Fünf

Nico stieg aus und landete knietief im Schnee. Noch nicht einmal die Straßen wurden hier geräumt. Ein Wunder, dass der Jeep die Anhöhe überhaupt geschafft hatte. Während Leon ihre Tasche und den zerbrochenen Besen vom Rücksitz holte, kämpfte sie sich zu der Gartenpforte durch. Sie sah auf den ersten Blick, dass sie abgeschlossen war. Doch auch ohne dieses Hindernis hätte sie sie nicht öffnen können: Schattengrund war gut einen Meter hoch eingeschneit. Bevor Leon auf den Gedanken kommen konnte, dass sie keine Schlüssel hatte, war sie auch schon über das Gatter gestiegen.

»Danke.« Er reichte ihr ihre Habe über den Zaun, und sie versuchte, so unbefangen wie möglich auszusehen. »Das war sehr nett von dir.«

»Wenn du wieder mal auf den Brocken willst, melde dich. Ich kann dir zumindest sagen, welchen Weg du nicht nehmen solltest.«

Er sah sich um. Das gefiel Nico, die ungeduldig darauf wartete, dass er endlich den Abflug machte, gar nicht.

»Sieht nicht so aus, als würdest du erwartet.«

Die Fensterläden waren geschlossen. Dichtes Gebüsch, vom Schnee halbwegs gnädig bedeckt, säumte den Weg und die Stufen hinauf zum Eingang. Direkt darüber am Dachfirst hingen kolossale Killer-Eiszapfen. Ein paar von ihnen lagen zerschellt vor der Tür, die nur durch einen schmalen Quersturz oberhalb der Pfosten geschützt wurde. Das Haus hatte zwei Stockwerke, beide nicht sehr hoch, und ein niedriges Walmdach, aus dem an der Vorderseite zwei winzige Gauben hinauslugten. Schwere, dunkle Balken stützten die Wände. Die einzelnen Gefache waren dick verputzt und weiß gestrichen. An einigen Stellen bröckelte der Auftrag und Nico konnte das Mauerwerk aus Bruchstein erkennen. Es sah uralt und ein bisschen schief aus. Ihr Herz machte einen winzig kleinen Hüpfer. Ich kenne dich, hieß das wohl. Und es gab einmal eine Zeit, da war auch hinter deinen Fenstern Licht …

»Alles okay?«

Sie nickte schnell. Ihr saß ein Kloß im Hals.

»Hast du Holz?«

Was sollte denn diese Frage? Sie wollte allein sein, so schnell wie möglich. Schließlich konnte sie schlecht vor seinen Augen einbrechen.

»Ähm … Holz?«

»Oder Kohlen. Sonst erfrierst du. Hier oben ist es noch kälter als unten im Dorf.«

Konnte er sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmern? Instinktiv wandte sie sich von der Fassade ab und sah nach links. Neben der Seitenwand war ein aufgeschichteter, wenn auch nicht sehr üppiger Stapel Brennholz zu erkennen, der mehr oder weniger schlecht mit einer Persenning bedeckt war.

»Da hinten«, sagte sie. »Tante Kiana hatte einen Deal mit den Waldarbeitern. Ich glaube, der eine oder andere Stamm ist ganz unabsichtlich direkt vor ihrer Tür vom Wagen gefallen.«

Woher wusste sie das? Hatte sie sich diese Geschichte gerade eben ausgedacht oder hatte sie sie erlebt? Egal. Leon lächelte. Es gab seinem schmalen Gesicht einen unerwartet sympathischen Zug. Wahrscheinlich machte er sich wirklich Sorgen um sie. Sie trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Zwei Minuten hier draußen und die Kälte biss sich schon wieder in ihre Beine.

»Ich komme zurecht. Danke.«

Sie schulterte die Tasche und hob die verstümmelten Reste des Besens wie zu einem Gruß.

»Ich kann dir das reparieren«, sagte er schnell. »Wenn ihr Werkzeug habt?«

»Das schaffe ich schon alleine. Gute Nacht.«

Sie drehte sich um und stapfte zum Haus. Hoffentlich begriff er jetzt endlich.

»Ich schaue morgen mal vorbei!«, rief er ihr hinterher.

