Mahlzeit!

Schon wieder wache ich auf, und die Frau ist weg – diesmal Anne. Nicht, dass mich das stören würde, aber in den vergangenen Tagen haben wir uns irgendwie arrangiert – was vielleicht auch daran liegt, dass sich Leonie an den schrulligen Herrn Béla und die Kinderbetreuung gewöhnt hat. Nicht nur das: Seit dem Eklat in der Therme versteht sie sich bestens mit dem kleinen Jungen, der ihr die Gießkanne klauen wollte – und mit seinen zig Geschwistern. Natürlich sind auch Obi, Paula und Paul in die neue Kindergang aufgenommen, sehr zur Freude aller Eltern.

So haben Anne und ich jetzt auch Zeit für uns – jeder für sich. Wie es sich für eine gute falsche Beziehung gehört, lassen wir dem anderen seine Freiheiten. Mein Einsatz bei der Schlägerei hat Anne offenbar doch ein bisschen imponiert, denn sie hat mir zum Dank gestattet, bei offenem Fenster zu rauchen. Nachdem ich dreimal an der Kippe gezogen hatte, musste ich sie ausdrücken. Nicht wegen der Feuermelder – sie hat mir einfach nicht mehr geschmeckt. Außerdem wollte ich auch Leonie nicht mit nach Rauch stinkenden Fingern über den Kopf streichen.

Anne wollte unbedingt ein paar Familienausflüge unternehmen, und ich habe mich darauf eingelassen. Biathlon mit ihr war ein Reinfall, weil ihre Kondition zu wünschen übrig ließ, Gletscherski war ihr zu gefährlich, und beim Paragliding hat sie so geschrien, dass der Lehrer sie abstürzen lassen wollte. Beim Familienkurs »Ein besserer Mensch durch afrikanisches Trommeln« bin ich vielleicht kein besserer Mensch geworden, aber auf jeden Fall ein besserer Trommler.

Langsam begreife ich auch das Prinzip der weiblichen Kriegsführung: Während das Weiche nachgibt, bricht das Harte. Anschließend geht das Weiche dem Harten wieder derart auf den Keks, bis das Harte, nun ja, selbst weich wird. Oder so. Oh nein, jetzt denke ich schon wie eine Spa-Broschüre.

Meinen Artikel habe ich trotzdem schon so gut wie fertig geschrieben. Ja, er ist böse. Ja, er wird Annes und meine Harmonie zerstören, die frisch erblühte Freundschaft zunichtemachen und Anne auf lange Sicht traumatisieren. So ist das Leben.

Deshalb werde ich ihr heute die Wahrheit sagen, über die Halbtagsstelle, die »betriebsbedingt gekündigt« wird, und über meinen Geheimauftrag – auch wenn das am Ende bedeutet, dass ich ein Einzelzimmer »Bei Anton« nehmen muss.

Ein Klopfen reißt mich aus meinen morgendlichen Gedankenspielen. Verschlafen öffne ich. Vor mir steht Jeannie. Sie wirkt hektisch.

»Wo ist denn Ihre …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Ihre Begleiterin. Wo ist Ihre Begleiterin?«

»Wahrscheinlich mit der Kleinen in dem tollen Schrankklo.« Ich werfe einen vielsagenden Blick auf das leere Kinderbett.

Jeannie verliert keine Sekunde und zieht mich aus dem Zimmer.

»Das ist ein Notfall, kommen Sie mit!«

Oh nein. Hoffentlich hat Anne nicht wieder eine Schlägerei angefangen.

Wenig später stehe ich in der Lobby vor einer Menschentraube, die sich um das neongelbe Ledersofa drängt. Der Architekt, der weiter außen steht, wirft mir einen Blick zu, der mich das Schlimmste erahnen lässt. Wie ein Sanitäter dränge ich mich durch die Gäste. Tatsächlich: Auf dem Sofa liegt Leonie. Sie hat die Augen und den Mund weit aufgerissen. Der Schock fährt mir in die Glieder, mein Mund wird trocken, die Knie weich.

Oma Eisenstein sieht mich bedrückt an. »Ihre Frau hat gesagt, ich soll auf die Kleine aufpassen – sie mag doch die Gummimannle so gern und wollte immer weiteressen. Auf einmal ist sie ganz still geworden.«

»Vielleicht ein Zuckerschock«, vermutet ein Gast, als wäre das Ganze nur eine Art Erste-Hilfe-Übung. Auch die anderen Eltern und Kinder stehen apathisch herum, keiner kommt auf die Idee, Leonie hochzuheben.

»Warum tut denn keiner was?«, rufe ich.

Leonie streckt mir die Arme entgegen, scheint etwas sagen zu wollen. Ich nehme sie auf den Arm. Sie versucht Luft zu schnappen, aber ihrer Kehle entringt sich nur ein fiependes Keuchen.

