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Kämena dankte zum drittenmal für den Sessel, den Frau Magerkort ihm anbot, und sah ein wenig verärgert auf den Postoberschaffner hinunter, der bleich und schläfrig auf seiner Couch lag, zwei Kissen unter dem Kopf.

„Ich kann Ihnen wirklich nichts weiter sagen, Herr Kommissar!“

Kämena trat an das Aquarium und sah mit einem gewissen Mißbehagen hinein. Er mochte keinen Fisch, und er mochte keine Fische. Das lag wohl daran, daß er als Sohn eines Fischmeisters aufgewachsen war, hinten am Brammer Meer, bevor man die Autobahn ins Ruhrgebiet gebaut hatte. Keine Zeit zum Spielen, immer mithelfen, nichts Vernünftiges zu essen, immer nur Fisch… Und dieser dußlige Magerkort machte noch ein Hobby daraus.

„Ich habe nur einen dunklen Schatten gesehen, sonst nichts. Und da hatte ich schon den Wattebausch mit dem Chloroform im Gesicht.“

Kämena zog die Mundwinkel noch weiter herab. Das Ganze paßte ihm nicht. Es war doch unsinnig, daß jemand einen Briefträger überfiel, ein Bündel Briefe an sich riß und dann verschwand.

„… alle Sendungen, die für die Knochenhauergasse bestimmt waren“, ergänzte Magerkort seinen Bericht.

Kämena sah ihn an, als wäre er selber schuld an der ganzen Geschichte. So was Blödes! Wer weiß, was dahintersteckte. Ein persönlicher Racheakt vielleicht? „Haben Sie Feinde, Herr Magerkort?“

„Feinde? Nein… Das würde keiner machen.“

Kämena verspürte einen heftigen Schmerz rechts unterhalb des Nabels. Der Blinddarm? Schon wieder was Neues. Dauernd hatte er was. Er wußte, daß seine Kollegen seine Krankheiten zählten, im Augenblick waren sie bei fünfunddreißig angekommen, und von ihm behaupteten, er hielte sich allein durch seine Krankheiten gesund. Dabei sah er aus wie das blühende Leben, braungebrannt, trotz der fünfzig Jahre kaum eine Falte im Gesicht, volle weiße Haare, wegen seines Charakterkopfes von vielen Leuten beneidet.

„… und wenn schon: die würden mir doch keine Briefe klauen!“ Magerkort monologisierte weiter. „Mir fehlt ja kein Pfennig von dem Geld, das ich eingenommen habe… Merkwürdig!“

Kämena fand es ebenfalls merkwürdig. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder hatte der Täter geglaubt, Magerkort würde eine größere Summe bei sich haben, oder er hatte verhindern wollen, daß ein von ihm geschriebener Brief den Empfänger erreichte. Eine Liebesgeschichte? Erpressung? Ein Geständnis? Aber warum um alles in der Welt war der Gute in diesem Fall nicht einfach zum Postamt gegangen, hatte seinen Ausweis vorgelegt, die Adresse des Empfängers aufgeschrieben und um die Herausgabe des Briefes gebeten? Das wäre doch anstandslos über die Bühne gegangen.

„Ich kann mir da keinen Vers darauf machen“, sagte Magerkort. „Wenn das so weitergeht – man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher…“

Kämena klappte sein Notizbuch zu. Sonderlich viel war bei Magerkort weiß Gott nicht zu holen gewesen. Sehr mager, Herr Magerkort… Ein Scherz vielleicht, eine alberne Wette? Oder vielleicht jemand, der die Briefe zu Hause öffnete, um zu sehen, ob sich eine Erpressung starten ließ? Immerhin eine Möglichkeit; in der Knochenhauergasse wohnten nicht die Ärmsten der Armen.

„… da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen“, sagte Magerkort.

„Macht nichts, Herr…“ Kämena drückte ihm die Hand. „Herr Magerkort. Und vielen Dank für Ihre Auskünfte. Wenn was ist, melden wir uns bei Ihnen. Tschüß dann! Und erholen Sie sich gut!“

Frau Magerkort geleitete ihn zur Tür.

Kämena war zu Fuß gekommen, also mußte er auch zu Fuß ins Stadt- und Polizeiamt zurückgehen, es sei denn, er nahm sich ein Taxi oder telefonierte nach einem Dienstwagen. Aber das erste war ihm zu teuer und das zweite zu mühselig. Also ging er die Wallanlagen entlang, obwohl seine beiden Hühneraugen brannten. An sich war es ein schöner Spaziergang – die vielen kleinen Enten, die Schwäne und die Amseln, die frische Luft – , aber die rechte Freude daran wollte sich bei ihm nicht einstellen, denn einmal waren ihm die Wallanlagen wegen der vielen kleineren und größeren Verbrechen unsympathisch, die hier regelmäßig des Nachts geschahen, und zum andern beneidete er die Rentner, Hausfrauen und Wermutbrüder, die sich auf den Bänken sonnten, während er Dienst schieben mußte.

Seine Laune wurde auch nicht besser, als sein engster Mitarbeiter, Kriminalmeister Stoffregen, zum Rapport erschien. Stoffregen, Mittelstürmer in der zweiten Mannschaft des TSV Bramme, robust und selbstbewußt, wollte mit seiner Freundin zum Essen und hatte es eilig.

