Siebzehn
Nico saß mit angezogenen Beinen auf der Couch und klammerte sich an ihren Teebecher fest. Das Feuer loderte im Kachelofen, und draußen vor dem Fenster vertrieb die Morgendämmerung die Dunkelheit. Sie erinnerte sich nicht, jemals so früh hellwach gewesen zu sein.
Leon schürte die Glut. Der Rauch zog ohne Probleme ab. In der Luft hing immer noch ein beißender Gestank, aber Nico hatte die Türen trotzdem geschlossen. Sie beobachtete, wie Leon die Ofenklappe öffnete und Kohlen nachlegte. Er trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und prüfte, ob sie auch richtig lagen. Kein überflüssiger Handgriff, jede Geste von ihm hatte einen Sinn. Sie merkte, dass sie ruhiger wurde, wenn sie ihn bei so einfachen, aber lebensnotwendigen Dingen wie Heizen zusehen konnte. Wahrscheinlich hätte seine Anwesenheit eine ähnliche Wirkung, wenn er Türen streichen oder Abflussrohre reinigen oder Mammuts zerlegen würde. Er tat etwas, und tun war immer gut.
Der tote Vogel im Schnee und die Blutstropfen – das Bild tauchte immer wieder auf. Wer warf eine geköpfte Krähe in einen Schornstein? Warum? War das ein unbekanntes Ritual zur Teufelsaustreibung? Mit Anfeindungen konnte sie umgehen, mit Verwünschungen auch. Aber nun war eine Grenze überschritten worden.
»Und wenn ich es bis Altenbrunn schaffe?«
Leon stellte den Schürhaken zurück und klopfte sich die Hände an seiner Hose ab. »Das schaffst du nicht. Der Schnee liegt zu hoch. Du müsstest dich quasi durchgraben.«
»Ich will weg. Das wird mir zu unheimlich. Wenn du nicht gewesen wärst …«
Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. Sie trank einen Schluck Tee und versuchte, die kleine Enttäuschung zu ignorieren. Warum setzte er sich nicht neben sie? Stattdessen zog er es vor, auf Abstand zu gehen.
»Ich hatte so ein Gefühl.« Er strich sich die Haare zurück. Sie waren noch feucht und fielen ihm immer wieder in die Stirn.
»Und was sagt das sonst noch?«
Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war ein Schock. Nico wusste nicht, was er zu bedeuten hatte. Am liebsten hätte sie ihre Frage zurückgeholt. Sie klang zweideutig. So, als ob sie etwas ganz anderes wissen wollte. Dabei hatte sie nur an eine Einschätzung der Lage gedacht. Ob sie zur Polizei sollten. Ob es in Siebenlehen überhaupt eine Polizei gab. Ob der Täter wiederkommen würde. Was dieser Anschlag zu bedeuten hatte.
»Mein Gefühl?«, wiederholte er leise.
Nico sah ihn über den Rand ihrer Teetasse an und fragte sich, was passieren würde, wenn sie wirklich über Gefühle reden würden. Bitte nicht, dachte sie und merkte, wie sie rot wurde. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie waren eben dem Tod entronnen – ziemlich souverän, wie sie fand, und ein einziger Satz, ein Blick brachte sie völlig aus der Fassung.
Sie nahm einen tiefen Schluck, obwohl sie wusste, dass sie sich damit den Mund verbrennen würde. Nur, um zu husten, zu röcheln und damit die Spannung, die in der Luft zu liegen schien, zu zerstören.
»Was erwartet mich, wenn ich nicht schnell genug die Kurve kratze?«
Er nahm ihr gedankenverloren den Teebecher aus der Hand und trank einen Schluck. Seine Finger berührten ihre. Es war wie ein winziger, elektrischer Schlag.
»Nichts. Solange ich bei dir bin.« Mit einem Grinsen reichte er ihr den Becher zurück.
Sie atmete auf. Er war die Ruhe selbst. Ihre Gegenwart schien ihn in keiner Weise nervös zu machen. Sie überlegte, ob sie Freunde werden könnten.
»Warum hassen mich alle so?«
»Ich weiß es nicht. Wirklich. Wahrscheinlich, weil du keine Tischmanieren hast und frisst wie ein Scheunendrescher.«
»Was?« Nico griff nach dem nächstbesten Kissen und wollte es in seine Richtung schleudern, aber Leon sprang blitzschnell auf und brachte sich hinter dem Sessel in Sicherheit.
»Ich finde es ja süß.« Er ahmte nach, wie sie mit vollen Backen kaute, und konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken.
