Einundvierzig
Nico hatte Seitenstechen. Sie musste stehen bleiben und sich an einem Baum abstützen, was sich sofort mit einer Ladung Schnee von oben rächte.
»Maik! Warte auf mich!«
Sie hatten wohl den Gipfel des Berges erreicht, denn ihr Führer schlug sich nach rechts durchs Gebüsch. Falls es jemals einen Weg gegeben hatte, so war er inzwischen komplett zugewuchert und unter dem Schnee nicht mehr zu erkennen. Dornengestrüpp hatte sich um ihre Knöchel gehakt. Mühsam versuchte sie, sich davon zu befreien. Mit Grauen dachte sie daran, dass der ganze Abstieg noch vor ihr lag.
»Was ist denn?«
Zweige knackten, Eis und Schnee knirschten. Maiks große, dunkle Gestalt tauchte ein Stück weiter vorne wieder auf. Das Eisenzeug an seinem Gürtel klirrte und erfüllte einen ähnlichen Zweck wie die Glöckchen, die man Ziegen um den Hals band. Sie würde zumindest akustisch immer mitbekommen, wo er sich befand.
»Ich bin zu schnell gelaufen!«, keuchte sie und hielt sich die Seite. »Warte!«
Ihre Beine zitterten. Am liebsten hätte sie sich in den Schnee fallen lassen.
»Komm jetzt.«
Er packte sie am Arm und zog sie weiter. Nico stolperte über eine Wurzel und ging in die Knie.
»Ich kann nicht mehr! Wie weit ist es denn noch?«
»Nicht mehr lange. Zwei Minuten, nur gradeaus.«
Sie ergriff seinen Arm und zog sich hoch. Dabei rutschte ein Schal aus der Jacke. Das Licht der Taschenlampe fiel für den Bruchteil einer Sekunde darauf. Nico stolperte einen Schritt zurück.
»Mein Schal. Maik, woher hast du meinen Schal?«
»Weiß ich nicht. Lag rum.«
Er wollte weitergehen. Sie erwischte ihn gerade noch am Hosenbein.
»Maik! Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«
Er riss sich los. »Schnell«, sagte er. »Sie kommen.«
Nico starrte ihn an. »Wer?«
Maik lief weiter. Nico rappelte sich auf und stürzte hinter ihm her.
»Wer kommt? Maik?«
Ein Schlag traf sie auf die Schulter, so gewaltig, dass sie zu Boden ging. Sie landete mit dem Gesicht im Schnee und schlug wild um sich. Ihr Kopf kam wieder hoch. Ihre Wange war aufgeschlitzt, warmes Blut lief ihr in den Mund. Die Taschenlampe lag zwei Meter weiter im Schnee und beleuchtete einen Tannenzweig, der bizarre Schatten warf. Zitternd vor Entsetzen kroch Nico auf den Lichtkegel zu. Ein weiterer dumpfer Schlag, direkt neben ihrem Kopf. Noch einer. Und noch einer. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie etwas fallen. Sie nahm die Lampe und leuchtete in die Dunkelheit.
»Maik?«
Ihre Stimme drohte zu versagen. Nur mühsam kam sie wieder auf die Beine.
»Maik! Wo bist du?«
Sie lenkte den Strahl Richtung Boden. Im Schnee lag ein schwarzer Klumpen. Langsam humpelte sie darauf zu und berührte ihn mit der Fußspitze. Es war ein Vogel. Und er war tot vom Himmel gefallen.
Sie machte die Lampe aus und blieb stocksteif stehen. Sie zwang sich, leise und ruhig zu atmen. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie die verschiedenen Geräusche des Waldes wieder voneinander unterscheiden. Der Wind, der sanft, aber trotzdem gewaltig über den Bergrücken strich und nach unten ins Tal fiel. Das Rieseln von Schnee, der von den Zweigen fiel. Weit entfernt der Schrei einer Eule. Ein Knacken, nah.
Sie fuhr herum und leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nichts. Die Lampe reichte nicht weit genug, und die Schatten, die das Licht warf, wirkten noch beunruhigender als die Dunkelheit.
