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16 Uhr 30. Katja ging auf Corzelius zu, der lässig auf der untersten Schale des Harm-Clüver-Brunnens saß. Er hatte sich zu einem kleinen Ausflug ans Brammer Meer eingeladen: sein Wagen sei in der Werkstatt und er suche einen Chauffeur, der ihn zum Baden fahren würde.

Er stand auf, faßte sie an den Schultern, sah sie aufmerksam an: „Stimmt – Sie sehen tatsächlich ein wenig klüger aus als vorher.“

„Klüger?“ Katja war verblüfft. „Wieso?“

„Weil Sie gerade aus dem Rathaus kommen.“

So ging es noch eine ganze Weile, und Katja vergaß vorübergehend ihre Sorgen. Erst als sie in ihrem weinroten Karmann Ghia die Brammermoorer Heerstraße hinunterfuhren, kam Corzelius auf das zu sprechen, was sie bewegte.

„Wie hat sich denn Biebusch entschieden?“

Katja lachte; es klang bitter: „Er würde mich am liebsten fallenlassen und seine Untersuchung retten… Was bin ich denn – Hilfsarbeiterin, Zuarbeiterin. Ich habe ihm nichts zu bieten, keine Privilegien, keine Aufträge, keine Posten – Bildungsrat und so. Ich habe auch keine Freunde, Verwandte oder Bekannte, die so hoch in unseren Hierarchien angesiedelt sind, daß er Angst kriegen könnte.“

„Und Kuschka?“

„Der auch. Der verspricht sich hier in Bramme ein faules Leben und ein paar neue Saufkumpane.“

„Aber Frau Haas…“

„Die hat ihr Geld schon verplant; die kann nicht aussteigen.“

Corzelius schüttelte den Kopf. „Und ich dachte, die hätten sich alle mit Ihnen solidarisiert?“

„Haben sie ja auch.“

Nun verstand Corzelius überhaupt nichts mehr.

Katja klärte ihn auf. „Sie kennen doch die Situation in Berlin: Was meinen Sie, was passiert, wenn Biebusch mich feuert und ich die Sache im Fachbereich hochspiele? Kuschka und Frau Haas wären erledigt, und Biebusch hätte keine ruhige Minute mehr. Denen bleibt gar nichts weiter übrig, als sich mit mir zu solidarisieren.“

Corzelius pfiff durch die Zähne. „Das kann ja noch allerhand Zirkus hier geben… Und wenn Sie nun freiwillig…“

Katja fuhr ihn an. „Dann ist meine Diplomarbeit im Eimer. Dann hab ich drei Jahre lang umsonst studiert. Dann kann ich anschließend stempeln gehen – ohne Abschluß, bei dem Fach! Gar nicht zu reden von meiner Promotion…“

„Ich sag’s Ihnen ganz offen – denken Sie sich dabei, was Sie wollen. – Ich mach mir Sorgen um Sie.“

„Danke!“

Sie fuhren schweigend zum Brammer Meer hinaus. Katja wertete seine Besorgnis weniger als Liebeserklärung, sondern mehr als Versuch, sie nun auf diese sanfte Tour loszuwerden. Corzelius war es offenbar peinlich, sich verraten zu haben.

Das Brammer Meer erwies sich als trapezförmiger Baggersee, längst nicht so groß wie das Steinhuder oder das Zwischenahner Meer, höchstens Berliner Wannsee. An der einen Längsseite Strand und Kioske, an der andern die Autobahn, ansonsten niedrige Büsche und Wiesen sowie ein Campingplatz. Das Wasser war kalt und schlammig; wenn man außerhalb der Kinderzone den Fuß hineinsetzte, glitschte man sofort ins Tiefe.

Die Spannung zwischen ihnen löste sich erst, als sie quer über den See geschwommen waren und am gegenüberliegenden Ufer eine kleine Verschnaufpause einlegten.

Corzelius atmete noch etwas heftig. „Ah… Obwohl ich ansonsten kein guter Schwimmer bin – aber mit Ihnen wäre ich bis ans Ende der Welt geschwommen.“

„Da sind wir doch schon.“

Corzelius nickte. „Ja; welch ein Jammer, ich bin Brammer! Dafür kann ich mich aber auch vors Rathaus stellen und laut rufen: Ich bin ein Brammer. Aber was meinen Sie, wie man Kennedy ausgelacht hätte, wenn er bei uns gerufen hätte: Ich bin ein Berliner!“

„Warum ausgelacht?“

„Weil ein Berliner bei uns ein Pfannkuchen ist. Ein Krapfen, auf süddeutsch. Was Schmalzgebackenes.“

„Aha. Und was ist eine Berlinerin?“

„Nun – es kann auch was sehr Süßes sein.“

„Ach ja? Ich kann das nicht so beurteilen, wissen Sie. Ich bin nämlich auch in Bramme geboren.“

„Meine Flamme stammt aus Bramme…“

Da schubste sie ihn ins Wasser.

Sie schwammen ans andere Ufer zurück, spielten Federball und lutschten Vanilleeis, das ein unscheinbares Männchen mißmutig anbot.

„Das ist ein ganz berühmter Mann“, sagte Corzelius.