»Und grade wollte ich fragen, was es zum Frühstück gibt!«
»Rühreier?«, fragte er. »Einfach um zu sehen, ob du deine Bestmarke von sechs Komma acht Sekunden noch überbieten kannst.«
»Weiß nicht«, sagte sie und grinste. »Käme auf einen Versuch an.«
Während sie wenig später unter der heißen Dusche stand und langsam das Gefühl hatte, wieder aufzutauen, machte Leon sich in der Küche zu schaffen. Sie war froh, dass die kurze Befangenheit zwischen ihnen nur ihr aufgefallen zu sein schien. Den Anflug von schlechtem Gewissen, dass er eigentlich ununterbrochen von ihr auf Trab gehalten wurde, ignorierte sie. Wahrscheinlich war er froh, aus dem Schwarzen Hirschen wegzukommen. Sie spürte, wie die Anspannung sie verließ. Je heller es draußen wurde, umso leichter fiel es ihr, die Geschehnisse der Nacht als einen Streich abzutun. Einen Streich, der böse hätte enden können, der dank Leons Hilfe aber glimpflich abgelaufen war.
Sie griff nach dem Handtuch und trat an die beschlagene Scheibe des Badezimmerfensters. Mit einem Zipfel rieb sie ein kleines Guckloch frei. Über die Kreuzung hinweg bewegte sich eine Prozession. Sie sah genau so aus wie die, die sie auf dem Foto im Schwarzen Hirschen gesehen hatte. Wahrscheinlich würde sie sich nie verändern. Nicht in sechzig und auch nicht in sechshundert Jahren. Es gab Dinge, an denen die Zeit spurlos vorüberging.
Vorneweg schritten Ministranten mit Weihrauchfässern. Ihnen folgte der Kreuzträger, dahinter tauchten Männer in schwarzen Mänteln auf, die Leuchter und eine Statue trugen. Und dann, in die dunkle Tracht der Siebenlehener Bergleute gekleidet, rund hundert Menschen.
Nico zog sich in Windeseile an und raste hinunter in die Küche, wo Leon bereits den Tisch gedeckt hatte.
»Die Prozession!«, rief sie durch die offene Tür. Sie rannte weiter ins Wohnzimmer und riss den Vorhang am Fenster zur Seite. Leon folgte ihr. Der Zug verließ die Kreuzung und setzte sich Richtung Schattengrund in Bewegung.
»Wohin wollen die?«
»Keine Ahnung.«
Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. »Ich dachte, du kennst dich so gut aus mit den Bräuchen hier?«
Urplötzlich legte er ihr die Arme um die Schultern und zog sie kurz an sich. Nico wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Noch nie war Leon ihr so nah gewesen. Wenn sie den Kopf an seine Schulter legen würde – wäre das zu viel? Was würde er von ihr denken? Gerade noch hatte sie die heikle Frage nach Gefühlen mit Ach und Krach umschifft, da überraschte er sie mit so einer Geste.
»Du riechst irgendwie geräuchert«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Er ließ sie los und schob den Vorhang noch ein Stück zur Seite. Sie hätte sich ohrfeigen können. Ein Mann nahm sie in den Arm. Einer, der ihr nicht nur das Leben gerettet hatte – mehrmals, wie sie mittlerweile zugeben musste – , der umwerfend gut aussah und der sie auch nicht für verrückt erklärte, wenn sie in Feindesland nach Schwertern und Türmen suchte. Und ihr fiel nichts Besseres ein, als ihn geruchsmäßig mit einem deftigen Schweineschinken zu vergleichen.
Du lernst es nie, Nico, dachte sie. Erst Gehirn einschalten, dann Mund aufmachen.
»Sie kommen hoch.« Leon drehte sich zu ihr um. »Du ziehst dir vielleicht besser was anderes an.«
Nico schaute hinunter zu ihren Füßen, die in dicken Wollsocken steckten. Sie trug eine weite, etwas ausgeleierte Haremshose und ein zerknittertes Sweatshirt, das sie in aller Hast aus dem Schrank gezogen hatte. Vielleicht sollte sie grundsätzlich ein bisschen mehr darauf achten, hier nicht zu verwildern.
»Es könnte sein, dass sie klingeln und eine Spende wollen. Ich weiß es nicht. Aber es sieht ganz so aus, als ob Schattengrund ihr Ziel wäre.«
»Echt? Dann brauchen sie die Freiwillige Feuerwehr.«
Er sah sie fragend an.