»Wir können doch kein fremdes Kind anfassen, so ohne offizielle Genehmigung«, höre ich eine empörte Stimme in meinem Rücken. Leonies Gesicht färbt sich jetzt leicht lila. Keine Zeit zu diskutieren.

»Ihr steckt so ein Gummiteil in der Luftröhre!«, rufe ich.

Oma Eisenstein winkt ab. »Ich habe ihr schon auf den Rücken geklopft, aber das hat auch nichts gebracht.«

Hilflos starren mich die Mütter und Väter an. Geklopft? Bin ich denn nur von Idioten umgeben? Hat denn hier niemand Zivildienst gemacht? Leonie ringt nach Luft. Ich erinnere mich an meinen Erste-Hilfe-Kurs: Wenn einem etwas in der Kehle steckt, soll man ihn einfach richtig auf den Rücken hauen. Nicht klopfen.

Leonie sieht mich Hilfe suchend an, sie kriegt aber keinen Laut heraus. Ohne zu zögern, lege ich sie übers Knie, sodass ihr Kopf nach unten zeigt, und haue ihr kräftig mit der flachen Hand auf den Rücken, einmal, zweimal, relativ hart hintereinander, dreimal. Die anderen Gäste starren mich an, als würde ich in ihrer Mitte mein Kind verprügeln. Aber Erste Hilfe muss auch von zärtlichen Eltern konsequent durchgeführt werden. Es ist nur zu Leonies Bestem.

Beim vierten Schlag hustet sie einen glänzenden murmelgroßen Gummiklumpen auf den Teppich. Sie holt tief Luft und fängt sofort an zu husten, bevor ihr die Tränen aus den erschrockenen Augen kullern.

Ihre Gesichtsfarbe ändert sich schlagartig von lila zu rot, während ich in Boxershorts und Schlaf-T-Shirt auf dem Sofa sitze und die Kleine ganz vorsichtig in den Arm nehme. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, schießen auch mir die Tränen in die Augen. Ich stecke meine Nase in Leonies Löckchen. Okay, vielleicht muss Anne ihr demnächst die Haare waschen, aber für mich riecht selbst die leichte Magginote vertrauter, als jemals ein Wesen zuvor gerochen hat: ein bisschen wie ich, nur süßer.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Mr. Perfect durch den Windfang gehen. Er schaut von Leonie zu mir, sein Blick wechselt ins Spöttische.

»Hat sie dich gehauen, oder warum heulst du?«

Ich wische mir verschämt die Tränen aus den Augen. »Blödsinn. Wo ist Anne?«

»Keine Ahnung, sie läuft ihr Tempo, ich laufe meines – wie in jeder guten Beziehung.« Was für ein Idiot! Ich lache abfällig. Er schaut mich und Leonie an, die sich an meine Schulter drückt.

»Sei bloß lieb zu deiner Tochter.«

»Sei du vielleicht mal für die Kleine da!«

Aber Mr. Perfect dreht sich um und lässt uns in der Lobby sitzen. Ich sehe ihm kopfschüttelnd hinterher.

»Keine Sorge«, flüstert jemand hinter mir. Ich drehe mich um. Dort steht der Architekt. Seit der Schlägerei in der Therme habe ich kaum mit ihm gesprochen. »Ich kann schweigen wie ein Grab«, raunt er mir zu.

Ich sehe ihn überrascht an. Ist meine Tarnung aufgeflogen? Was weiß er? Und woher? Der Architekt sieht mir nicht in die Augen, sondern starrt verlegen auf meine Brust.

»Eines würde mich aber interessieren«, fährt er fort.

Ich drehe neugierig meinen Kopf zur Seite.

»Aber natürlich geht mich das nichts an. Ich will ja auch gar nicht indiskret sein.«

Verdammt, er weiß es. Aber woher? Hat Leonie ihr Geheimnis Obi anvertraut? Hat Anne im Schönheitsschlaf auf der Spa-Liege geplaudert? Ist ja auch egal. Wenn er weiß, was ich vorhabe, können Anne und ich eh unsere Koffer packen. Irgendwie bin ich sogar ein bisschen erleichtert, dass die ganze Sache endlich vorbei ist.

»Fragen Sie nur.«

»Wer von Ihnen beiden ist … nun ja?« Ich sehe ihm in die Augen. Darin erkenne ich einen Funken Unsicherheit.

»Wer ist was?«, frage ich.

Jetzt reißt sich der Architekt zusammen. Er deutet in die Richtung, in die Mr. Perfect verschwunden ist. »Wer von Ihnen beiden ist der Mann?« Er macht eine Pause, sammelt all seinen Mut zusammen: »Und wer ist die Frau?«

Mir entgleisen die Gesichtszüge. Das kann doch nicht wahr sein: Der Kerl glaubt, Mr. Perfect und ich wären ein Paar! Während mein Gegenüber durch meinen offenen Mund die Architektur meines Rachens analysiert, erinnere ich mich an unseren Saunatag. Der Bademeister hat davon gesprochen, dass sich »zwei Schwule« in einer Sauna vergnügt hätten. Als der Architekt kam, um uns zur Schlägerei zu holen, muss er Mr. Perfect und mich schwer beschäftigt und atemlos in der engen Sauna gesehen haben.