„Was – dieses Hutzelmännchen da?“

„Ja doch. Sein Name ist Woche für Woche in aller Mund. Hunderttausende schreien ihn voller Begeisterung, sind völlig aus dem Häuschen…“

Katja sah ihn ungläubig an. „Wie heißt er denn nun?“

„Thor – Reinhold Thor.“

Katja seufzte. „Ach so – Sie gehen auf den Fußballplatz… Na, das erklärt wenigstens Ihren niedrigen I. Q.“

Es wurde langsam kühler, und sie setzten sich, da beiden fröstelte, Rücken an Rücken auf Corzelius’ Bademantel. Sonnenuntergang am Brammer Meer; die herbe Landschaft wurde plötzlich zärtlich. Von irgendwoher drangen sentimentale Lieder herüber… unten am Fluß, der Ohio heißt… Sie schwiegen.

Katja fühlte sich befreit von allen Aggressionen. Sie vergaß die Angst der ersten Stunden. Sie war heimgekehrt in einen Schoß, der Bramme hieß. Es war verrückt, aber sie träumte es: Hier heiraten, hier Kinder großziehen, hier an der Seite eines Mannes seine Erfolge genießen, Biebusch vergessen, die Soziologie vergessen, den Ehrgeiz vergessen. Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift, und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft… Da war sie wieder bei ihrem Mörike. Ich denke nichts, ich spreche nichts: ich träume nur… Auch Mörike? Nein. Rimbaud… Was Corzelius wohl dachte? Sein Herz schlug schnell. Sie saßen fast allein am Strand, warum er die Stimmung der Stunde nicht nutzte? War er zu scheu? Oder war er von denen gekauft, die sie aus Bramme vertreiben wollten, und rang nun mit sich?

„Wir müssen zurück“, sagte Corzelius.

„Schade…“ Katja wußte, daß er sich um 20 Uhr beim Kommissar vom Dienst einzufinden hatte, um für die Sonntagsausgabe einen Bericht über die nächtlichen Einsätze des Funkstreifenwagens Otto-Anton 17 zu schreiben. Das ließ sich nicht mehr verschieben. Sie selber war mit Kuschka und Frau Haas verabredet – im Wespennest natürlich; unter dem machte Frau Haas es nicht.

Auf der Rückfahrt diskutierte Katja hektisch über die chinesische Kulturrevolution – weniger vielleicht aus Interesse an der Sache, als aus dem Bestreben, die lyrische Stimmung abzubauen und Corzelius daran zu hindern, ihr den Arm um die Schultern zu legen und sie nachher auf dem Parkplatz zu küssen. Sie liebte, wenn es ernster sein sollte, das Behutsame, das Allmähliche. Und außerdem wußte sie ja nicht, ob Corzelius sein Verliebtsein nicht nur heuchelte…

Beim Abschied vor dem Wespennest ging es dann auch einigermaßen sachlich zu.

„Kann man sagen, was immer unter unseren Romanen steht: Fortsetzung folgt?“ fragte Corzelius.

Sie gab sich hintergründig. „Man kann, wenn man kann.“

Damit verschwand Katja im Lokal, während Corzelius zur Redaktion hinüberging.

Die beiden diplomierten Kollegen waren beschäftigt. Kuschka hatte sich eine doppelte Portion Tatar bestellt und vermengte das rohe Fleisch mit Eigelb, Paprika und Kapern, wobei er schon beim Abschmecken ein gutes Viertel verzehrte, während Frau Haas mit sichtlicher Ungeduld die Gräten aus ihrer Forelle pulte.

„Gibt’s was Neues?“ Katja setzte sich und griff nach der Speisekarte.

„Nein“, antwortete Kuschka. „Immer noch Waffenstillstand. Biebusch will erst klein beigeben, wenn Kossack handfeste Beweise auf den Tisch legt.“

„Das kann er nicht“, sagte Katja, „weil es keine gibt.“

„Eben, eben!“ Kuschka grinste. „Keine Angst – Biebusch ist auf Frau Haas noch saurer als auf Sie.“

„Warum denn das?“

„Weil sie ihn mächtig angefahren hat… Sie waren gerade weg, da holt er eine Ausarbeitung von Frau Haas aus der Tasche – amerikanische Gemeindeforschung, Warner, die Lynds und so – und fragt: Ausgezeichnet – wer hat denn das geschrieben? Frau Haas geht natürlich in die Luft wie das HB-Männchen und beschimpft ihn fürchterlich…“

Bei Frau Haas kam der Ärger wieder hoch. „Ich dachte, das wäre wieder so eine Spitze von ihm. Wo er doch annimmt, daß mein Mann alles für mich schreibt bzw. geschrieben hat – einschließlich meiner Diplomarbeit.“

Katja nickte. Frau Haas hatte das Pech, daß ihr Mann ebenfalls Soziologe war, und ein anerkannt guter dazu. Und das bei ihrer Sucht nach Emanzipation.

„Dabei wollte Biebusch nur wissen, wer denn das Manuskript so sauber abgetippt hat“, lachte Kuschka.

Frau Haas kam langsam in Fahrt. „Biebusch – Deutschlands Größter! Wodurch ist der denn was geworden? Dadurch, daß er 1955 aus Amerika zurückgekommen ist und all das, was die da seit 1933 zusammengetragen hatten, als seine Soziologie verkauft hat. Selber ist er doch so kreativ wie ein Felsblock. Aber das elitäre Gehabe! Keine Ahnung, wie eine Fabrik von innen aussieht, aber dumme Sprüche klopfen über die Optimierung der Effizienz durch einen kooperativen Führungsstil. Großes Gerede von Demokratisierung und so – und uns behandelt er wie seine Leibeigenen. Da spuckt er große Töne von wegen Professionalisierung und Hingabe an die Sache, aber wenn er weniger als 10 000 Mark daran verdient, führt er keine Untersuchung durch. Unter dreitausend…“

Sie brach abrupt ab, denn in diesem Augenblick kamen Kossack und Lankenau aus dem Clubzimmer und blieben vor dem Tresen stehen.