»Fürs Weihwasser«, sagte Nico. »Ein paar Tropfen reichen da nicht.«
Sie lief wieder nach oben und begutachtete den kläglichen Rest ihrer Garderobe. An gesellschaftliche Ereignisse wie eine Heiligenprozession hatte sie bei der Zusammenstellung natürlich nicht gedacht. Nach einigem Hin und Her entschied sie sich, dass eine Jeans und der schwarze Pullover reichen mussten. Sie hatte gerade noch Zeit, sich die feuchten Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden und eine Mütze aufzusetzen, als sie leise Stimmen und die knirschenden Schritte vieler Menschen über Schnee hörte. Hektisch lief sie hinunter zu Leon, der immer noch am Fenster stand, sich aber vor den Blicken von außen hinter dem Vorhang verbarg.
»Sie warten auf dich.«
Nicos Herz verkrampfte sich. Die Prozession war vor dem Gartentor zum Stehen gekommen. Gerade drehte sich der Pfarrer um und richtete einige Worte an seine Schäfchen. Sie kamen offenbar nicht gut an, denn das Murren war bis ins Haus zu hören.
»Ich hoffe ja nicht, dass sie stürmen«, sagte sie mit einem Anflug von Galgenhumor. »Unsere einzigen Waffen sind Briketts und Besen. Aber ob man damit gegen eine Hundertschaft aufgebrachter Bürger ankommt … Wann noch mal wurde hier zuletzt gelyncht?«
Leon schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du sollst raus und mitlaufen.«
»Was?«
Der Pfarrer hob gerade beschwichtigend die Hände. Nico sah, dass nicht alle aus Siebenlehen aufgebracht waren. Die meisten standen nur frierend herum wie bestellt und nicht abgeholt und warteten wohl darauf, dass es weiterging. »Ohne mich.«
»An deiner Stelle würde ich es tun. Die Leute haben doch nur Angst vor Dingen, die sie nicht kennen.«
»Ich bin kein Ding.«
»Natürlich nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ganz Siebenlehen dich ablehnt.« Leon warf ihr einen aufmunternden Blick zu. »Du schaffst das schon. Das könnte eine Chance sein, und der Pfarrer versucht wohl gerade, sie dir zu geben.«
»Ach ja? Und du?«
»Ich bleibe hier.«
»Warum das denn? Ich soll alleine da raus? Jemand von denen hat heute Nacht versucht, mich umzubringen!«
»Ich kann nicht.«
Nico verschränkte die Arme über der Brust. Der Verdacht war böse, aber logisch und nachvollziehbar. »Ach so. Du willst nicht mit mir gesehen werden.«
»Genau.« Er ging hinüber in die Küche und kam mit Nicos Jacke zurück, die er ihr mit einer auffordernden Geste reichte. »Hast du eine Vorstellung davon, was das mit deinem Ruf anstellt, wenn die Leute sehen, dass ich heute Nacht bei dir war?«
»Mein Ruf ist hier doch wohl schon ziemlich über den Jordan, oder?«
»Wenn man an den Pranger gestellt wird, dann nur für Dinge, die man auch getan hat. Und …« Er brach ab und sah sie an, dass ihr heiß und kalt wurde. Nico, dachte sie, was passiert hier mit dir?
»Und was?«, fragte sie leise. Mehr als Nachplappern war im Moment sowieso nicht drin.
»Also was ich damit sagen will …« Er kam näher, hob die Hand und zupfte mit einer fast zärtlichen Geste ihre Mütze zurecht. Sie hatte das Verlangen, ihren Kopf in diese Hand zu schmiegen und seine Berührung nie mehr zu verlieren. Aber sie konnte sich nicht rühren.
Es klopfte. Nico fuhr zurück und stolperte, wie aus einem Traum gerissen, zur Tür. Sie riss sie auf und starrte auf einen Pfarrer mit erhobener Hand. Er war nur wenig größer als Nico und mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein. Was sie irritierte, war nicht der Umstand, dass er gerade dabei gewesen sein musste, die Tür zu segnen, sondern der Ausdruck in seinem Gesicht, mit dem er das tat. Angst.
Er hat Angst vor mir.
Der Geistliche versuchte, ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern. Er trug eine randlose runde Brille, was seinem schmalen Gesicht durchaus etwas Gelehrtes verlieh. Er hatte helle, wache Augen unter buschigen Brauen, glatt rasierte Wangen und eine hohe Stirn. Er wirkte mehr wie ein Professor als wie ein Pfarrer. Ein etwas verwirrter, leicht zu erschreckender Wissenschaftler.
