Sechzehn

Sie war wunderschön.

Die blonden Locken umspielten wie Engelshaar ihr liebliches Gesicht. Anmutig stand sie auf ihrem Gerüst, den Blick zum Gebet gesenkt. Sie trug ein bodenlanges schlichtes Kleid aus weißer Seide, darüber den surcot, einen Umhang, der über der Brust mit einer Fibel zusammengehalten wurde. Ihre zarten Füße verschwanden in den Tannenzweigen, mit denen das Gerüst geschmückt war.

Pfarrer Gero ordnete ein letztes Mal den Faltenwurf. Er bemerkte, dass der Saum des Kleides bei genauem Hinsehen nicht mehr ganz so strahlend weiß war wie der Rest des Habits. Die Figur stand die meiste Zeit des Jahres in einer kleinen Kammer neben der Sakristei. Eine professionelle Reinigung würde ein Vermögen kosten, das die Gemeinde nicht hatte. Es war schon ein Wunder, dass die Spenden ausgereicht hatten, um den Glockenstuhl im letzten Jahr zu renovieren.

Es war ein kleines, schlichtes Gotteshaus. Man spürte sofort, dass es für Menschen gebaut worden war, die Generationen lang in bitterster Armut gelebt hatten. Schmucklose, weiß gekalkte Wände, durchgesessene Bänke, abgeschabte Fußleisten. Nur den Altar schmückte eine prächtige Decke, und das Kreuz darüber war ein kleines Meisterwerk aus dem neunzehnten Jahrhundert, gestiftet von einem, den das Silber reich gemacht hatte. Es war eine Kirche für Bergleute, die zum Beten weder Pracht noch Herrlichkeit, sondern einen möglichst schnellen und direkten Draht zum lieben Gott brauchten.

Heilige Barbara, solange wir leben, fühlen wir uns gefangen in Sorge und Not, in Leid und Sünde. Hilf, dass wir Jesu Leiden, sein Sterben und seine Auferstehung als Botschaft der Befreiung aus unserer irdischen Gefangenschaft begreifen und in der Todesstunde eingehen dürfen in sein ewiges Erbarmen.

Er zupfte an den Tannenzweigen herum, bis sie den Saum des Umhangs verdeckten, und trat einige Schritte zurück.

Sie war wirklich wunderschön.

Eine Tür knarrte. Gero lauschte. Die Kirche war leer. Die Prozession würde erst in einer Stunde beginnen, im Gemeindehaus warteten bereits große Thermoskannen mit Tee und Kaffee auf die Teilnehmer. Er mochte diesen stillen Moment, bevor es losging. Ein paar Gedanken, ein kurzes Gebet. Nur er, die Heilige und Gott.

Und jetzt eine arme Seele, die im Beichtsuhl saß und gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte. Der Samtvorhang bewegte sich noch. Gero mochte es gar nicht, wenn jemand hinter seinem Rücken herumschlich. Normalerweise machte man sich bemerkbar. Mit einem leisen Seufzen sah er auf seine Armbanduhr. Eigentlich musste er jetzt los und die Helfer begrüßen. Aber die Sünde fragte nicht nach Zeit und Stunde, also durfte es die Vergebung auch nicht tun. Mit einem Seufzen wandte er sich ab von der Figur und stieg die Stufe hinunter.

Im Beichtstuhl setzte er sich auf das zerschlissene Samtkissen und faltete die Hände. Stille. Gero wartete. Endlich hörte er ein leises Rascheln, als ob das Beichtkind unruhig auf seiner Bank hin- und herrutschte.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Eine heisere, leise Frauenstimme. Gero fielen mehrere Damen ein, denen er diese Stimme zuordnen könnte, aber er war sich nicht ganz sicher.

»Gott, der unsere Herzen erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit«, sagte er.

»Ach ja«, stöhnte es nebenan. Stille.

Gero sah wieder auf seine Uhr. Er wollte ja nicht drängen, aber …

»Zwei Nächte habe ich nicht geschlafen«, sagte die heisere Stimme von nebenan durch den Vorhang. »Mich rumgewälzt und gebetet und gehofft, es würde vorbeigehen und mich gefragt, warum ich so geprüft werde … so geprüft …« Schluchzen. Ein leises Schniefen, gedämpft durch ein Taschentuch. »Sie ist wieder da. Und alles kommt wieder hoch. Alles.«

»Wen meinst du, meine Tochter?«

»Die Hexe oben in Kianas Haus.«

Gero beugte sich näher an das kleine Fenster mit dem Vorhang auf der anderen Seite. Er war zugezogen, sodass er nicht erkennen konnte, wer dort saß. Aber er ahnte es.