„Zum Abschluß einen Korn?“ fragte Kossack.

„Warum nicht“, sagte Lankenau. „Früher hieß es ja, ‚Arbeiter meidet den Alkohol, kauft euern Schnaps im Konsum!’ – aber heute…“

Sie tranken beide, und Katja zitterte vor verhaltener Erregung. Sie wußte, wer Kossack war. Hatten sich die beiden geeinigt? Sah ihr Kompromiß so aus, daß man die studentische Hilfskraft Katja Marciniak opferte?

„Das sieht ja weniger schön aus“, brummte Kuschka.

Der Ober kam. Katja bestellte irgend etwas und wußte Sekunden später nicht mehr, was sie bestellt hatte.

Kossack geleitete Lankenau zur Tür.

„Lassen wir das mit der Kontaktschuld“, sagte Lankenau. „Wenn jeder, der dem Führer jemals die Hand gedrückt hat, heute aus seinem Beruf rausfliegen sollte, hätten wir einige tausend Arbeitslose mehr – dabei sicherlich einige wichtige Stützen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung…“

„Ich habe nicht gedrückt… Ich bin überhaupt gegen jeden Druck. Ich verlasse mich aber auf Ihr Wort, daß der Schlußbericht nicht in eine Beschimpfung meiner Freunde und einer Forderung nach Aufhebung des Privateigentums ausartet…“

Katja duckte sich hinter Frau Haas, aber es half nichts, Lankenau erkannte sie.

„Da sitzen ja meine jungen Freunde!“ Er griff sich einen freien Stuhl, stellte ihn neben Katja an den Vierertisch, begrüßte sie und ließ sich mit Kuschka und Frau Haas bekannt machen. „In der Höhle des Löwen, das lob ich mir! Ober, eine Lage für uns!“ Er setzte sich und strahlte sie an, während sich Kossack unter dem Eindruck dieser Demonstration in die hinteren Gemächer zurückzog. „Ich habe gerade mit ihm über die Begrenzung des Wahlkampfs gesprochen. Klar, daß wir uns dabei auch über Ihre Studie unterhalten haben. Ich glaube nicht, daß Kossack Ihnen noch Steine in den Weg legen wird.“ Er schmunzelte. „An Ihrer Untersuchung, da hängt jetzt auch mein Prestige dran…“

Er redete und redete, ließ sie kaum zu Worte kommen. Hans Lankenau, Volksschullehrer, Funktionär, Bürgermeister. Ein zerknautschter brauner Anzug von der Stange, ein überdimensionaler, goldgefaßter Lapislazuli am kurzen, fleischigen Ringfinger, graue Haare, Beamtenschnitt, zwei Goldzähne, ein Hamstergesicht, schlechte Zähne, Mundgeruch, zwei kurze Stummelbeinchen und ein unästhetischer Schmerbauch. Katja fand ihn herzlich unsympathisch. Und ein übler Schwätzer und Wichtigtuer dazu… Mit wem man so im selben Boot zu sitzen kam! Wenn sie da an Buth dachte…

„Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung“, sagte Kuschka.

Der Ober kam. „Vier Bier, vier Korn!“

Lankenau hob sein Schnapsglas. „Auf Ihr Wohl – und auf Ihre Studie!“

Sie bedankten sich.

„Auf Ihren Wahlsieg!“ sagte Kuschka höflich.

Sie kippten den Klaren und spülten mit Bier nach.

Lankenau wurde noch um einige Grade kumpelhafter. „Noch haben sie die Schlacht nicht gewonnen – es gibt hier eine Handvoll Fanatiker in Bramme, die Ihnen ganz hübsch zusetzen werden. Die schrecken vor nichts zurück. Die stehen so weit rechts – rechts von denen gibt es nur noch die Wand. Also: Nerven behalten! Zusammen schaffen wir’s schon.“ Er klopfte Kuschka auf die Schulter. „Nicht wahr, Herr Kutscher!“

„Kuschka.“

„… Herr Kuschka, pardong… Mit Kossack, Buth und Trey haben wir ja erst mal einen sehr schönen Burgfrieden geschlossen. Die paar Irren hier werden sich auch noch beruhigen. Also…“ Er stürzte den Rest seines Bieres hinunter. „Halten Sie die Ohren steif!“ Er klopfte nach Studentenmanier auf den Tisch, drückte dem Ober ein paar Münzen in die Hand, murmelte etwas von einer Versammlung, die er leiten müsse, und rauschte hinaus.

Für die nächsten zwanzig Minuten hatten sie neuen Gesprächsstoff.

Katja bemühte sich feuilletonistisch. „Um mit unserem verehrten und jüngst verstorbenen Altbundespräsidenten zu sprechen: Lankenau is heavy on wire. Ein kleiner Wehner im Lübke-Pelz.“ Ihr Essen – sie hatte, wie sich herausstellte, wieder einmal Bauernfrühstück geordert – war zu fett; sie ließ die Hälfte stehen.