»Guten Tag«, sagte er. Seine Stimme war hoch, aber nicht unangenehm. »Wir sind hier, um zu fragen, ob Sie sich nicht unserer Prozession anschließen wollen.«
»Wer ist wir?«
»Die Gemeinde von Siebenlehen.«
Die Leute sahen immer noch nicht aus, als ob sie zu hundert Prozent hinter ihrem Pfarrer stehen würden. Leises Zischeln und Raunen erhob sich aus den ersten Reihen. Nico runzelte die Stirn. Leon stand hinter der Tür und nickte ihr aufmunternd zu.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
Der Pfarrer lächelte. »Das klingt zumindest nicht nach einem Nein. Kommen Sie mit. Viele sind neugierig, wer in Kianas Haus gezogen ist, und wollen Sie kennenlernen.«
»Ach ja?«
Sie suchte die Menge nach bekannten Gesichtern ab. Und sah – Maik. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte ihr fröhlich zu.
»Nico!«, brüllte er und klirrte ein bisschen. Alle drehten sich nach ihm um, als hätte er gerade den Leibhaftigen gerufen. »Komm mit! Nachher trinken wir noch einen zusamm’!«
Stille. Maik sah sich betreten um. Er war wohl der Einzige, der sich über seinen Umgang nicht das geringste Kopfzerbrechen machte.
»Sehen Sie?« Der Pfarrer bot ihr in einer rührenden Geste seinen Arm an. »Sie sind gar nicht so schlimm.«
Achtzehn
Die Prozession war schon am Weiterziehen. Nico reihte sich irgendwo in der Mitte ein und hielt Ausschau nach Maik. Als sie ihn gefunden hatte, arbeitete sie sich zu ihm durch. Er grinste sie schüchtern an und sah zu Boden.
»Wie schmeckt das Katzenfutter?«
»Bestens«, antwortete sie und erinnerte sich daran, dass auf ihrem Herd wohl gerade Spiegeleier kalt wurden. Sie ignorierte ihren knurrenden Magen und sah sich um.
Die meisten Leute mieden ihren Blick. Aber es gab auch einige, die ihr freundlich zunickten. Sie war froh, wenigstens eine Person gefunden zu haben, neben der sie herlaufen konnte. Jemand stimmte ein Lied an und alle fielen ein.
Die du im Erdenschoße
des Bergmanns starker Hort,
hör Barbara, du Große,
getreuer Knappen Wort.
Zu schwerem Werk wir fahren
hinab den dunklen Schacht,
o mögst du uns bewahren
in tiefer Bergesnacht.
Will uns der Fels zerschmettern,
droht donnernd uns der Tod
in flammenden Schlagwettern,
so reiß uns aus der Not.
Die du im Kampf mit Geistern
der Tiefe unser Schutz,
hilf uns auch heute meistern
der böse Feinde Trutz.
Und schlägt die Feierstunde,
geht es zum Tag hinauf,
so grüßt aus treuem Munde
dich jubelnd ein »Glückauf!« –
»Glückauf!« – »Glückauf!« –
Der Ruf wurde weitergetragen, erreichte Nico, die mit einstimmte, und verebbte hinten bei den Nachzüglern. Jubel klang anders, aber vielleicht war es auch einfach nur zu kalt. Die Prozession führte einmal durch ganz Siebenlehen. Langsam verlor Nico ihre Befangenheit. Wenn Leute an den Fenstern standen oder Türen öffneten und winkten, winkte sie zurück. Die Bewegung hielt sie warm.
Es war nicht leicht, durch den Schnee zu stapfen. Der Zug wurde länger und länger, weil viele nicht so schnell mitkamen und zurückfielen. Manche grüßten Nico freundlich, andere streifte sie nur mit einem eisigen Blick. Sie erkannte die Bäckersfrau, die sich mit hochrotem Gesicht und unter lautem Schnaufen bei einem hageren Mann eingehängt hatte, der einen nicht sehr glücklichen Eindruck machte. Ein Stück dahinter tauchte das missmutige Gesicht von Zach auf. Er wurde begleitet von einer korpulenten blonden Frau, die aussah, als ob sie am liebsten zurück ins Bett kriechen wollte. Nico achtete darauf, den beiden nicht zu nahe zu kommen. Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie die Kirche. Die heilige Barbara wurde hineingetragen und verschwand.
»Ist sie nicht schön?«, fragte Maik mit leuchtenden Augen.
Nico stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie hatte die Figur bis jetzt nur von hinten gesehen. Die Kirche war voll. Immer noch strömten Leute hinein, gleich würde die Messe beginnen. Einige nicht ganz so Gläubige verabschiedeten sich und so entstand im Eingang ein Durcheinander von Kommenden und Gehenden.
»Ich zeig sie dir. Du musst sie dir anschauen.«
Er packte ihre Hand und zog sie mit sich. Nico musste es wohl oder übel geschehen lassen, denn jede Gegenwehr war zwecklos. Wer Maik nicht schnell genug auswich, wurde gnadenlos zur Seite geschoben.
