Elf
Nico nahm das Buch mit hinunter ins Wohnzimmer. Die Reste der Briketts glühten noch, aber es gab keinen Nachschub mehr. Sie legte einige Holzscheite nach und hoffte, dass in dieser Größe noch einige draußen vor dem Haus auf dem Stapel lagen. Sonst könnte sie sich gleich ans Holzhacken machen.
Es wäre praktischer gewesen, wenn Kiana ihr eine Axt vererbt hätte. Nachdenklich nahm Nico den zerbrochenen Besen in die Hand. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn reparieren könnte. Aber er war nun mal Teil der Abmachung. Wenn am nächsten Tag die Straßen wieder frei waren, würde sie natürlich sofort zurück nach Hause fahren. Solange sie aber in Siebenlehen gefangen war, konnte sie sich genauso gut mit Kianas Rätseln beschäftigen. Zumindest, solange es noch hell war.
Sie zog ihre Jacke und die Handschuhe an und ging durch den Hintereingang hinaus. Es war schwer, sich durch den Schnee zu arbeiten, in dem sie mittlerweile bis über die Knie versank. Schattengrund lag auf einem großen Grundstück, das vorne, links und rechts von einem Holzzaun umgeben war, dessen hintere Grenze aber ins Dickicht des Waldes überging. Keine fünfzig Meter weiter erhob sich die steile Felswand eines Berges. Kleine Kiefern krallten sich noch an den Vorsprüngen fest, aber es gab keine Wanderwege, die an dieser Stelle hinaufführten. Schattengrund war das Ende von Siebenlehen, dahinter begann die Wildnis.
Versteckt unter den schweren, schneebeladenen Zweigen einiger Fichten stand ein Holzverschlag. In ihm bewahrte Kiana die Geräte auf, die sie für den Garten brauchte. Er bot Platz für Rechen, Hacken, Schaufeln – und einige Regale, auf denen Kleingeräte vor sich hin rosteten und kaputte Blumentöpfe darauf warteten, eines Tages ein zweites Leben als Kunstobjekt zu beginnen. Ein halber Sack Dünger, Gummistiefel, Handschuhe und eine Schürze waren ebenfalls vorhanden. In einer Ecke lehnte eine Schneeschaufel. Nico griff sie sich und wollte den Schuppen verlassen, als ihr der Besen auffiel.
Er lag auf dem obersten Regal. Seine Borsten ragten etwas heraus, als ob ihn jemand genommen und hastig wieder zurückgelegt hätte. Er sah genau aus wie der, den Kiana ihr geschenkt hatte.
Nico reckte sich, sprang und räumte gleichzeitig noch ein paar Blumentöpfe ab, die mit lautem Krachen auf den Boden fielen und zersplitterten. Aber das war ihr egal. Ungläubig hielt sie ihren Fund in der Hand. Es gab zwei von diesen Dingern? Vor der Tür sah sie ihn sich genauer an. Er sah exakt so aus wie ihrer. Bis auf den Umstand, dass dieses Exemplar noch nicht mit Leon in Berührung gekommen war. Ein knorriger Stil, lange Borsten, gebunden mit Hanf. Er war eindeutig besser in Schuss und zerfiel nicht schon beim Ansehen. Sie schnappte sich die Schneeschaufel und bahnte sich ihren Weg nach vorne Richtung Straße.
Für das kurze Stück von der Vordertür bis zum Gatter brauchte Nico fast eine Stunde. Dann hatte sie zumindest eine Passage frei gelegt und das Gartentor frei geschaufelt. Arme und Rücken schmerzten, zwischen Daumen und Zeigefinger und auf den Handinnenflächen machten sich erste Blasen bemerkbar. Sie biss die Zähne zusammen und widmete sich mit dem letzten Rest verbliebener Hingabe dem Durchgang zur Straße, die zwar auch komplett zugeschneit war, aber nicht ganz so hoch wie Schattengrund.