Frau Haas versuchte es literarisch. „Er erinnert mich irgendwie an den Bürgermeister Garels in Bauern, Bonzen und Bomben.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, zog sie ein dickes Taschenbuch aus ihrem Lederbeutel und warf es auf den Tisch. „Irgendwie eine Fallada-Figur.“

Kuschka sah es fachspezifisch. „Männer wie Lankenau sind es, die unsere Parteien zusammenhalten. Sehen wir uns einmal die vier Grundfunktionen an, die ein soziales System bei Talcott Parsons erfüllen muß, wenn es Bestand haben will, und machen wir uns dann klar, welchen Beitrag Lankenau hier in Bramme zur Erfüllung dieser Grundfunktionen leistet. Nehmen wir zuerst…“

Katja schaltete ab; sie kannte Kuschkas Ansichten über adaptation, goal-attainment, integration und pattern-maintenance. Aber das war nicht der einzige Grund für ihre mangelnde Aufmerksamkeit. Schon als sich Lankenau an ihren Tisch gesetzt hatte, war ihr aufgefallen, daß sie beobachtet wurden.

Direkt vor der Toilettentür saß an einem winzigen Tisch ein einzelner Herr, der offenbar nichts weiter zu tun hatte, als zu ihnen herüberzustarren. Er sah gut aus, für Brammer Verhältnisse beinahe zu gut; er wirkte fast so auffallend wie ein Paradiesvogel in einer Spatzenschar. Ein Dressman-Typ; ein Mann, der für Whisky und farbige Unterwäsche Reklame macht – männlich und cool, scharf geschnitten die Züge, bronzebraun das Gesicht, weizenblond die Haare; der nach Pfeifentabak und dessen – in diesem Fall taubenblauer – Anzug nach Pierre Cardin riecht. Was ihn aber interessant machte, war eben das, was nicht ins Klischee paßte: Er wirkte fürchterlich nervös. Er war allein und scheu und fürchtete sich offenbar in dieser Umgebung; er trank schon den dritten Korn innerhalb von zehn Minuten, obwohl er das Zeug anscheinend nicht mochte. Er versuchte mit dem Ober ins Gespräch zu kommen, wurde aber abgewiesen… Sonderbar. So saß er wieder zusammengesunken vor seinem halbgefüllten Tulpenglas und starrte zu Katja hinüber.

Sie unterbrach Frau Haas und flüsterte: „Kennen Sie den Mann, der da hinten einsam und verlassen an der Toilettentür sitzt?“

„Warum?“

„Der guckt dauernd zu uns rüber…“

Kuschka drehte sich um. „Das ist doch Lemmermann – Helmut Lemmermann. Der vom Sex-Shop.“

„Was – Sie kennen den?“

„Ich bin vorhin vorbeigekommen. Seine Pornos sind Klasse.“

Lemmermann schien zu spüren, daß von ihm die Rede war. Er stand auf, nahm sein Glas und kam zu ihnen herüber. Katja dachte, in einem Lokal wie dem Wespennest tut man das eigentlich nicht – und merkte, daß ihr ganz einfach nicht wohl bei der Sache war. Aber da hatte Lemmermann ihren Tisch schon erreicht.

„Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?“ fragte er mit heiserer, unsicherer Stimme.

„Aber gern“, sagte Kuschka. „Ich habe Sie eben schon vorgestellt – und Sie werden auch wissen, wer wir sind.“

„Ich kann’s mir denken: die Soziologen.“

„Erraten!“ Kuschka rückte ihm einen Stuhl zurecht und stellte sich und die beiden Damen vor.

Lemmermann setzte sich. „Das ist nett von Ihnen…“

Katja war verwirrt, und es rutschte ihr so raus: „Zu einem Mann wie Kolle sind wir natürlich kollegial.“

Lemmermann sah sie melancholisch an. „Wenn Sie wüßten…“ Dann schüttelte er den dreien sein Herz aus. „Ich bin nun hier in Bramme geboren worden und aufgewachsen – und jetzt wollen sie mich rausekeln. Genau wie Sie! Da sitzen wir im gleichen Boot. Dabei mache ich hier mit dem Sex-Shop gute Umsätze, und Ihre Studie ist bestimmt auch ihr Geld wert. Aber einigen Damen und Herren paßt das alles nicht, und die schrecken vor nichts zurück. Mir werfen sie die Scheiben ein und zünden die Auslagen an, und über Sie verbreitet man Gerüchte… Baader-Meinhof-Gruppe und so. Das ist alles ein und dasselbe – “ ein Schluck aus dem Glas – „und darum müssen wir zusammenhalten!“

Kuschka war es recht, daß sich Lemmermann zu ihnen gesetzt hatte; er witterte einen neuen Zechgenossen. Und auch Frau Haas hatte nichts gegen diese Bekanntschaft einzuwenden, konnte man doch von Lemmermann interessante Informationen über das Brammer Intimleben erwarten. Nur Katja störte sich an seiner Anwesenheit.

Scheußlich, wie er sie dauernd musterte! Sie wußte gar nicht mehr, wohin sie noch sehen sollte; jedesmal, wenn sie den Blick hob, trafen sich ihre Augen. Er beachtete jedes Wort, das sie sprach, jede Geste, jedes Lächeln; er schien sich für jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts und ihrer Arme zu interessieren. Was will er von mir? Sind es erotische Motive? Sucht er Mädchen für Aktaufnahmen? Für Massage-Salons? Fürs eigene Bett? Will er in Bramme ein Bordell aufmachen?