»Ja. Super. Bis dann!«

Sie stieg die Stufen zur Tür hoch, und endlich hörte sie, wie der Motor seines Wagens ansprang. Die Scheinwerfer blendeten auf. Ihr Licht wanderte beim Wenden über Schattengrund. Es sah so aus, als ob jeder Strauch, jeder Baum wirbelnde, lang gezogene Schatten warf, die wie Geister über die Fassade tanzten. Die Lichtkegel glitten weiter, der Jeep rollte die Straße hinunter, und Nico stand allein vor einer verschlossenen Tür.

Sie ließ Tasche und Besen fallen und trat einen Schritt zurück. Dann tastete sie, als ob sie das schon immer so gemacht hätte, den Türsturz ab. Nichts. Sie zog ihre Handschuhe aus und versuchte es erneut. Ihre Finger wurden taub. Kein Schlüssel. Sie sah sich nach Blumenkübeln um, aber es gab keine. Unter der festgefrorenen Kokosfußmatte lag eine Menge Dreck, aber nichts, mit dem man das Schloss aufbekommen hätte. Großartig. In ihren Träumen war sie immer ohne Hindernisse in ein Haus marschiert, das warm und gemütlich nur auf sie gewartet hatte. Nun fühlte sie sich ausgesetzt und verlassen. Und das Blödeste war: Sie war ganz allein schuld an dieser Misere.

Umkehren und im Schwarzen Hirschen um Einlass bitten? Das Hotel hatte geschlossen. Sie checkte ihr Handy, hatte aber immer noch keinen Empfang. Wo war sie hier gelandet? Im letzten schwarzen Loch der Telekommunikation? Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

Du kommst nach Schattengrund. Dir ist kalt und du hast Hunger. Du läufst über den Gartenweg aufs Haus zu. Kiana ist nicht da. Was machst du? Nicht nachdenken. Tun. Geh ums Haus, finde den Eingang.

Sie lief los. Einmal um die Ecke zu der Wand mit den Holzstapeln. Sie schlug die Persenning zurück und schaffte es unter größter Anstrengung, drei festgefrorene Scheite von den anderen zu lösen. Mit dieser Last auf dem Arm stapfte sie weiter zur Rückseite. Es war so dunkel, dass sie nur Schemen auseinanderhalten konnte. Einmal wäre sie fast gestolpert, als sie glaubte, die reglose Gestalt eines Mannes zu erkennen. Doch es war nur ein schlanker Baum, von winterhartem Efeu umrankt. Vor einer niedrigen Tür ließ sie die Scheite in den Schnee fallen und tastete nun hier erneut den ganzen Rahmen und den Sturz ab. Etwas klirrte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie zwei kleine Schlüssel in ihren steifen Fingern hielt.

Jemand berührte ihr Bein. Nico schrie auf, die Schlüssel fielen in den Schnee, und ein schwarzer Schatten strich um ihre Knöchel.

Sie japste nach Luft. »Minx! Hast du mich erschreckt!«

Die Antwort war ein leises Miauen. Sie ging in die Knie und streckte die Hand nach der Katze aus, die sofort zu schnurren begann und ihren Kopf an Nicos Knie rieb. Das geschah genauso selbstverständlich, wie Nico der Name des Tieres eingefallen war und wie sie die Schlüssel gefunden hatte. War das nicht seltsam? Sie musste Schattengrund und seine Bewohner einmal sehr gut gekannt haben.

»Minx, meine Kleine. Wo kommst du denn her?«

Die Katze zitterte. Sie war mager und ihre bernsteinfarbenen Augen reflektierten das matte Licht des Schnees. Ihr Fell war zottig und nass. Sie musste alt sein, sehr alt. Nico spürte die Knochen unter den struppigen Haaren. Sie nahm es als ein gutes Zeichen, dass sie Minx nach all den Jahren auf Anhieb wiedererkannt hatte. Oder Minx sie? Egal.