»Es gibt keine Hexen«, sagte er bestimmt. »Du meinst Kianas Nichte. Ich habe davon gehört, dass sie zurückgekommen ist. Das ist nicht schön, aber damit müssen wir …«

»Sie hat unser Leben zerstört! Meins, und … und …ich kann damit nicht leben! Ich kann es nicht! Ich habe gebetet, um diesen Hass aus meinem Herzen zu vertreiben. Aber ich schaffe es nicht! Ich schaffe es einfach nicht …«

Gero begriff, dass die Gemeinde vielleicht noch ein paar Minuten warten musste. Er hatte gefürchtet, dass es so weit kommen würde. Jeder im Dorf wusste es. Wie ein Lauffeuer war es herumgegangen: Die Kleine ist wieder da. Kianas Nichte ist zurückgekommen. Die Blicke, wie magisch wurden sie von Schattengrund angezogen. Flüsternd standen die Leute zusammen, senkten die Köpfe, wenn er vorüberging, wechselten das Thema. Aber er wusste, was sie bewegte: eine ungesühnte Tat. Kiana hatte dafür büßen müssen, und sie hatte diese Last so lange Jahre auf ihren Schultern getragen. Keiner hatte sie ihr abnehmen können, auch er nicht. Er hoffte, dass sie Frieden gefunden hatte in ihrer letzten Stunde.

Er suchte nach Worten und vielleicht sprach er sie mehr zu sich selbst als zu der Unglücklichen auf der anderen Seite.

»Du musst diesen Hass überwinden. Du musst es wenigstens versuchen.« Ein ersticktes Schluchzen war die einzige Antwort. »Sie war ein Kind. Du musst verzeihen. Endlich verzeihen.«

»Ich kann es nicht! Warum musste sie auch zurückkommen und alles wieder aufwühlen? Sie marschiert durchs Dorf und tut so, als ob sie sich an nichts erinnern könnte. Weiß sie nicht, dass sie uns damit ins Gesicht spuckt?«

»Es ist bestimmt nicht ihre Absicht …«

»War es auch keine Absicht, als diese Lügen verbreitet wurden? Als Kiana in unser Haus kam und das Schlimmste, das Schlimmste …«

Die Stimme brach. Pfarrer Gero sah auf seine Hände. Er wusste, wovon sie sprach. Es war, als ob alles erst gestern geschehen wäre und die Wunden wieder aufbrachen, hässlicher und schmerzender denn je. Verzweiflung, Kummer, bitterstes Leid. Nichts war gesühnt. Hatten sie gehofft, es wäre nach Kianas Tod vorbei? Hatten sie geglaubt, es könnte Frieden einziehen, wenn nur genug Zeit verginge? Zwölf Jahre waren vergangen, und nichts war vergessen, nichts vergeben, nichts vorbei.

Nur der Herr konnte das verzeihen. Die Menschen von Siebenlehen wohl nicht.

Er hörte das leise Weinen und fragte sich, wann seine Schuld verjährt sein würde. Es gab Nächte, in denen sich die Erinnerung wie ein kalter Stein auf seine Brust legte. Träume, die ihn schlafend schaudern ließen. Schreie, die aus tiefster Kälte kamen und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und eine Stimme, leise und monoton, die ihm das Fürchterlichste offenbarte, was er je gehört hatte. Mea culpa, dachte er, mea maxima culpa …

»Verstehen Sie mich?«, fragte die heisere Stimme. »Verstehen Sie mich?«

Sie sollte schweigen, endlich schweigen. Am liebsten wäre er aus dem Beichtstuhl gestürzt. Er fürchtete sich vor dem Moment der Absolution. Nicht nur der Büßer, auch der Beichtvater sollte dabei reinen Herzens sein. Seines war schwarz und dunkel wie die Nacht.

Seine Antwort war ein Flüstern. »Ja.«

»Ich habe die beiden doch gesehen, wie sie losgegangen sind. Ich hätte sie noch zurückhalten können und ich habe es nicht getan … nicht getan …«

Gero spürte den Schmerz in seinen verkrampften Fingern. Er löste sie voneinander und atmete tief durch. Schuldgefühle. Die ewig gleichen quälenden Fragen: Warum konntest du etwas nicht verhindern? Hättest du Dinge abwenden können, wenn du nur schneller, bestimmter, wacher, mutiger, zögernder, stiller, lauter, auf jeden Fall anders gewesen wärst als im Moment deines größten Fehlers?

»Es ist nicht deine Schuld. Versuche, Vergebung zu schenken, dir und anderen, so wie auch der Herr dir vergeben wird.«

»Ich … Ich will es versuchen. Ich will es ja! Erbarme dich meiner, Herr. Erbarme dich!«

»Ich spreche dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

»Amen.«

»Der Herr hat dir deine Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.«

Ein leises Rascheln, das Knarren der Tür. Gero wartete, bis die Schritte sich entfernt hatten. Erst dann stand er auf und trat aus der Enge des Beichtstuhls hinaus in das Kirchenschiff. Seine Hand zitterte. Er hoffte, dass sie ihm nichts angemerkt hatte.

Er ging zurück zur heiligen Barbara und berührte den Saum ihres Kleides. Das Mädchen lächelte herab, unschuldig und rein, als ob es selbst dem schlimmsten Sünder noch Vergebung gewähren könnte.

Dies war erst der Anfang. Es würde weitergehen. Ein Abgrund würde sich auftun, der alle verschlingen würde. Alle, die damals an dieser Tragödie beteiligt gewesen waren. Und ihn dazu. Ihn, der die Sünden der anderen vergeben konnte, aber nicht die eigenen.

Es gab nur eine Lösung.

Schattengrund
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