„Keine Spuren am Tatort. Unter den Straßenpassanten und den Anwohnern keiner, dem was aufgefallen ist… Ich hab in der Knochenhauerstraße rumgefragt: keiner, der ‘n Brief erwartet hätte, der so einen Überfall rechtfertigen, eh… Ich meine, erklären könnte.“

„Und der Mann aus dem Kino?“

„Der hat nichts mehr gesehen. Ehe der die Wendeltreppe runter war… Ein alter Opa, wissen Sie – so zwischen siebzig und scheintot… Nur ein paar Geräusche, ein dumpfer Fall, hastige Schritte – nichts weiter. Er hat sich erst mal um den Briefträger gekümmert, ehe er auf die Straße gelaufen ist. Anschließend war’s zu spät.“ Stoffregen sah auf die Uhr.

„Nun gehn Sie schon essen!“ sagte Kämena. „Guten Appetit!“

„Danke, gleichfalls.“

„Ich mit meinem Magen…“

Kämena wartete, bis Stoffregen verschwunden war, dann machte er sich daran, seine Lottoscheine auszufüllen. 3, 13, 24, 38, 39, 41, Zusatzzahl 21. Endlich mal was gewinnen und den ganzen Scheiß hier vom Hals haben. Nun wieder dieser idiotische Überfall auf den Briefträger. Und das kurz vor der Wahl. Wenn er nicht rauskriegte, was dahintersteckte, würde Lankenau ihm wieder mal ganz schön die Hölle heiß machen. Hoffentlich wurde Trey neuer Bürgermeister, mit dem war auf alle Fälle besser Kirschen essen. Der Briefträger… Und dazu noch der dauernde Ärger mit diesem Armleuchter von Lemmermann, dem sie jede zweite Nacht die Scheiben einschmissen. Offensichtlich ein Irrer in der Stadt – fehlte bloß noch, daß der mal Amok lief. Aber an sich war’s schon ganz schön, daß der Lemmermann sich ärgerte. Was kam der auch nach Bramme zurück, um hier seinen Schweinkram zu verkaufen? Der hätte ruhig in Berlin bleiben…

Es klopfte.

„Herein!“

In der Tür stand Helmut Lemmermann.

Kämena starrte ihn an. Wenn man vom Teufel sprach…

„Ich darf doch wohl…?“ Lemmermann machte die Tür hinter sich zu und nahm auf einem der Besucherstühle Platz.

Kämena war baff. So was von Frechheit! Ein richtiger Playboytyp, dieser Lemmermann. Scheußlich!

„Hat Ihnen meine Sekretärin nicht gesagt, daß ich nicht gestört werden will?“ grunzte Kämena.

„Wenn Sie man woanders auch so energisch wären, Herr Kommissar! Dann hätten Sie sicherlich auch die Leute gefaßt, die mir dreimal in der Woche die Scheiben einschmeißen und meine Auslagen in Brand stecken… Ganz abgesehen vom Kuhmist.“

„Ganz schöne Reklame für Sie.“

„Wollen Sie damit sagen, daß ich…“

„Ich will gar nichts sagen. Ich sage auch nicht, daß bei uns in Bramme keiner gezwungen wird, einen Sex-Shop aufzumachen, und ich sage auch nicht, daß manche Leute das, was Sie anbieten, zu Recht abscheulich finden…“ Kämena geriet langsam in Fahrt. „Nein, Herr Lemmermann, ich sage nur: Sie haben ein Recht auf den Schutz Ihres Eigentums, so wie jeder andere Bürger auch, und wir tun unser Bestes, um den oder die Täter zu fassen. Es ist uns aber leider nicht möglich, Nacht für Nacht einen Beamten vor Ihrem Laden zu postieren. Und im übrigen – “ er warf einen Blick auf Lemmermanns Maßanzug – „scheinen Sie ja ganz gut versichert zu sein.“

„Ich halte durch, da können Sie sich darauf verlassen!“

Kämena hatte plötzlich bessere Laune, die kurze Auseinandersetzung mit Lemmermann wirkte auf ihn, als hätte er schnell hintereinander zwei Gläser Sekt getrunken. Jetzt mußte er Lemmermann nur noch kurz einen mitgeben. „Ich kann Ihnen nur einen guten Rat geben, Herr Lemmermann“, sagte er ganz ernsthaft. „Schlafen Sie im Laden und fassen Sie die Leute auf frischer Tat.“

Lemmermann wußte nicht gleich, wie er reagieren sollte, dann fühlte er sich doch veräppelt. „Sie kommen auch noch mal runter von Ihrem hohen Roß!“

Kämena konnte nichts mehr erwidern, denn das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und bellte: „Ja…?!“ Dann hellte sich sein Gesicht schlagartig auf, schwappte fast über vor Freundlichkeit. Buth war am anderen Ende der Leitung. „Pardon, Günther, ich… Ja… Ja… Geht in Ordnung… Nein, nein… Natürlich bin ich einverstanden… Verlegt auf Freitag abend… Meine Frau? Ach, Sie macht gute Miene zum bösen… Klar doch. Alles kann sie mir verbieten, aber der Skatabend ist tabu… Ja, bis Freitag dann. Mach’s gut!“