Nach außen hin demonstrierte Lemmermann seine Freude darüber, daß er endlich Anschluß gefunden hatte. „Herr Ober, eine Runde Cognac für uns! Wir lassen uns nicht kleinkriegen, wir nicht… Die werden sich noch wundern!“

Der Cognac kam. Man stieß an aufs gemeinsame Durchhalten.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte Lemmermann. „Morgen abend sabotieren wir mal das Wespennest und…“ Er machte eine kleine Pause, weil Buth und Trey an ihrem Tisch vorbeikamen und, ohne sie zu beachten, auf die Straße hinaustraten: „… und fahren alle vier nach Bremen. Ich hab da einige Jahre gewohnt, bevor ich nach Berlin gezogen bin; ich zeig Ihnen mal die Stadt – den Marktplatz, die Böttcherstraße, das Schnoorviertel und so… Ich hab morgen nachmittag ‘ne Vertretung – um fünf bei mir am Wagen?“

Kuschka und Frau Haas stimmten zu; Katja wagte nicht, nein zu sagen. Lemmermann nickte befriedigt. Sie unterhielten sich noch ein Weilchen über die Emanzipation des Menschen, die mit der Sexwelle verbunden war, dann verabschiedete sich Lemmermann.

„Ich will mich heute nacht mal im Laden aufhalten, hinter dem Tresen versteckt, und sehen, wer mich da regelmäßig beglückt…“ Er gab allen die Hand; bei Katja dauerte es Sekunden, ehe er wieder losließ.

Als er gegangen war, saßen sie noch ein paar Minuten schweigend herum. Sogar Frau Haas war zu müde, um noch Lust zu weiteren Diskussionen zu haben. Sie bezahlten und verließen das Restaurant. Es war kurz nach zehn. Kuschka fuhr Frau Haas in ihre Pension; Katja hatte ja nur ein paar Minuten zu laufen.

Die Straßen waren menschenleer; die Brammer liebten offenbar den frühen Schlaf. Von den zehn Laternen, die die Knochenhauergasse aufzuweisen hatte, waren drei ausgefallen – Rocker, Kinder, Altersschwäche. Von Südosten wälzte sich eine Gewitterfront heran; es grummelte schon, und hinter dem Brammer Meer zuckten die ersten Blitze auf. Als die erste Bö sie traf, ging Katja schneller. Sie hatte keine Lust, naß zu werden. Verdammtes Pflaster! Schon wieder war sie mit dem Knöchel umgeknickt. Ihr altes Dilemma. Ihre Großmutter hatte sie immer Katja Knickebein genannt. Aber zum Glück nichts verstaucht.

Ein wenig geduckt, gegen den Wind ankämpfend, passierte sie das Lichthaus Bruns und Dopp, das Schuhgeschäft. Keine hundertfünfzig Meter bis zur Pension Meyerdierks. Sie war müde, sie sehnte sich nach ihrem Bett. Die Beklemmung war gewichen; jetzt lief ja alles, Buth und Trey hatten die Waffen gestreckt. Man würde ein paar Konzessionen machen, manches nicht so scharf formulieren, schön – warum auch nicht? Abends um halb elf war die Welt wieder in Ordnung.

Als sie am Mönchsgang vorbeikam, löste sich ein Mann aus einem Hauseingang und folgte ihr. Er pfiff leise vor sich hin. Sie vermied es, sich umzusehen, drehte den Kopf nur ein wenig nach hinten. Ein bulliger Kerl, soweit sie sehen konnte; blond, bäuerisch. Er kam immer näher. Manchmal sagte er etwas, was sie nicht verstand; es klang so nach Puppe und Wie war’s denn?

Auch das noch! Der tumbe Casanova von Bramme… Oder? Sie ging unwillkürlich noch schneller. Alle Fenster dunkel. Schreien? Was hilft hier schreien? Gott sei Dank – drüben im Hotel, in der Stadtwaage, war noch Betrieb.

Der Kerl hielt Abstand. Er pfiff nicht mehr. Er sagte nichts mehr. Kaum mehr als hundert Meter noch. Ehe sie den Schlüssel herausgesucht und aufgeschlossen hatte… Sollte sie Frau Meyerdierks herausklingeln? Oder schnell die Straßenseite wechseln? Die Stadtwaage…? Sie sah ihren Karman Ghia auf dem Parkplatz stehen. Sollte sie…? Nein; das war das Dümmste, was sie tun konnte.

Jetzt hatte sie die Praxis von Dr. Harjes erreicht. Das weiße Schild sagte stumm, Mo, Di, Fr 10 – 12 Uhr, Mi n. Vereinbarung, 17 – 18 Uhr, außer Mi Sbd. Gegenüber die Gaststube des Hotels – hell, gemütlich, sicher… Sie zögerte einen Augenblick, blieb beinahe stehen.

Der Mann hinter ihr brabbelte etwas vor sich hin, schwankte leicht, machte eine abrupte Wendung nach rechts und verschwand schließlich drüben im Hotel.

Katja atmete auf, grinste dann gequält. Die Nerven! Alles Einbildung. Aber… Von nichts ist nichts. Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.

Leicht fröstelnd ging sie weiter. Banalitäten trösten auch nicht immer. Die ersten Regentropfen peitschten ihr ins Gesicht; gleich darauf goß es wie aus Kübeln. Auch das noch! Zum Glück nur noch ein paar Schritte bis zur Pension. Im Gehen zog sie ihre Umhängetasche nach vorn und suchte nach den Schlüsseln. Bitte nicht verlieren, Fräulein Marciniak, sonst kostet’s 10 Mark. Verdammt, wo war das Scheißding denn? Sie blieb stehen, ihre Kleidung konnte kaum noch nasser werden. Die Laterne am Straßenrand kaputt, über dem Eingang zur Pension Meyerdierks eine Fünfzehn-Watt-Lampe. Ich muß sparen, wo ich nur kann, Fräulein Marciniak.

Hatte sie den Schlüssel im Auto liegenlassen, als sie mit Corzelius vom Baden gekommen war? Oder im Wespennest, als sie Frau Haas ihren Kamm geborgt hatte?

Frau Meyerdierks rausklingeln…? Lieber nicht.