»Maik?«
Wo zum Teufel war er? Noch ein dumpfer Schlag, zehn Meter entfernt. Sie wusste nicht, wohin sie rennen sollte, um sich vor dieser unglaublichen mörderischen Attacke aus dem Himmel in Sicherheit zu bringen. Er konnte sie doch hier oben nicht einfach im Stich lassen! Oder hatte ihn ein Vogel schachmatt gesetzt? Nico hatte von diesem Phänomen gehört. Wissenschaftler vermuteten Eishagel in großer Höhe. Wenn dann etwas die Vögel aufschreckte und so hoch trieb, erfroren sie im Flug und fielen wie Steine auf die Erde.
Doch was könnte sie so aufschrecken? Silvesterböller zum Beispiel, hatten die Wissenschaftler gesagt. Aber das war keine Erklärung, die im Moment besonders hilfreich war. Maik war verschwunden. Das stand fest. Selbst das Klirren seines Gürtels war nicht mehr zu hören. Er hatte geahnt, dass etwas nicht stimmte. Tote Vöglein. Tote Kinder. Er war in seinem Wahn gefangen, und er würde in den Stollen zurückkehren, weil irgendetwas ihn dorthin zog.
Sie versuchte, sich an seinen letzten Hinweis zu erinnern. Einfach nur geradeaus. Keine zwei Minuten. Nico presste die Zähne zusammen, um nicht durchzudrehen. Sie wagte nicht, an den Rückweg zu denken. Sie hatte sich hier schon einmal verlaufen. Doch im Gegensatz zu damals würde sie in dieser Nacht niemand mehr suchen.
Langsam lief sie los. Leon, dachte sie. Warum hast du mich verraten? Du bist der Einzige, der mich jetzt noch hier rausholen könnte. Und ausgerechnet du glaubst mir nicht.
Sie stolperte über einen weiteren toten Vogel. Er war schwarz, genau wie der, der sie so hart getroffen und verletzt hatte. Eine Krähe? Er erinnerte sie in fataler Weise an das geköpfte Tier, das man ihr in den Schornstein gestopft hatte. Der Täter lief immer noch frei herum. Vielleicht war es einer von denen gewesen, die sie bei der Prozession so nett angelächelt hatten? Es war eine unbegreifliche Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Vögel ihr Schicksal werden sollten. Von einer Krähe erstickt, von einer Krähe erschlagen … Sie blieb kurz stehen und sah in den Himmel. Hoffentlich fielen nicht noch mehr herunter. Es gab keinen Schutz. Wenn sie sich ins Unterholz schlagen würde, würde sie komplett die Orientierung verlieren. Schon jetzt waren es nur noch Instinkt und Gefühl, die sie weitertrieben.
Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie sehnte diesen Stollen herbei, der wenigstens ein bisschen Schutz vor Kälte, Schnee und toten Vöglein versprach. Wenn sie nur einen Moment stehen bleiben würde, sich nur einen Augenblick hinsetzen würde – sie wusste, sie käme nicht mehr hoch und wäre verloren.
»Maik!«
Wie dünn ihre Stimme geworden war! Ihr Ruf wurde verweht und weggetragen. Obwohl Maik etwas Unverzeihliches getan hatte, als er sie einfach ihrem Schicksal überließ, konnte sie nicht böse auf ihn sein. Sie wusste, worauf sie sich eingelassen hatte. Er war verrückt. Aber er war auch der Einzige, der mehr gesehen und mehr gespürt hatte als alle anderen. Das war es, was ihre letzten Kräfte mobilisierte. Maik war im Stollen. Er kannte die Stelle, an der Fili gestorben war. Dort würde sie die Wahrheit finden.
