. Wenn sie Zach nicht eins über die Rübe gegeben hätte, wäre ich jetzt tot. – Wo ist er eigentlich? Und wo ist Trixi?«

Die beiden waren sang- und klanglos verschwunden.

»Sie werden packen«, knurrte Leon. »Aber weit werden sie nicht kommen. Ich rufe die Polizei.«

Er ging zum Telefon auf dem Tresen, wählte eine Nummer und sprach leise in den Hörer. Nico stand auf. Wenn sie nicht bald in ein Bett käme, würde sie sich auf den Boden legen und einschlafen. Draußen vor dem Fenster begann die Nacht, sich zögernd und langsam aufzulösen.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte sie.

Es klang wie das ferne Brummen eines Dieselmotors. Oder eine Kettensäge. Oder beides zusammen.

»Die Räumfahrzeuge!« Lars Urban ging in den Flur und öffnete die Haustür. »Sie kommen!«, rief er den anderen zu.

Leon legte auf. Er und der Pfarrer liefen auch hinaus. Nico war die Letzte, die sich noch einmal nach Zita umsah. Sie wollte etwas zu der alte Frau sagen, aber ihr fiel nichts ein.

»Kann man so einen Fluch auch wieder rückgängig machen?«, fragte sie schließlich. Zita schüttelte unwillig den Kopf. »Wer an Flüche glaubt, glaubt auch an Märchen.«

»Ach so. Ja. Gut. Na dann.«

Für ein Lebewohl oder ein Auf Wiedersehen war es vielleicht noch zu früh – oder schon lange zu spät.

Schattengrund
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