Oben im Zimmer des großkotzigen Abteilungsleiters brannte noch Licht. Ein Steinchen…? Nein, der wurde nur wieder ein Opfer seiner Säfte: Hoffentlich haben Sie nicht auch den Schlüssel zu Ihrem Keuschheitsgürtel verlegt…

Zwei Wagen rasten vorüber.

Da war er! Im Brillenfutteral. Dafür steckte die Sonnenbrille ungeschützt in der Seitentasche. Na also!

Sie blickte hoch, um nicht über die Stufen zu stolpern, die zur Pension hinaufführten. Frau Meyerdierks ausgetretene Freitreppe.

Nanu…!? Von der Brammermoorer Heerstraße schoß ein kompakter Wagen heran. Ohne Licht auch noch, der Idiot. Sicher zwei Promille. Na, ihr konnte es im Augenblick egal sein, sie…

Der Wagen machte einen Schlenker.

Mein Gott!

Das war Absicht.

Der will mich zerquetschen.

Mit der Stoßstange die Beine ab… Wie mit einem Messer.

Es gibt hier eine Handvoll Fanatiker in Bramme, die Ihnen noch ganz hübsch… Die schrecken vor nichts zurück…

Soziologin, Kommunistin, Anarchistin.

Sie wollte springen, die Stufen hinauf hasten. Sie rutschte aus und stürzte… Fahr überall hin, aber nicht nach Bramme… Aus!

Der Wagen zischte vorüber, Wassertröpfchen schlugen ihr wie kleine Kiesel ins Gesicht.

Sie rappelte sich hoch.

Ein kurzes Hupen.

Ein höhnisches Hupen. Also kein Betrunkener. Ein Mordanschlag.

Oder ein Bluff. Ein Versuch, sie aus Bramme zu vertreiben.

Nerven behalten!

Wie stark die sich fühlten. Die. DIE. Wer sind sie. Verdammt noch mal?

Der Wagen war längst auf dem Marktplatz verschwunden.

Sollte sie die Polizei alarmieren? Sich lächerlich machen? Verfolgungswahn, was? Wie sah denn der Wagen aus? Ja, wie sah er aus? Ein Ford, ein Opel, ein Simca, ein Peugeot? Sie hatte es nicht erkannt; nicht mal die Farbe wußte sie. Zeugen? Nein. Spuren? Nein. Sie hatte sich nicht mal Knie oder Hände zerschrammt. Sie wollen sich wohl interessant machen hier, was? Wir sind doch nicht in Chicago hier – wir sind in Bramme! Eben. In Bramme steckt man keiner Frau Krebsfleisch in die Tasche, um sie des Ladendiebstahls zu überführen, und in Bramme benutzt man sein Auto zum Fahren und nicht als Mordinstrument. Kein Mensch will Sie aus Bramme vertreiben! Am besten, sie sprach morgen mit Corzelius darüber…

Sie zitterte noch immer am ganzen Körper. Endlich schloß sie auf und ging in ihr Zimmer. Ihr Magen revoltierte. Das fette Bauernfrühstück… Sie lief zur Toilette und übergab sich.

Wieder im Zimmer schluckte sie eine lindgrüne Tablette. Librium Tabs. Gegen innere Unruhe- und Spannungszustände, verschreibungspflichtig. Die hatte sie sich vor der großen Statistikklausur geben lassen.

Sie stellte ihr Radio an. Ein Jazzkonzert, Duke Ellington vielleicht. Das ging ihr auf die Nerven. Ein schneller Druck auf die AUS-Taste. Aah! Auf dem Fensterbrett stand eine Flasche Bier. Lauwarm das Zeug, aber ein zusätzliches Schlafmittel. Sie trank die eine Hälfte, die andere Hälfte schüttete sie ins Waschbecken. Stank wie in ‘ner Kneipe.

Um alles in der Welt: Jetzt mit jemand sprechen! Aber mit wem? Kein Telefon im Zimmer. Kuschka soff irgendwo, Frau Haas schlief schon, Biebusch hockte in Bremen und tratschte mit Kollegen, Corzelius fuhr im Streifenwagen durch die Gegend, Lemmermann saß in seinem Laden und… Lemmermann? Ob sie nicht…? Nein. Wie der sie angestarrt hatte…

Zum Kotzen, dieses Alleinsein!

Sie wusch sich, legte sich ins Bett.

Dieses verdammte Zimmer – heiß wie eine Sauna. Draußen tobte das Gewitter los, da ließ sich das Fenster nicht öffnen. Und auch sonst hätte sie’s geschlossen gelassen. Sie sprang auf und sah nach, ob der Schlüssel in der Tür steckte, ob sie auch abgeschlossen hatte. Ja. Sie drehte den Schlüssel so, daß man ihn von außen nicht herausstoßen konnte. Dann machte sie den Kleiderschrank auf, sah hinein, wollte sich bücken, um unters Bett zu schauen, kam sich aber sofort lächerlich vor und stieß nur einen am Boden abgestellten leeren Joghurtbecher darunter. Nichts.

Irgendwo schlug es ein. Sie zuckte zusammen, fror plötzlich.

Die alte braune Tapete… Auffallend die senkrechten Erhebungen. Eine Tür…? Sie klopfte die Wände ab. Nichts. Sie schaltete den Radioapparat wieder ein. Nur atmosphärische Störungen. Sie zog sich ins Bett zurück und knipste die Nachttischlampe aus. Ich bin doch kein Kind mehr!