»Jetzt gehen wir erst mal rein und schauen nach, ob Kiana uns noch irgendwas zum Essen übrig gelassen hat. Okay?«

Sie fand die Schlüssel und stand wieder auf. Sie probierte den ersten – er passte. Langsam drückte sie die verrostete Klinke hinunter. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren, das in ein Seufzen überging: der Willkommensgruß von altem Holz. Sie trat ein in einen schmalen Flur, tastete instinktiv nach rechts oben und begriff, dass sie sich als Kind immer recken musste, um an den Lichtschalter zu kommen. Sie fand ihn da, wo er für normal große Leute angebracht war – in Griffhöhe. Eine Glühbirne flammte auf und beleuchtete den schmalen Flur, von dem linker Hand das Bad und rechts die Küche abgehen musste. Genau dahin wollte sie. Minx war ihr mit einem Maunzen gefolgt und rannte nun vor ihr ins Haus. Nico sammelte die Holzscheite ein, schloss die Tür hinter sich und ging in die Küche.

Wenn es nicht so kalt gewesen wäre – man hätte glauben können, Kiana wäre nur mal kurz aufgestanden und nach draußen gegangen. Der alte schmiedeeiserne Herd mit seinen Klappen und der tiefschwarzen Eisenplatte stand immer noch an seinem Platz. Darüber hingen Kupferpfannen und Töpfe, schwere Schöpfkellen und alte Küchensiebe. Die Anrichte mit dem offenen Regal war vor langer Zeit einmal weiß gestrichen worden. In ihr standen Teller und Tassen aus cremefarbener schwerer Keramik.

Nico legte die Scheite auf den Küchentisch. Auch er war alt und sah so aus, als ob Generationen vor ihr schon daran gesessen und ihre Holzlöffel in ihre Suppen getunkt hätten. Sie machte Licht und öffnete die Tür zur Speisekammer. Ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllten sich nicht. Einige staubige Konserven und mehrere Schraubverschlussgläser mit undefinierbarem Inhalt standen noch im Regal. Sie holte eine Büchse Erbsen und Möhren heraus und stellte sie auf den Tisch. Minx kam von ihrem Streifzug durch das Haus zurück und sah Nico erwartungsvoll an.

»Könnte sein, dass du Vegetarier wirst.«

Die Katze trug diese Ankündigung mit Fassung. Noch.

Nico stöberte in dem kleinen Schrank unter der Spüle und fand tatsächlich eine halbe Packung Haferflocken. Sie schienen genießbar zu sein. Dafür kam kein Wasser aus dem Hahn. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ihr dämmerte, dass die Leitungen wohl eingefroren waren. Feuer. Sie musste Feuer machen.

In einem Korb neben der Anrichte lagen alte Zeitungen. Sie schnappte sich die oberste und begann, die Seiten zu festen, kleinen Kugeln zusammenzuknüllen. Mit einem Schürhaken hob sie den kleinsten der vier eisernen Herdringe und warf ihre Kunstwerke in die Kochmulde. Sie sah sich um. Dann ging sie zum Küchentisch und zog die Schublade auf. Mit einem triumphierenden Grinsen holte sie eine Packung Grillanzünder und ein Streichholzbriefchen heraus. Es musste ihr Instinkt sein, der sie anleitete, genau das Richtige an genau den richtigen Stellen zu suchen. Sie warf eine Handvoll der kleinen weißen Würfel auf die Papierknäuel und zündete den letzten mit einem Streichholz an. Die zuckende bläuliche Flamme versetzte sie in einen wahren Freudenrausch. Feuer! Ich habe Feuer gemacht!

Minx sprang auf den Küchentisch und unterzog die Konservenbüchsen einer eingehenden Untersuchung. Nico nahm den kleinsten Holzscheit und stopfte ihn in die Kochmulde. Fast die Hälfte von ihm ragte noch heraus. Die Flammen der Grillanzünder züngelten an ihm herum. Ein wenig Dampf stieg hoch. Misstrauisch beobachtete Nico den weiteren Verlauf ihres Experiments. Wenn das Ding wirklich zu brennen anfing, hatte sie hier einen hochkant stehenden Flammenwerfer in der Küche. Aber die Sorge war unbegründet. Das Holz war zu feucht. Das Papier flackerte zwar gefährlich auf, doch die Flammen stiegen kaum über den Rand der Mulde. Nach wenigen Minuten verloschen auch die Anzünder, und Nico begann zum ersten Mal, sich ernsthaft mit dem Gedanken zu beschäftigen, in einer Eishöhle zu übernachten.