Die heilige Barbara hatte die Größe eines Kindes. Das blonde Haupt hielt sie leicht gesenkt. Die eine Hand ruhte auf dem Herzen, die andere war von ihrem weißen Umhang verborgen. Je näher Nico kam, desto mehr spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Das Stimmengemurmel wurde leiser, die Leute wichen ihr aus. Maik ließ ihre Hand los und blieb zurück. Wie ferngesteuert marschierte sie weiter und konnte den Blick nicht von der Figur wenden. Die Gasse zwischen den Bänken wurde leer, die letzten Schritte ging sie allein.
Es wurde totenstill. Nico blieb stehen und konnte nicht glauben, was sie sah.
Die heilige Barbara war das Mädchen aus ihrem Traum.
Sie stand barfuß auf einem Steinhaufen – wahrscheinlich war er nicht echt, sonst hätten die Männer die Figur gar nicht tragen können. Um sie herum waren Tannenzweige drapiert. Demütig hielt sie den Kopf halb gesenkt und schien Nico anzusehen. Der weich fließende weiße Umhang verdeckte, dass sie ein Schwert in der linken Hand hielt. Nico hielt den Atem an. Der flache Steinhaufen, auf dem die Märtyrerin stand, entpuppte sich als Sockel eines kleinen Turms, der ihr bis zu den Hüften reichte.
»Turm und Schwert«, flüsterte Nico. »Was hat das zu bedeuten?«
Sie sah hoch zu dem Mädchen, als ob sie eine Antwort erwarten würde. Sein Gesicht war aus Wachs, aber so naturgetreu gebildet, dass Nico sogar die Tränen sehen konnte, die am Wimpernkranz der Heiligen hingen. Tränen aus Eis. Nico blieb fast das Herz stehen, als eine von ihnen sich löste, auf die Wange fiel und wie eine durchsichtige Perle hinunter bis ans Kinn rollte. Es sah so echt aus, als würde das Mädchen gleich von seinem Bett aus Tannenzweigen herunterspringen. Dabei fing das Eis nur an zu tauen. Aber Menschen hatten schon immer an Wunder geglaubt, für die es bei näherer Betrachtung eine natürliche Erklärung gab. Und genau die wollte Nico haben.
Der Pfarrer wurde aufmerksam und kam die Stufen vom Altar zu ihr herunter.
»Wer ist das?«, flüsterte Nico.
»Die heilige Barbara.«
»Das stimmt nicht.« Sie drehte sich um. Die Leute, die ein paar Meter weit entfernt standen, wichen einige Schritte zurück und suchten sich einen Platz in den vorderen Bankreihen. »Wer ist sie?«
Das Murmeln und Zischen begann hinten am Eingang und setzte sich wie eine Welle fort. Zwei Messdiener arrangierten die Kerzen, ein dritter huschte mit seinem Weihrauchbecken gerade neben den Altar. Der Geruch des brennenden Harzes breitete sich aus wie süßes Gift, das bei jedem Atemzug tiefer in Nicos Lunge drang. Ihr wurde schwindelig und übel.
Der Pfarrer hob die Hände und machte eine beschwichtigende Geste. Die Menschen in der ersten Bankreihe warfen sich vielsagende Blicke zu.
»Nehmen Sie Platz, die Messe beginnt gleich«, sagte er leise. »Bringen Sie doch nicht die ganze Liturgie durcheinander.«
»Ich will wissen, wer dieses Mädchen ist.«
»Später. Ich erkläre es Ihnen. Nicht jetzt.«
Die Orgel begann mit der Improvisation eines Kirchenliedes. Wohin Nico auch sah – das Wohlwollen, das sie zu Beginn der Prozession noch bei einigen entdeckt hatte, war komplett verschwunden. In den Gesichtern spiegelten sich nur noch Ungeduld, Missfallen und offen gezeigter Ärger. Sie war der Störenfried, der mitten in der Kirche dem Pfarrer und der Gemeinde unangenehme Fragen stellte.
Der Pfarrer wandte den Bankreihen den Rücken zu und tat so, als ob er ein paar verrutschte Tannenzweige zu Füßen der Heiligen ordnen wollte. Ein kleines Messingschild wurde sichtbar. Schnell, als ob er einen Fehler begangen hätte, drehte sich der Pfarrer wieder zu den Anwesenden um und versteckte das Schild mit seinem Rücken.
»Okay«, sagte sie. »Ich komme wieder.«
Der Pfarrer lächelte und hob die Hand. »Gott segne dich, mein Kind.«