Ein Laut, wildes Flügelschlagen. Wieder scheuchte jemand die Vögel auf. Schwarze Schatten huschten hinauf in den dunklen Himmel. Fliegt bloß nicht zu hoch, dachte Nico. In eurem und meinem Interesse … Ihre Beine knickten ein, beinahe wäre sie gestürzt. Glühende Punkte tanzten vor ihren Augen. Der Steigung war mörderisch. Maiks Spur hatte sie schon längst verloren. Immer geradeaus, nur zwei Minuten … zwei Stunden, zwei Tage, zwei Ewigkeiten, das käme vielleicht hin …
Sie erreichte eine schmale Ebene, der Weg wurde flacher. Dies musste der Bergrücken sein. Eine Art Terrasse, die sich an den nächsten Gipfel schmiegte. Das Laufen fiel Nico jetzt leichter. Es war auch heller als im Wald. Die Bäume hatte sie hinter sich gelassen, nur ein paar kleine Kiefern und verdorrte Ginsterbüsche stemmten sich gegen den eisigen Wind. Gleich erfriere ich, dachte Nico. Und irgendwo wird man drei Steine aufeinanderlegen als Mahnung an andere Wanderer, nicht so blöd zu sein und mitten in der Nacht am Beginn einer neuen Eiszeit auf diesen Berg zu klettern.
Sie blinzelte. Der Wind steigerte sich langsam zu einem ausgewachsenen Schneesturm. Und als er für einen Moment quasi die Luft anhielt, um seine Kräfte für den nächsten Angriff zu sammeln, sah sie ihn: den Eingang zum silbernen Grab.
Mundloch war gar kein schlechter Ausdruck. In der steil aufragenden Felswand gähnte eine Öffnung. Zunächst sah sie so aus wie der Eingang zu einer natürlichen Höhle. Je näher Nico kam, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen: Der Stein war grob behauen worden, um den Eingang zu verbreitern. Nach ein paar Metern verengte er sich. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe erkannte sie ein altmodisch geschmiedetes Eisengitter, so groß wie eine kleine Kellertür. Darauf die Symbole der Steiger: Schlägel und Bergeisen.
Sie schaffte die letzten Meter mit Müh und Not. Als sie den Eingang erreicht hatte, lehnte sie sich keuchend an die Felswand und streifte den Rucksack ab. Er musste dreihundert Kilo wiegen. Ihre Lungen schmerzten, die Knie zitterten.
»Maik?«
Ihr Ruf echote dumpf von den Felswänden. Draußen wirbelte der Wind den Schnee auf und drückte ihn wie eine Wolke vor sich her. Ihre Fußspuren waren schon längst verweht. Nur auf den ersten Metern zum Mundloch waren sie noch zu erkennen, geschützt durch die Felswände. Sie war die Einzige, die bis hierher gekommen war.
In wachsender Panik suchte sie jeden einzelnen Meter vor dem niedrigen Tor ab. Sie rannte zurück auf die Hochebene. Der Wind peitschte ihr Eiskristalle ins Gesicht. »Maik!«, schrie sie. »Wo bist du? Maik?«
Sie schnappte nach Luft, das Atemholen fiel ihr schwer. Wie Nebelschwaden zogen die Schneegestöber vorüber. Schemenhaft bewegten sich die Schatten der Baumwipfel, die sich unter der Last des Unwetters bogen. Entmutigt und verzweifelt stolperte sie zurück in den kümmerlichen Schutz des Mundlochs. Nicht nur, dass die Einsamkeit auf einmal beinahe zu greifen war, sie hatte auch ihren Führer verloren. Der Weg zurück nach Siebenlehen war ohne Maik nicht zu schaffen. Die Frage, ob ihm ein Unglück zugestoßen war oder ob er sie mit Absicht hier oben alleine gelassen hatte, raubte ihr beinahe den Verstand.
Vorsichtig bewegte sie sich über das Geröll und die vereisten Steine auf den Stolleneingang zu. Sie erwartete, das Tor abgeschlossen vorzufinden, doch es ließ sich – etwas mühsam – öffnen. Es quietschte dabei in den Angeln. Die Angst, hier hineinzugehen, war neu, noch nie erlebt und übermächtig. Sie leuchtete in den finsteren Gang.