»Komm, Minx. Das hat keinen Zweck.«

Die Katze sprang vom Tisch und lief in den Flur. Nico folgte ihr. Geradeaus ging es ins Wohnzimmer. Hier war es genauso kalt wie in der Küche, doch der Raum wirkte wohnlicher. Das lag an den beiden riesigen Sesseln, der Couch, die irgendwie in sich zusammengesunken war, einer altmodischen Stehlampe und – dem Kachelofen. Nico erinnerte sich an bullernde Wärme und rotdunkle Glut, an stiebende Funken und das Nachkollern der Briketts in seinem Inneren. Sie ging in die Knie und öffnete die Luke. Der Ofen war sauber und ausgekehrt. Neben ihm stand ein Weidenkorb, und in ihm fand sie alles, was für ein anständiges Feuer benötigt wurde. Reisig, dünnes, trockenes Holz, Briketts. Sie schichtete alles übereinander, zündete die dünnen Äste an und lauschte.

Das Feuer loderte. Der Rauch zog ab. Ungläubig starrte Nico in die Feueröffnung. Es funktionierte! Ein Blick in den Korb dämpfte ihre Freude aber ein wenig. Lange würden die Briketts nicht halten. Sie wusste nicht, wo der Nachschub gebunkert war.

»Ich schätze, wir sollten noch ein bisschen Holz holen.«

Minx stieß einen Laut aus, der nach Hunger klang.

»Und dann machen wir was zu essen. Okay?«

Die Katze sprang auf die Kaminbank und begann, ihren Nacken an den dunkelgrünen Kacheln zu reiben. Nico, die nicht mehr genau wusste, ob es nun draußen oder drinnen kälter war, beschloss, die Sache nicht aufzuschieben. Sobald es warm im Haus war, würden sie keine zehn Pferde mehr ins Freie bringen.

Hatte sie vergessen, den Hintereingang zu verschließen? Die Tür stand einen Spalt offen. Sie trat hinaus und wollte gerade um die Ecke biegen, als ihr etwas Merkwürdiges auffiel.

Der Schnee war unberührt gewesen, als sie angekommen war. Sie erinnerte sich an das Gefühl, die Erste gewesen zu sein, die diese weiße Decke mit ihren Spuren verzierte. Vom Wald her kamen Minx’ kleine Pfotenabdrücke dazu. Doch dann musste noch jemand gekommen sein. Jemand, der schwere, klobige Stiefel trug, um das Haus gelaufen war und sich hier, am Hintereingang, zu schaffen gemacht hatte. Der Schnee war niedergetrampelt, ein paar Schritte führten zum Küchenfenster und wieder zurück. Nico spürte, wie unangenehm ihr die Vorstellung war, dass jemand sie beobachtet haben könnte.

Reglos stand sie da und lauschte. Sie konnte das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume hören. Nach ein paar leisen Atemzügen glaubte sie sogar, das Knistern der Schneeflocken zu vernehmen, die immer weiter vom Himmel rieselten und die harten Kanten der Spuren bereits auflösten.

Nico folgte den Stiefelabdrücken, die vom Hintereingang wegführten. Der Mann hatte sich eng an der Hauswand entlangbewegt. Mit angehaltenem Atem bog Nico um die Ecke – nichts. Er war fort. Nur seine Fußstapfen waren noch da. Sie lief weiter, bis sie die Vorderseite erreichte und sah, was passiert war.

Der Unbekannte hatte ihre Reisetasche durchwühlt und den gesamten Inhalt vor der Haustür und den Treppen verteilt. Fassungslos betrachtete Nico die Verwüstung. Dann begann sie in fliegender Hast, alles zurück in die zerschlissene Tasche zu stopfen. Inzwischen war von ihrer Habe wirklich nicht mehr viel Brauchbares übrig. Während sie zusammenräumte, sah sie immer wieder hinunter zur Gartenpforte und Siebenlehen. Wer hatte das getan? Vielleicht kauerte er noch irgendwo im Gebüsch und beobachtete sie?