Dann nahm sie den Besen und begann zu fegen. Der Notar würde bestimmt nicht fragen, mit welchem der beiden fast identischen Exemplare sie das getan hatte. Zwischendurch holte sie ihr Handy, schaltete es ein und arrangierte ein Foto mit dem Selbstauslöser: Nico auf dem Gehweg vor Schattengrund, kehrend. Tanzt mit dem Besen. Hält den Besen über den Kopf. Fegt eine Schneefontäne durch die Luft. Kommt aus der Puste. Lacht.
Eine unbändige Lust am Herumspielen überkam sie. Yeah! Ich habe die erste Aufgabe gelöst! Schaut her! Nothing’s gonna stop me now … nana na na na na nananahhh!
Sie setzte sich auf den Stil und ritt bis zum Gatter hinunter. Dort schlug sie eine Volte und wirbelte eine Wolke aus Schnee auf. Am liebsten hätte sie das Gatter aufgerissen und wäre weiter hinunter ins Dorf gejagt. Schaut her! Die Hexen reiten wieder, die Winterhexen sind los … Und wehe, ihr wagt es, ihnen eure Brötchen zu verweigern! Haha!
Keuchend hielt sie inne. Wenn irgendjemand sie so sehen würde, müsste er sie entweder tatsächlich für eine Hexe oder für komplett übergeschnappt halten. Mit einem Kichern stieg sie ab und warf den Besen auf einen der Schneehaufen links und rechts des freien Wegs. In einem Dorf voller Irrer war sie die einzige Normale. Dann sollte sie sich vielleicht auch so benehmen. Sie dachte gerade noch rechtzeitig daran, das Handy wieder auszuschalten, um ihren Akku zu schonen.
Ein Auto quälte sich den Hügel zu ihr hoch. Ein Van. Sie ging vor das Gartentor und wartete ab, wer sich Schattengrund näherte. So einsam es hier oben war, die Lage hatte einen unschätzbaren Vorteil: Man sah schon von Weitem, wer und was sich näherte.
Der Wagen hielt, die Scheibe fuhr herunter, und der Retter ihrer Katze strahlte sie mit einem unverschämten Grinsen an.
»Lieferservice.«
Leon sprang heraus und öffnete den Kofferraum. Er war voll bepackt mit Brennholz, Kohlen, einem Dutzend Rinderrouladen in Dosen, mehreren Wasserkanistern, einem Karton Haushaltskerzen und einer Kiste mit weiteren Dingen, an die Nico niemals gedacht hätte, die er aber eines nach dem anderen herausholte und ihr unter die Nase hielt, als wäre sie unterwegs zum Nordpol und hätte die Wollsocken vergessen.
»Taschenlampe!«
»Hab ich.«
»Fleecedecke.«
»Hab ich.«
»Tee?«
»Äh …« Sie erinnerte sich, irgendetwas in dieser Art in Kianas Küche gesehen zu haben. Aber ob das noch genießbar war? Sie nahm das Päckchen, das Leon ihr reichte.
»Zucker? Batterien fürs Radio? Radio?« Er gab ihr einen kleinen Weltempfänger. »Für den Wetterbericht und damit du weißt, wann die Straßen wieder frei sind.«
»Gibt es was Neues?«
Er runzelte die Stirn und begann, die Briketts auszuladen.
»Alle Räumfahrzeuge sind im Einsatz, um die Hauptzufahrtstraßen frei zu kriegen. Wir haben grade eine kleine Atempause, aber in Goslar schneit es schon. Und was da runterkommt … Hallelujah.«
Nico wuchtete die Kiste mit dem Radio heraus und packte gleich noch die Rouladen dazu. Leon hatte außerdem noch zwei Kilo Mehl, ein Dutzend Eier und eine Großpackung Stracciatella-Eis mitgebracht.
»Ich mag aber kein Stracciatella«, sagte sie.
Er war mit den Briketts schon unterwegs ins Haus und drehte sich auf den Stufen zu ihr um.
»Aber ich.«