Er führte einige Meter steil bergab. Nico kam mehrmals ins Rutschen und konnte sich nur mit Mühe an den glitschigen, vereisten Wänden festhalten. Dann erreichte sie festen Grund. Eine Art hoher Vorraum, von dem, wie Maik erzählt hatte, mehrere Gänge abgingen. Zumindest in diesem Punkt hatte er nicht gelogen. Fünf Stollen waren von hier aus in den Berg getrieben worden, einer sah gefährlicher aus als der andere. Steinbrocken hatten sich gelöst und bedeckten den Boden. Der Gang zu ihrer Linken war fast völlig verschüttet. Wohin er einmal geführt hatte, hatte Maik nicht gesagt. Aber Leons Ausführungen waren ihr dafür umso präsenter. Der Berg war durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Er war ein Labyrinth von aufgegebenen Stollen und toten Gängen. Einer sollte sogar quer durch den ganzen Harz bis zum Kyffhäuser gehen. Zu Barbarossa. Das hatte Valerie ihr erzählt. Wie gerne säße sie jetzt mit ihr auf dem Bett und würde schlimmstenfalls sogar freiwillig für die Matheklausuren büffeln! Noch nicht einmal ihr Handy funktionierte. Der Akku war leer und an eine Verbindung war hier oben sowieso nicht zu denken.
Sie leuchtete in die Eingänge der anderen Stollen. Zwei sahen so aus, als wären sie nur unter Lebensgefahr zu betreten, und die letzten beiden waren auch nicht sehr vertrauenerweckend. Sie überlegte fieberhaft, in welchem sie sich mit Fili verkrochen hatte, konnte sich für keinen entscheiden und beschloss, ihr Glück mit dem Gang rechts außen zu probieren.
Nach fünf Metern und einer Biegung erkannte Nico, dass es hier nicht mehr weiterging. Vor langer Zeit mussten das wohl auch Waldarbeiter oder andere wohlmeinende Zeitgenossen gedacht haben. Der Stollen war verfüllt und die Steine waren an einigen Stellen mit Zement befestigt worden. Die Arbeiten sahen nachlässig aus, manche Fugen hatten tiefe Risse. Nico vermutete, dass dieser Gang wohl schon seit Jahrzehnten gesperrt war. Damit kam er nicht in Frage.
Sie wollte gerade wieder zurückgehen, als das Eisentor des Mundlochs quietschte. Hatte sie es offengelassen? Spielte der Wind damit und war ihr jemand gefolgt? Ohne zu überlegen schaltete sie die Lampe aus und verharrte regungslos in der Dunkelheit. Sie wusste nicht, was sie davon zurückhielt, laut Maiks Namen zu rufen und zum Eingang zu stürmen. Es war ein Gefühl von Schutzlosigkeit, das Nico überfiel und immer stärker wurde.
Sie war in einer Sackgasse. Egal, wer das silberne Grab gerade betreten hatte – er rief nicht, er klirrte nicht und machte auch nicht auf sich aufmerksam. Noch bevor sie sich ein Versteck überlegen konnte, hörte sie Schritte. Schwere Schritte von schweren Stiefeln, die den Vorraum erreichten und knirschend mal in die eine, mal in die andere Richtung gelenkt wurden. Wenn es Maik war, dann hatte er seinen Gürtel abgelegt. Dann war er schlauer, als sie alle dachten. Dann wollte er sich nicht verraten, bis er sie gefunden hatte. Nein, dachte sie. Das kann nicht sein. Ich täusche mich doch nicht so sehr in einem Menschen.
Nico presste sich mit dem Rücken an die Wand. Sie hielt die Taschenlampe umklammert, ihre einzige Waffe, die gegen einen erwachsenen Mann nicht viel ausrichten würde. Leon, schoss es durch ihren Kopf. Vielleicht war er gekommen, um sie zu suchen? Aber warum machte er sich dann nicht bemerkbar?
Weil er glaubte, dass sie weiter in einen offenen Gang gelaufen war?
Um ein Haar hätte sie aufgestöhnt vor Angst. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie fühlte sich schwach und ausgepumpt wie nach einem Marathon. Gleich würden ihre Beine nachgeben, und dann läge sie wieder auf dem Boden, ohnmächtig, und niemand wäre in der Nähe, der es gut mit ihr meinte. Im Gegenteil.
