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Das Hotel-Restaurant Zum Wespennest war ein renommiertes Haus; und auch heute mußten verschiedentlich Touristen wie Einheimische die beiden großen Speisesäle wieder verlassen, weil sie keinen freien Tisch mehr fanden.

Trotz dieses Andrangs, der auch jetzt, als es auf 14 Uhr ging, nicht geringer wurde, saßen Trey und Buth allein im Clubzimmer.

Buth hatte sein Jägerschnitzel bis zum letzten Rest gegessen, sein Teller sah aus, als hätte er ihn – was bei seiner stadtbekannten Sparsamkeit durchaus denkbar war – abgeleckt.

Dr. Trey dagegen hatte sein Hühnerragout kaum angerührt; es schien, als ekle er sich davor. Er hatte die mächtige Hornbrille abgenommen und wischte sich mit einem zusammengefalteten Taschentuch die Augen aus. Er sah blaß und übernächtigt aus.

Buth spielte mit seinem Bierglas. „Ich denke, mich trifft der Schlag, als mich Lankenaus Sekretärin um meine Zustimmung zur Untersuchung bittet und mir die Liste mit Biebuschs Mitarbeitern gibt, damit ich mir die einzelnen Lebensläufe mal ansehen kann: Katja Marciniak aus Bramme…“ Buth leerte sein Glas. „Wenn sie die Wahrheit erfährt, dann ist es aus mit uns. Mit uns allen… Zwanzig Jahre Arbeit umsonst!“

„Und wenn sie nun schon alles weiß?“ Trey setzte die Brille wieder auf. „Wenn sie nur gekommen ist, um uns…“

„Du willst dich bloß verteidigen!“ Buth kippte einen Klaren hinunter. „Es war idiotisch, ihr diesen Brief zu schreiben und alles aufzudecken.“

„Ich wollte reinen Tisch machen – Tabula rasa.“

„Du kannst ja machen, was du willst, solange keiner weiter davon betroffen ist. Wenn ich aber dadurch hopsgehen soll – und noch ein paar andere – , dann hört’s bei mir auf!“

„Ist ja schon gut“, sagte Trey besänftigend. „Sie hat den Brief nicht bekommen. Wir haben ihn wieder.“

„Und der Preis dafür? Wätjen mußte den Briefträger überfallen!“

„Wenn das rauskommt…“ Es klang fast weinerlich.

„Das kommt nicht raus. Das hat nicht rauszukommen!“ Buth knallte sein Bierglas auf den Tisch. „Reiß dich zusammen, Menschenskind! Es geht um unsere Existenz! Und du fällst schon beim ersten Windstoß um.“

Trey atmete tief durch. „Diese verdammte stadtsoziologische Untersuchung… Und wenn Lankenau das alles eingefädelt hat, um die Marciniak nach Bramme zu holen?“

Buth dachte nach. „Kann sein, kann auch nicht sein…“

„Lankenau ist ein alter Fuchs.“

Buth schlug mit der Faust auf den Tisch und lachte dröhnend. „Und ich bin ein gerissener Hund!“

Sie schwiegen.

Buth verfluchte Treys Schwäche. Dieser Brief hätte ihnen allen zum Verhängnis werden können. Nur gut, daß Wätjen den Briefträger noch erwischt hatte. Was wäre wohl passiert, wenn Trey nicht gegen acht Uhr morgens in der Firma angerufen und ihm alles gebeichtet hätte? Nicht auszudenken! Die Frage war, wie er Trey an ähnlichen Kurzschlußhandlungen hindern konnte.

Trey spielte mit seinem Kugelschreiber, drückte die Mine heraus, ließ sie wieder hineinschnellen. Hätte er Buth nicht angerufen, wäre schon alles überstanden. Die Euphorie, nun alles hinter sich zu haben, von aller Last befreit tu sein, hatte ihn zum Hörer greifen lassen.

„Ich habe 50000 Mark geboten für ihr Schweigen“, sagte Trey.

„Und wer garantiert dir, daß sie wirklich den Mund gehalten hätte? Bei ihrer politischen Einstellung… Und wenn sie wirklich schon alles weiß, dann wäre das ein herrliches Beweisstück gewesen… Nein, nein – der Brief war Wahnsinn!“

Wieder das drückende Schweigen.