Als sie alles verstaut hatte, stand sie auf und wartete. Nichts rührte sich. Das Dorf lag vor ihr wie in einer riesigen märchenhaften Schneekugel. Aus vielen Schornsteinen stieg Rauch in den Nachthimmel. Manche Fenster waren noch erleuchtet. Ihr Schein hatte etwas Tröstliches für Nico. Sie stellte sich vor, wie es wäre, jemanden da unten zu kennen.

Leon, fiel ihr ein. Könnte Leon das getan haben? Sie schüttelte den Kopf, griff sich auch noch den kaputten Besen und stapfte wieder zurück. Gerade wollte sie noch ein paar Holzscheite von dem Stapel ziehen, als sie die Bewegung bemerkte. Sie fuhr herum.

Der Baum mit dem Efeu regte sich. Wie ein Schatten lauerte eine Gestalt hinter dem Stamm. Er musste dort auf sie gewartet und sich schnell versteckt haben, als sie zum ersten Mal hingesehen hatte. Langsam schob Nico den Holzscheit wieder zurück. Der Schatten löste sich von dem Baum. Er kam auf sie zu.

Nico rannte los. Der Mann auch. Sie raste um die Ecke, rutschte beinahe aus, fing sich gerade noch und hechtete auf den Hintereingang zu, da hatte er schon das halbe Grundstück überquert. Er war groß und massig. Als er sah, dass sie die Tür erreichte, fing er an zu rennen. Sie rüttelte an der Klinke, aber die verflixte Tür hatte sich verklemmt und ließ sich nicht öffnen. Sie hörte seine Schritte, das Keuchen seines Atems, und in letzter Sekunde riss sie die Tür auf, schnellte hinein und warf sie zu.

Der Aufprall seines Körpers war so stark, dass das alte Holz ächzte. Nico ließ die Überreste ihres Besens fallen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Riegel und schob ihn vor. Keine Sekunde zu früh, denn er rüttelte an der Klinke und warf sich gegen die Tür. Nico stemmte sich von der anderen Seite mit aller Kraft dagegen und betete, dass das morsche Holz diesem Angriff standhielt.

»Was wollen Sie?«, schrie sie. Ihre Stimme kippte fast vor Angst.

Noch einmal rammte der Angreifer die Tür mit vollem Körpereinsatz. Der Rahmen bebte.

»Hauen Sie ab! Ich bin bewaffnet!«

Stille.

»Verschwinden Sie von meinem Grund, kapiert?«

Nur ihr eigener, fliegender Atem war zu hören. Nico lauschte. Sie hörte, wie schwere Schritte durch den Schnee stapften und sich entfernten. Langsam ließ sie ihre Tasche von der Schulter gleiten und schlich durch den Flur ins Wohnzimmer. Die Gardinen waren zugezogen. Vorsichtig schob sie den Stoff ein paar Millimeter zur Seite und spähte hinaus.

Der Vorgarten lag still und verlassen da. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Vielleicht lauerte er ihr noch einmal auf? Die Minuten verstrichen. Als sich immer noch nichts rührte, wagte sie es, in die Küche zurückzugehen und dort aus dem Fenster zu sehen.

Fußspuren im Schnee führten zurück in den Wald. Von dort her war er also gekommen und dorthin war er auch verschwunden. Sie überprüfte die Hintertür, schloss auch noch von innen ab und untersuchte danach den Vordereingang. Zwei Riegel, oben und unten, und das Schloss. Eigentlich war Schattengrund gesichert.

»Minx?«

Aber die Katze tauchte nicht auf.

»Minx? Wo bist du?«

Wahrscheinlich hatte sie der versuchte Überfall genauso erschreckt und sie hatte sich ein ruhiges Plätzchen irgendwo im Haus gesucht. Nico klopfte sich den Schnee von den Kleidern und hielt die Hände an den Kachelofen. Er wurde warm. Langsam hörte auch das Zittern auf, das ihr der Schreck in die Glieder gejagt hatte.

Vielleicht hatte der Mann nur nach dem Rechten sehen wollen? Oder er hatte geglaubt, sie wäre ein Einbrecher. Siebenlehen war ein kleines Dorf. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet hier einem Gewaltverbrecher über den Weg zu laufen, war äußerst gering.