Die Schritte hielten inne. Der Unbekannte schien mitten im Vorraum zu stehen und zu überlegen. Dann hörte Nico, wie er sich in Bewegung setzte und genau auf ihren Gang zukam. Langsam glitt sie an der Wand entlang in die Hocke. Sie wollte nach einem Stein greifen, aber dadurch kam sie aus dem Gleichgewicht und die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand. Das Geräusch schmerzte ungefähr so laut in ihren Ohren wie zwei kollidierende Lastzüge. Sie hielt den Atem an.
Der Unbekannte tat das Gleiche. Kein Laut war zu hören, nur das Heulen des Windes klang, verzerrt und wie aus weiter Ferne, in Nicos Ohren. Oder war es ihr Blut, das durch die Adern raste? Sie tastete vorsichtig über den Boden. Ihre Fingerspitzen berührten die Schlaufe, die am Griff der Lampe angebracht war, aber sie hatte Angst, sie aufzuheben und sich mit dem nächsten, noch so leisen Geräusch zu verraten.
Es knirschte. Der Mann hatte einen Schritt gemacht. Noch einen. Und noch einen. Nico spürte, wie ihr trotz der eisigen Kälte heiß wurde. Er betrat ihren Gang. Er kam auf sie zu. Sie hatte keine Chance. Mit der Rechten ertastete sie einen Stein, aber er war einbetoniert und rührte sich nicht vom Fleck. Sie versuchte, einen anderen in Reichweite zu finden, aber es waren entweder winzige Kiesel oder unverrückbar feste, große Brocken. Lieber Gott, bitte nicht, betete sie. Ich will nicht hier oben sterben. Licht flammte auf und traf auf die Geröllmasse direkt vor ihr. Sie kauerte sich noch enger an die Wand. Sie hatte das Gefühl, der Unbekannte würde nur eine Armlänge von ihr entfernt stehen bleiben und in schnellen, heftigen Zügen atmen.
Der Schein zitterte über die Steine. Manche blinkten geheimnisvoll auf. Es musste Erz hier oben geben, Silbererz. Es war vielleicht nicht mehr rentabel genug, um abgebaut zu werden, aber das Funkeln wirkte märchenhaft und geheimnisvoll. Nico hörte, wie der Unbekannte tief Luft holte, und fragte sich, ob man an so einem Geräusch einen Menschen erkennen konnte. Leon war es jedenfalls nicht, da war sie sich mittlerweile hundertprozentig sicher. Die Hand, die die Taschenlampe hielt, kam in ihr Blickfeld. Orangener Fleece. Sah oft benutzt aus.
Sie wusste, wenn der Unbekannte nur einen einzigen Schritt weitergehen würde, konnte er sie sehen. Sie hielt die Luft an. Hoffentlich roch er sie nicht. Oder die Pizza, die sie vor so langer Zeit in einem anderen Leben gegessen hatte. Welchen Teufel hatte sie aus seiner Hölle aufgescheucht? Welche Bestie von der Leine gelassen? Bittere Vorwürfe jagten durch ihren Kopf. Warum war sie nicht dem Rat ihrer Eltern gefolgt und hatte Schattengrund dort gelassen, wo es hingehörte: ins Reich der vergessenen Sünden, der verborgenen Schande, ins Märchenland mit dem Namen »Die Zeit heilt alle Wunden« … Sie musste sich beherrschen, nicht laut aufzuschluchzen vor Angst. Nur einen Schritt. Nur einen einzigen, verdammten, winzigen Schritt …
Das Licht huschte die gegenüberliegende Wand entlang und verschwand. Die Schritte schlurften zurück. Sie merkte, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. Ihre Knie zitterten unkontrolliert. Ihr Magen hob sich. Auch das noch, schoss es ihr durch den Kopf. Meinem Mörder vor die Füße zu kotzen … Der Unbekannte schien zu überlegen, welchen Gang er sich als nächsten vornehmen sollte. Er entschied sich für den nebenan. Noch bevor Nico ihr Glück fassen konnte, kam er zurück. Der mittlere Stollen war nun an der Reihe. Einer nach dem anderen wurde einer kurzen Kontrolle unterzogen. Im letzten blieb er länger. Nico wusste nicht, warum, aber sie nutzte diesen kurzen Moment, um ihre Lampe zu finden und von dem verfüllten Stollen in den Gang nebenan zu schlüpfen. Ihr Überlebensinstinkt gab ihr recht. Der Unbekannte kehrte zurück und blieb unschlüssig in der Mitte der Höhle stehen. Dann ging er zielstrebig genau dorthin, wo Nico noch vor wenigen Augenblicken in Todesangst gesessen hatte.