Kossack kam herein, der Direktor des Hotel-Restaurants Zum Wespennest. Klein, drahtig, schwarzhaarig, mit einem Schuß japanischen Bluts; sein Urgroßvater hatte sich seine Frau aus Osaka mitgebracht. Ein sehr wendiger, alerter und rhetorisch äußerst begabter Mann in ihrem Alter, also Mitte der Vierzig. Buth hatte ihn aus gutem Grund zu seinem Wahlkampfleiter gemacht.

„Schon eine Antwort von Biebusch?“ fragte Buth.

„Nein. Sie sitzen noch immer vorn im Lokal und beraten.“

„Du hältst uns auf dem laufenden, ja?“

„Natürlich!“ Kossack blieb an der Tür stehen. „Ach, und… Ich hab Lemmermann angerufen und ihm gesagt, daß du ihn heute nach Ladenschluß hier treffen willst.“

„Und?“

„Er kommt natürlich. Er wollte sowieso mal wieder hier essen.“

„Unser alter Freund Helmut Lemmermann – Lemmy…“

Als sich Kossack umdrehte, um das Clubzimmer wieder zu verlassen, stieß er mit Jens-Uwe Wätjen zusammen.

„Hoppla!“ Wätjen hielt ihn fest.

„Nicht so stürmisch, junger Mann!“ Kossack nickte Buth und Trey noch einmal zu und schloß dann die Tür hinter sich.

„Setz dich“, sagte Buth.

Wätjen setzte sich auf den lederbezogenen Stuhl neben Buth. Er sah genauso aus, wie man sich landläufig einen Ostfriesen vorstellt: massig und etwas ungeschlacht der Körper, kantig der Schädel, weizenblond das Haar, blau die Augen und rosig das Gesicht. Obgleich ebenso alt wie Buth und Trey, wirkte er noch jungenhaft und ein wenig linkisch. Er war von Hause aus Betonfacharbeiter, im Augenblick jedoch zweiter Mann beim Werkschutz der Buth KG.

Wätjen zog einen länglichen weißgrauen Briefumschlag aus der Brusttasche und ließ ihn über den Tisch rutschen. „Hier: Absender Dr. Hans-Dieter Trey. An Fräulein Katja Marciniak, Bramme, Knochenhauergasse, Pension Meyerdierks.“

Trey fing den Brief ab und wollte ihn einstecken.

„Zerreiß ihn!“ sagte Buth.

Trey tat es und steckte die Papierfetzen in die linke Jackettasche.

Buth wandte sich wieder Wätjen zu. „Was hast du mit den anderen Briefen gemacht?“

„Das Bündel, in dem der hier gesteckt hat, das hab ich zu Hause verbrannt.“

Buth grinste. „Da wird sich der eine oder andere unserer lieben Mitbürger aber wundern. Na, vielleicht haben wir auch einiges Unheil verhütet…“

„Ich wollte noch das Geld mitnehmen, das er bei sich hatte, damit’s nach einem Raubüberfall aussieht, aber da kam einer die Wendeltreppe runter.“

„Hat dich jemand erkannt? Ich meine, gesehen?“

„Nö. Weder der Briefträger noch der Mann aus dem Büro.“

„Okay… Und dein Trick im Supermarkt?“ Buth klopfte ihm auf die Schulter.

Wätjen strahlte. „Hat geklappt! Aber sie steht noch nicht am Schwarzen Brett.“

Buth nickte und sah zu Trey hinüber. „Einer deiner Lokalreporter – nach Möglichkeit nicht dieser zwielichtige Corzelius – soll sich mal umhören. Vielleicht hat Taschenmacher den Fall auch bei der Kripo gemeldet.“