Blitze erhellten den Raum, warfen bizarre Schatten. Über ihr schlurfende Schritte. Die Haustür wurde zugeschlagen. Ein Feuerwehrzug polterte die Straße entlang. Die Scheiben klirrten. Wär ich doch bloß in Berlin geblieben!

Sie zählte bis fünfzig, dann wieder rückwärts bis null, blieb bei 29 stecken. Sie versuchte, sich etwas Schönes vorzustellen: mit Corzelius am Brammer Meer, mit einem eleganten Mann in einer Kudamm-Bar – mal war es Buth, mal war es Lemmermann. Komisch! Klick, andere Bilder: Biebusch hielt ihre Diplomarbeit in der Hand und sagte: Ich kann nicht anders – magna cum laude. Die Großmutter schenkte ihr das Auto: Fahr damit ins Glück… Hatte sie nie gesagt, natürlich. Schwulst hatte ihr nie gelegen. Klick. Der Abend an der Havel, an dem sie…

Die Tablette und das Bier ließen sie schläfrig werden, die Beklemmung, die Angst hielten sie wach. Noch zwanzig Zentimeter, und ich läge jetzt in so einem komischen Sarg, wie sie immer in den Fernsehkrimis… Diese flachen Dinger. Sind sie aus Blech? Aus Plastik?

Sie knipste das Licht wieder an, riß sich das Nachthemd herunter, wusch sich noch einmal, aß einen Apfel, zog sich frische Sachen an, streifte sie wieder ab, warf sich nackt aufs Bett.

Kein Schlaf, und morgen schwer arbeiten. Die ersten Interviews.

Bramme und Marciniak, das geht nicht… Die Großmutter.

Nerven behalten! Lankenau.

Wie ich überhaupt gegen jeden Druck bin… Kossack.

Da sitzen wir im gleichen Boot… Lemmermann.

Das kann ja noch allerhand Zirkus hier geben… Corzelius.

Ein Mann. Seinen Namen hat er nicht genannt. Er wollte nur wissen, wann Sie hier ankommen… Frau Meyerdierks.

Wer da auf die Steinplatte tritt, der wird vom Unglück verfolgt… Der Zeitungshändler.

Geht’s dir gut, liegt’s an Buth… Günther Buth.

Freut mich, angenehm… Dr. Trey.

Das ist ja ein wahres Kesseltreiben, das man da gegen uns eröffnet… Biebusch.

Die Stimmen ließen sich nicht verjagen; die Bilder, die dazugehörten, ebensowenig. Gesichter tanzten vor Kulissen, die ineinander übergingen.

Ihr Schlaf war flach und quälend, wie eine genau dosierte Narkose: zu wenig, um endgültig wegzutreten, zu viel, um wach zu bleiben. Vom Turm der nahen Matthäikirche schlug es zwei, schlug es drei. Fast schon dämmerte es. Neben ihr spielte das Kofferradio mit schwächer werdender Batterie. Eine Stimme hallte wie aus fremden Sternenhaufen… Nur die Liebe läßt uns leben… leben… leben… Leben, ja. Leben. Es fährt ein Zug nach nirgendwo… nirgendwo… nirgendwo…

Die Träume jagten sich. Die meisten waren sanft und vergingen wie Ringe aus Rauch.

Einer blieb.

Sie stand in einem Keller. Die Kleidung zerrissen. Kein Fenster, nur eine Tür. Salpeter an den Wänden, Wassertropfen an der Decke. Auf dem Boden zwei große Gasflaschen. Zwei Schläuche. Ein Mann mit einer Maske vorm Gesicht hielt einen Schneidbrenner in der Hand. Eine scharfe Flamme zischte hervor. Der Mann kam auf sie zu. Langsam, schwebend wie ein Raumfahrer, zentimeterweise. Sie wollte sich bewegen, wollte fliehen, doch sie war zur Salzsäule erstarrt; ihre Glieder gehorchten nicht. Nicht einmal ein Schrei. Da war die Flamme. Der Mann zielte auf ihren Schoß… Jetzt!

Sie fuhr hoch, ihr Entsetzen entlud sich in einem gurgelnden Aufschrei. Zitternd, schweißgebadet suchte sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Er war weg… Nein, da war er.

Licht! Endlich Helligkeit. Sie sprang aus dem Bett, lief im Zimmer auf und ab, tat Sinnloses: wühlte in ihren Büchern, schloß die Schränke auf und zu, hing ihre Bluse auf einen Bügel, obwohl sie zur Reinigung sollte, schaltete den Durchlauferhitzer an und wieder aus, angelte einen Kronkorken unter dem Bett hervor. Schließlich drehte sie den kalten Hahn auf und hielt die Stirn unter den Strahl. Dann setzte sie die Cointreau-Flasche an den Mund, trank, verschluckte sich, hustete, warf sich wieder aufs Bett.

Alkohol auf Beruhigungstabletten. Bald war sie betäubt. Das grausame Bild verblaßte.

Ein neuer Traum.

Sie stieg in eine U-Bahn. Wohl irgendwo in Berlin. Ein Umsteigebahnhof. Der Zug fuhr an. Glitt durch den Tunnel, kam zwischendurch ans Licht, hielt aber nirgends. Die Fahrgäste zeigten kein Interesse daran, sie auch nicht. Stationsschilder huschten vorüber, aber sie vermochte die Namen nicht zu lesen. Komisch. Wo war sie? Es wurde beängstigend. Es kamen bizarre Bahnhöfe, Tropfsteinhöhlen, Bergwerke, gläserne Kugeln unter Wasser mit glotzenden Fischen, ein militärischer Kommandostand, eine unterirdische Munitionsfabrik. Plötzlich schoß der Zug ins helle Licht. Sie fuhren durch eine Landschaft voller Birken und Wiesen. Vor ihnen eine Stadt. Bramme! Der Zug rollte gemächlich durch das Moor, war mit einemmal ein alter Bummelzug. Eine schöne Fahrt. Sie sah sich um im Abteil. Da war er wieder, der Mann mit der Maske. Sie wollte nicht nach Bramme, sie griff nach der Notbremse, die riesengroß über ihr schwebte, bekam sie zu packen, zog… Eine Detonation. Etwas klirrte…

Katja schnellte hoch. Traum? Wirklichkeit? Ein Motor heulte auf. Ein realer Motor.