Er leuchtete alles genau ab. Ging sogar bis zu den verfugten Steinen, klopfte gegen ein paar und sah sich genau um. Nico, die glaubte, dass er mit seiner Suche genug beschäftigt wäre, riskierte einen kurzen Blick um die Ecke, konnte aber im Gegenlicht seiner Lampe nicht viel erkennen. Ein Schatten, groß, breit, unnatürlich verzerrt. Aus. Der Mann drehte sich um, sie schnellte zurück in den Schutz der Dunkelheit und versuchte, mit der Wand des Stollens zu verschmelzen.
Es war kein Zufall, dass er hier war. Er suchte sie.
Wahrscheinlich glaubte er, sie wäre noch weiter in den Berg hineingelaufen. Im Moment fühlte er sich offenbar sicher. Was würde er als Nächstes tun? Sie wagte nicht, daran zu denken, ob er hier auf sie warten und was dann geschehen würde. Oh, hallo. Sie auch hier? Scheißwetter, nicht?
Der Mann kam zurück und lief an ihr vorbei zum Ausgang. Sie hörte das Quietschen des Gitters. Er würde doch nicht hinaus in den Schneesturm und zurück nach Siebenlehen gehen? Unverrichteter Dinge? Ratlosigkeit, Todesangst und eine zaghafte, mühsam im Zaum gehaltene Hoffnung, vielleicht doch noch davon gekommen zu sein, lieferten sich in Nicos Innerem einen erbitterten Kampf. Dann hörte sie ein metallisches Klicken, das sie nicht einordnen konnte. Und sie war allein.
Nico traute dem Frieden nicht. Sie blieb, wo sie war, und zählte bis hundert. Dann bis zweihundert. Dann bis dreihundert. Schließlich wagte sie es, einen Blick in die Eingangshöhle zu werfen. Es war stockfinster. Nur das niedrige Mundloch weiter oben war verschwommen zu erkennen. Saß er davor und wartete auf sie? Wohl kaum, denn der Wind blies unvermindert scharf. Kein Mensch würde da draußen reglos sitzend länger als zehn Minuten aushalten. Sie versuchte, seine Gestalt in der Höhle zu erkennen, musste sich aber eingestehen, dass sie die Hand nicht vor Augen sah.
Aber sie spürte, dass sie allein war. Gerade, als sie aufatmen wollte, fiel ihr siedend heiß ihr Rucksack ein. Er musste noch immer draußen auf dem Boden direkt neben der Eisentür liegen. Sie stöhnte auf vor Wut und Verzweiflung. Genauso gut hätte sie ein Schild mit der Aufschrift »Nico ist hier« aufstellen können. Und wenn der Mann nicht blind gewesen war – wogegen alles, aber auch alles sprach, am meisten aber die Sicherheit, mit der er sich durch die Gänge bewegt hatte –, musste er ihn gefunden haben. Ein trockenes Schluchzen stieg ihr in die Kehle. Sie wusste nicht, was sie mehr ängstigte: dass er sie gesucht hatte oder dass er es, wider besseres Wissen, unterlassen hatte.
Noch wagte sie nicht, ihre Taschenlampe anzumachen. Vorsichtig begann sie den Aufstieg über die eisglatten Steine und den Morast nach oben. Je näher sie dem Tor kam, desto schneller ging ihr Puls. Mehrfach rutschte sie aus und schlitterte ein paar Schritte zurück, fiel auf die Knie und versuchte, den stechenden Schmerz zu ignorieren. Endlich hatte sie das Mundloch erreicht. Ihr Rucksack war verschwunden.