Trey kaute auf der Unterlippe. „Ich weiß nicht…“

„Aber ich!“ Buth richtete sich auf. „Gehen wir davon aus, daß sie nichts weiß – und das scheint mir doch ziemlich sicher zu sein… Aber hier in der Stadt gibt es ein Dutzend Leute, die ihr liebend gern auf die Sprünge helfen würden. Ihretwegen, aber auch um uns in die Pfanne zu hauen. Was folgt daraus?“ Buth machte eine kleine, rhetorische Pause. „Daraus folgt, sie muß aus Bramme verschwinden, ehe sie Gelegenheit hat, mit diesen Leuten ins Gespräch zu kommen. Ich habe da vier, fünf Personen im Auge, die Biebuschs Leute todsicher interviewen werden. Keine Spitzenleute – die übernimmt Biebusch selber. Zweite Garnitur. Auf die setzt er seine Mitarbeiter an.“ Er nannte einige Namen. „Stellt euch mal vor, diese Katja taucht bei denen auf. Wenn die zehn Minuten mit ihr gesprochen haben, dann fällt doch bei denen der Groschen. Und dann wird zur Jagd geblasen. Auf uns!“

Trey war etwas vom Tisch abgerückt und starrte auf seine Schuhspitzen.

„Wir können Sie doch nicht zwingen, Bramme zu verlassen.“

Buth lachte. „Wir haben sie bald mürbe – verlaß dich drauf! Die geht ganz von selber… Und wenn das nicht hilft: Ich bin sicher, daß Biebusch eher eine seiner Mitarbeiterinnen fallenläßt, als daß er auf die ganze Untersuchung verzichtet. Die Information aus Berlin war Gold wert; sie hat nun mal mit einigen Baader-Meinhof-Leuten Tür an Tür gewohnt und mit ihnen verkehrt…“

Wätjen grinste. „Richtig verkehrt?“

Buth reagierte unwirsch. „Weiß ich doch nicht… Jedenfalls, das ist unser größter Trumpf. Erst protestieren wir mit allen Mitteln gegen diese soziologische Untersuchung und dann handeln wir mit Lankenau einen Kompromiß aus: die Studie – in Gottes Namen. Aber nur ohne Fräulein Marciniak!“

Trey lächelte, vielleicht überzeugt, vielleicht resigniert. „Und wenn das immer noch nichts nützt?“

„Dann werden uns schon noch andere Mittel einfallen, sie aus Bramme zu vertreiben.“

Trey wurde ärgerlich. „Wir können sie schließlich nicht ermorden!“

Buth, der seinen linken Arm auf die Stuhllehne gestützt hatte, drehte die Handfläche nach oben; eine vielsagende Geste.

Trey fuhr hoch. „Und das sagst du!?“

Buth lächelte. „Ich hab gar nichts gesagt.“

„Wir können ja auch einen Unfall…“ murmelte Wätjen.

Sie schwiegen.

„Wir müssen handeln“, sagte Buth schließlich, „denn sie kann uns fertigmachen – so oder so. Und sie hat einigen Grund dazu, es zu tun. Ganz zu schweigen von ihren politischen Freunden, für die es ein gefundenes Fressen wäre. Ich sehe gar nicht so sehr den rechtlichen Aspekt – den auch, ja – , sondern vor allem den politischen. Ihr wißt doch selbst, wie die Bürger hier reagieren.“ Und, etwas spöttisch: „Besonders, wenn sie zu achtzig Prozent das Brammer Tageblatt lesen. So kurz vor der Wahl.“

„Je mehr wir unternehmen, desto gefährlicher wird sie für uns“, meinte Trey müde. „Wir wecken doch nur schlafende Hunde!“

„Unsinn!“ Buth sprang auf. „Es gibt doch todsicher eine Katastrophe, wenn wir nichts unternehmen. Und wir haben nur noch eine Chance: Sie muß verschwinden, ehe es bei ihr oder irgend einem unserer werten Mitbürger Klick macht… Uns bleibt doch gar nichts weiter übrig! Ja – wenn du diesen verdammten Brief nicht geschrieben hättest – aber so… Der Briefträger ist überfallen worden; wir haben A gesagt, wir müssen nun wohl oder übel auch B sagen.“

„B wie Buth.“ Wätjen grinste.

Trey stöhnte nur.

„Macht euch mal keine Sorgen“, sagte Wätjen. „Mir fällt schon noch was ein, was sie das Fürchten lehrt. Die wird noch mal froh sein, daß sie lebendig hier rausgekommen ist.“