Um sich abzulenken, nahm sie ihre Reisetasche und den Besen und ging die Treppe hinauf. Zwei Zimmer gab es hier oben unterm Dach – Kianas Schlafzimmer und das Gästezimmer. Nico ging als Erstes in den Raum, der ihrer Großtante gehört hatte. Ein altmodisches Bett mit einer Spitzendecke stand direkt unter dem Fenster. Daneben ein Nachttisch, an der gegenüberliegenden Wand der Wäscheschrank. Nico öffnete ihn. Ein Hauch von Lavendelduft drang in ihre Nase. Kianas wenige Kleider hingen, in Folie verpackt, auf der Stange. In den Fächern lagen, ordentlich gebügelt und zusammengefaltet, Bettlaken und Bezüge. Dazu ein Stapel flauschige Handtücher. Nico zog eines heraus und roch daran.

Sommer. Blumen. Schmetterlinge tänzeln über einer Wiese. Karamellisierter Zucker brodelt in einem Kupferkessel – sie kochen Marmelade. Nico steht auf einem Stuhl. Sie ist barfuß, ihr Kleidchen aus dünnem Baumwollstoff reicht gerade bis an die Knie. Vorne ist eine Tasche aufgenäht – sie sieht aus wie ein umgekippter Halbmond. In ihr sammelt sie, was ihr der Sommer schenkt: Blüten, Baumrinden, kleine glitzernde Steine …

Steine.

Nico warf ihre Tasche auf Kianas Bett und wühlte so lange in ihren Sachen herum, bis sie das Gesuchte endlich gefunden hatte. Den Stein. Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sie sich und betrachtete ihn. An manchen Stellen schimmerte er silbern. Wollte Kiana sie an die Ferien erinnern, die sie hier verbracht hatte?

Sie nahm das Handtuch mit hinüber in das andere Zimmer. Es war kleiner und hatte schräge holzverkleidete Wände. Vor dem Fenster stand ein runder Tisch. Und darauf eine Kristallschüssel mit – Karamellbonbons.

Nicos mühsam bewahrte Haltung bröckelte endgültig. Erst schob sie es auf den Schock, den die Beinahe-Begegnung mit dem brutalen Unbekannten in ihr ausgelöst hatte. Dann merkte sie, dass mehr dahintersteckte. Mit Tränen in den Augen verstaute sie ihre Sachen in dem kleinen Einbauschrank unter der Dachschräge. Kiana hatte das Haus hergerichtet, als ob ihre Nichte gleich wieder zu Besuch kommen würde. Sie hatte zwölf Jahre auf sie gewartet, bis zu ihrem Tod. Was hatte ihre Hoffnungen so enttäuscht? Und wer lauerte ihr in der Dunkelheit auf, um sie bis zur Haustür zu verfolgen? Noch einmal spähte sie aus dem Fenster, aber die tief verschneiten Straßen lagen still und verlassen.

Schließlich war Nico fertig. Täuschte sie sich oder wurde es langsam auch im ganzen Haus warm? Sie entdeckte die kleine Öffnung neben der Tür. Hinter ihr verborgen lag eine Messingklappe, aus der warme Luft ins Zimmer strömte. Nico lächelte. Wenigstens würde sie nicht erfrieren in dieser Nacht.

Sie sah sich um. Wo waren ihre Hausschuhe? Sie kippte die leere Tasche um, suchte in Kianas Zimmer, lief die Treppe hinunter und inspizierte Flur, Küche und Wohnzimmer. Die Schuhe blieben verschwunden. Sollte sie noch einmal hinaus und nachsehen?

Bloß nicht. Trotzdem lief Nico hinunter und öffnete, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass niemand im Gebüsch des Vorgartens lauerte, vorsichtig die Tür.

»Minx?«, rief sie leise. »Minx, wo bist du?«

Aber die Katze antwortete nicht.

»Minx, ich mache jetzt eine Dose Erbsen und Möhren warm. Die esse ich. Allein, wenn du nicht kommst.«

Sie lauschte. Kein Laut, kein Geräusch. Und auf einmal stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Sie fühlte, dass sie beobachtet wurde. Nico blickte in die Dunkelheit, die sich über den kleinen Ort da unten gelegt hatte. Und sie wusste – irgendjemand sah zurück.

Schattengrund
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