Der Wind blähte die Vorhänge. Nanu – das Fenster war doch… Was ist geschehen?

Ein Einbrecher…? Mein Gott, wenn…

Ein Knacken. Die Wechselsprechanlage: „Ist Ihnen was passiert, Fräulein Marciniak?“ Frau Meyerdierks.

„Was ist denn…?“

„Da hat einer mit ‘nem Stein Ihre Scheibe eingeworfen – ich seh’s vom Erker aus. Ich war gerade… Ich komm gleich mal runter… Ich muß die Polizei…“ Knacken. Ende.

Katja ging zum Vorhang, faßte ihn vorsichtig an, duckte sich unwillkürlich. Wenn nun draußen… Wenn einer mit einer Pistole… Dann riß sie den senffarbenen, schmierigen Stoff mit einem energischen Ruck zur Seite. Diese feigen Schweine!

Nun gerade!

Natürlich fiel kein Schuß. Die Knochenhauergasse lag leer.

Alles nur Bluff!

Doch ihre Stimmung kippte sofort wieder um, als sie an den Mann mit dem Schneidbrenner dachte. Gräßlich! Sie hatte keine Ahnung von Parapsychologie, hielt nichts vom Übersinnlichen, aber… Nur ein Traum? Oder vielleicht doch eine Warnung…?

Sprüche schossen ihr durch den Kopf. Keiner entgeht seinem Schicksal

Der Mensch denkt, Gott lenkt…

Du kannst dich drehn und winden, der Arsch bleibt immer hinten… Das war der Lieblingsspruch der Großmutter gewesen. Die Großmutter. Die hatte sie vor Bramme gewarnt.

Katja war müde und zerschlagen. Apathisch zog sie sich an. Gleichgültig starrte sie auf das gezackte Loch in der Scheibe.

Der Streifenwagen kam, die Polizisten besahen sich das Fenster, hoben den Stein auf. Grau war er, drei Kilo vielleicht.

„Etwas leichter als eine Frauenkugel“, sagte Corzelius. „Eine Olympiasiegerin kommt über zwanzig Meter damit. Wenn man sie an den Kopf… Aber hier haben ja Scheibe, Gardine und Vorhang gebremst.“

Katja verstand nicht, wie Corzelius so schnell in die Knochenhauergasse gekommen war. Hatte er vielleicht…? Quatsch. Er wollte ja die ganze Nacht mit Otto-Anton 17 umherfahren und eine Reportage für die Wochenendausgabe… Sie riß sich zusammen:

„Na bitte, der Stein ist ja wirklich ein gefundenes Fressen für Sie.“

„Tja, man kann sich schon die Zähne daran ausbeißen.“

Corzelius blödelte.

Die beiden Polizisten schrieben ihr Protokoll.

Frau Meyerdierks jammerte, schimpfte, stöhnte.

Katja gab sich desinteressiert.

Die Beamten zogen ab, Corzelius folgte ihnen, Frau Meyerdierks lud Katja zu einer Tasse Kaffee ein.

„Nett weer dat ja nich…“

Ihr Mitleid war so groß, daß sie Katja und sich einen doppelten Korn spendierte.

„Wenn mien Fööt ok al freren mööt – “ sie deutete auf ihre nackten Füße, die in Sandalen steckten – „so bruukt de Hals doch nich dösten, sä de Super.“

Es wurde sechs Uhr, die ersten Gäste wuschen sich schon, und sie saßen noch immer am Kaffeetisch. Frau Meyerdierks war verständnisvoll und mütterlich, fühlte sich in Anbetracht des Überfalls auf ihren Bruder doppelt getroffen und entschuldigte sich vielmals dafür, daß Katja ausgerechnet in ihrer gutbürgerlichen Pension so was zustoßen mußte.

„Vielleicht wollte man mich damit treffen“, sagte sie, „wo doch schon mein Bruder… Die denken alle, Sie… Aber…“

Sie konnte nicht ausreden, weil das Telefon schrillte. Sie ging auf die Diele, nahm den Hörer hoch, meldete sich und lauschte. „Für Sie, Fräulein Marciniak. Ein Herr.“

Nanu? Kuschka, Corzelius, Lemmermann, Biebusch…? Um diese Zeit? Sie ging zu Frau Meyerdierks hinaus und ließ sich den Hörer geben.

Eine männliche Stimme; dumpf, verzerrt. Offensichtlich ein Tonband, mit 9,5 aufgenommen und mit 4,75 abgespielt. Oder die Geschwindigkeit schwankte, wurde beim Abspielen mit dem Finger gebremst. Es klang schaurig. Sie verstand nicht alles, reimte sich aber das meiste zusammen.

letzte Warnung… verschwinden Sie aus Bramme!… keine rote Hure hierwir brauchen keine Anarch… Nur wenn… diesmal… nurStein, beim nächstenmal eine Kugel… spaßen nichtFrist bis…

Aufgelegt!