Vierundvierzig
Der Wind raste ungebremst über das schmale Hochplateau und warf sich Leon mit einer Wucht entgegen, die ihn fast in die Knie zwang. Das Unwetter nahm an Heftigkeit zu, wurde zu einem Blizzard, einem Schneesturm, der hier oben in einer Wut toben konnte, von der man unten im Tal allenfalls noch ein paar laue Lüftchen mitbekam. Wie sollte er Nico finden? Und wie den Eingang zum silbernen Grab? Als er zum letzten Mal so weit oben gewesen war, war es Sommer gewesen. Die Sonne hatte geschienen, der Duft von Harz, Kiefernnadeln und heißem Stein war ihm in die Nase gestiegen und hatte vor Glück fast zu einem kleinen Höhenrausch geführt. Klare Bäche hatten seinen Weg begleitet, sattgrünes Moos seine Schritte gedämpft. Er hatte aus einer Quelle getrunken und Walderdbeeren gepflückt, die auf seiner Zunge einen fantastisch süßen Geschmack entfaltet hatten.
Glück. Wenn er an diese einsamen Wanderungen im Sommer dachte, hatte er eine Ahnung von Glück. Und das hier war das genaue Gegenteil. Es war die weiße Hölle.
Er zog den Kopf ein und marschierte weiter. Wenn er das Plateau überquert hatte, würde er an die Ausläufer des nächsten Berghanges gelangen. Ein Wunder, wenn Nico es bis hierhin geschafft haben sollte. Mit jedem mühsamen Schritt verdichtete sich die Ahnung, dass er sie verloren hatte. Er konnte auch an ihr vorbeigelaufen sein. Was das bedeuten würde, wollte er sich gar nicht erst ausmalen.
Eine besonders scharfe Windbö versetzte ihm einen Stoß, sodass er beinahe rücklings in den Schnee gefallen wäre. Sie erfasste seine Kapuze, die nach hinten flog, und riss ihm die Mütze vom Kopf. Leon bekam gerade noch aus den Augenwinkeln mit, wie der Wind sie packte und damit spielte wie ein übermütiges Kind. Das Letzte, was er von ihr sah, war ein Salto, bevor sie über die Kante des Felsens in die Tiefe fiel.
In Sekundenschnelle waren seine Ohren taub. Er riss die Kapuze hoch und schnürte sie, so eng es ging, um Gesicht und Kinn fest. Eine Notlösung. Sobald er an eine windgeschützte Stelle kam, musste er den Schal um seinen Kopf wickeln. Der Wind bretterte um seinen Kopf, dass ihm Hören und Sehen verging. Gebückt kämpfte er sich weiter. Seine Hand, die die Taschenlampe hielt, wurde steif. Er hatte Angst, die Lampe würde in den Schnee fallen und er gleich dazu. Wenn das passieren würde – er käme nicht mehr hoch. Der einzige Gedanke, der ihn noch aufrecht hielt, war Nico. Sie musste es geschafft haben. Vielleicht war der Sturm erst vor Kurzem richtig in Fahrt gekommen und sie hatten den rettenden Eingang in den Berg noch gefunden.
Aber war das Rettung: mit Maik im Berg?
Er stolperte über einen großen Stein, den er, halb blind wie er war, nicht gesehen hatte. Dann kam noch einer. Und noch einer. Er blieb kurz stehen, strich sich über die Augen und starrte in die wirbelnde weiße Wand direkt vor sich. Und genau in diesem Moment hielt der Sturm inne. Es war nur ein kurzes Atemholen, bevor er mit noch größerer Wut zurückkehren würde. Aber für einen kurzen Moment hatte Leon etwas gesehen: eine dunkle Bergwand und in ihr, herausgeschlagen vor Hunderten von Jahren, einen steinernen Eingang mit einem Tor aus Eisen.