Sie wollte aufheulen wie ein Wolf. Der Verlust war unersetzlich. Der letzte Rest heißer Tee. Ihr Handy. Der Handwärmer mit dem aufgedruckten Winnie Puh, den sie genau deshalb nie benutzt hatte. Ein paar Karamellkekse in Cellophan, wie es sie zu Cappuccino dazugab und die sie nie gegessen, aber aus einem unerklärlichen Grund gesammelt hatte, bis sie eines Tages, pulverisiert, entsorgt wurden. Alles Dinge, die ihr den Weg zurück irgendwie erleichtert hätten. Sie lehnte die Stirn an das eiskalte Eisen. Es half nichts. Sie musste orientierungslos und ohne jede Hilfe im Schneetreiben zurück nach Siebenlehen finden.
Zumindest heulte der Wind nicht mehr ganz so stark. Sie wollte das Tor aufstemmen und hinauslaufen, aber es ging nicht. Sie rüttelte, zerrte und drückte, warf sich dagegen, dass das Gitter in seinen rostigen Angeln zitterte, aber es blieb geschlossen. Schließlich knipste sie die Taschenlampe an, und was sie sah, ließ den letzten Rest Hoffnung verpuffen. Das Tor ging nicht auf, weil es mit einem Schloss verriegelt worden war. Ein altes Sicherheitsschloss, herzförmig, abblätterndes Email, mit einem Schlüsselloch in der Mitte. Blitzartig erinnerte sie sich, wo sie dieses Schloss schon einmal gesehen hatte: an Maiks Gürtel.
Ihr wurde schwarz vor Augen. Die Taschenlampe fiel herunter und rollte weg. Sie klammerte sich noch an den Eisenstreben fest, um nicht hinzufallen, und glitt dann doch zu Boden. Sie hörte etwas keuchen. Schnell, atemlos nach Luft ringend, fast ein Schluchzen – sie hörte sich selbst, als wäre Watte in ihren Ohren. Wieder tanzten glühende Punkte vor ihren Augen. Das ist das Ende. Jetzt ist es so weit. Du hast es weit gebracht, Nico, aber hier oben holt dich keiner mehr raus.
Maik.
Wie konnte er so etwas tun? Was hatte den Mörder, das Tier in ihm geweckt? Warum hatte er sie erst heraufgelockt, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen? Hatte er insgeheim gehofft, dass sie sich verlaufen würde? Abstürzen? Erfrieren? Und damit wäre das Problem gelöst?
Aber welches Problem?
War Maik der Mann gewesen, der Fili wehgetan hatte? Sie blinzelte und hatte Mühe, ihre Augen aufzubekommen. Ihre Tränen gefroren, ihre Nasenflügel klebten zusammen, wenn sie scharf einatmete. Sie konnte hier nicht sitzen bleiben. Sie würde sterben. Schon spürte sie, wie ihre Beine gefühllos wurden und ihre Finger ganz taub waren, obwohl sie Handschuhe trug. Mühsam, unter Auferbietung aller Kräfte, zog sie sich an den schmiedeeisernen Querstreben hoch.
»Maik!«, brüllte sie. »Hol mich hier raus! Wir können über alles reden, hörst du? Maik!«
Weit hinten, fast verschluckt von der Dunkelheit und dem fallenden Schnee, glaubte sie, eine dunkle Silhouette erkennen zu können.
»Maik!« Ihr Schrei wurde vom Wald und vom Wind verschluckt. »Komm zurück!«
Der Schatten war verschwunden.
»Maik! Lass mich nicht allein, bitte …«
Nico schrie, brüllte, wimmerte, hieb mit den Fäusten gegen das Gitter, spürte den Reif nicht auf den Wimpern, genauso wenig wie die Tränen aus Eis, heulte sich die Seele aus dem Leib, nur um den Moment hinauszuzögern, in dem sie erkennen würde, dass sie alleine mit dem Unfassbaren war. Nur sie, der Schneesturm und der Tod waren jetzt noch hier.