»Sie irren sich«, entgegne ich erleichtert.

Der Architekt lächelt. »Ist schon okay. Und, na ja, der Bruder Ihrer Frau sieht auch wirklich sehr gut aus, für einen Mann.«

Zum Glück kommt in diesem Moment Anne durch die Tür. Leonie rennt ihr mit ausgestreckten Armen entgegen, um gleich noch mal getröstet zu werden. Anne ist mächtig verschwitzt, die Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Sieht gar nicht so schlecht aus.

Sie trägt Leonie, die sich an ihren Hals presst, zu uns, aber die Kleine will sich gar nicht beruhigen lassen.

»Ist irgendwas passiert?«, will Anne wissen.

Ich schüttele den Kopf. »Sie hatte sich verschluckt, und zwar richtig.«

Anne sieht ihre Tochter verwundert an.

»Schwuli!«, fordert Leonie mit Babystimme.

Der Architekt grinst. Sein Blick sagt: Hab ich es doch gewusst!

Den Schnuller habe ich vorhin natürlich nicht eingesteckt. Ich deute mit dem Zeigefinger nach oben.

Anne nickt.

»Wir müssen mal eben den Schwuli holen, sonst beruhigt sie sich gar nicht mehr.« Mir bleibt nichts anderes übrig, als ebenfalls zu nicken.

Als Anne weg ist, stehe ich plötzlich ganz allein mit dem Architekten in der Lobby. Er schlägt mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Einige meiner besten Freunde sind schwul.«

Dann lässt er mich so schnell wie möglich wieder los und flieht zum Essen. Am besten, ich betreibe beim Oberjuror erst mal Schadensbegrenzung. Vielleicht hat der Psychologe ja auch eine Idee, wie ich dieses Gerücht aus der Welt schaffen kann.

»Wie geht es dem Freund, von dem Sie neulich erzählt hatten?«, will Ainberger wissen.

»Die Leute denken, er sei schwul.«

Er sieht mich über seine Brille hinweg an. »So ein spätes Outing kommt öfter vor«, erklärt er mir. »Manche Männer führen jahrelang Scheinehen, und irgendwann werden sie mit einem Kumpel in der Sauna erwischt. Da denkt niemand an die Spätfolgen für unsere Kinder.« Er schaut mich eindringlich an.

»Aber er ist nicht schwul!«, insistiere ich.

Der Psychologe nickt nachdenklich und schaut wieder über seine Gläser ins Leere. »Natürlich ist er das nicht.«

Beim Frühstück setze ich mich zwischendurch zu Stanley Fröhlich und seiner Familie. Als die Kinder und seine Frau Nachschub am Büfett holen, befrage ich ihn zum neuesten Hotelflurfunk. Stanley ist sogar richtig erleichtert, dass ich ihn darauf anspreche.

»Es geht das Gerücht um, dass Anne bloß eine Leihmutter sei.« Seit der Schlägerei in der Therme gelten Mr. Perfect und ich als heimliches Männerpaar. Aber da moderne Eltern ja generell tolerant sind, hat mich bisher niemand darauf angesprochen.

Die große Langeweile mit Kind führt zu Verleumdungen und Rufmord. Ein weiterer Punkt für meine Reportage: Vielleicht unterstelle ich den Familien auch noch Schwulenfeindlichkeit – wegen nicht auf Zeugung ausgerichteten Geschlechtsverkehrs oder so. Klingt fies katholisch.

»Und was denkst du?«, frage ich Stanley.

»Mir ist das so egal wie zweisprachige Elterninitiativen. Es gab mal eine Zeit, da habe ich in einem Klub gearbeitet, wo Männer sich gegenseitig …« Ich winke ab, so genau wollte ich das auch wieder nicht wissen.

Anne scheint nach dem Joggen bester Laune zu sein. Als wir gefrühstückt haben, bitte ich sie, noch einen Moment sitzen zu bleiben. Wenn ich ihr hier in aller Öffentlichkeit von Dr. Schades teuflischen Plänen berichte, flippt sie hoffentlich nicht ganz so schlimm aus. Leonie sitzt da und rührt versonnen in ihrem Kindermüsli.

»Ich muss da noch etwas mit dir besprechen.«

Anne schaut überrascht. »Hast du Leonie nach dem Wickeln mit Rheumasalbe eingecremt?«

Ich schüttele den Kopf.

»Ins Bidet gepinkelt?«

Die hat ja eine Phantasie – was denkt die denn von mir?

Jetzt schüttelt sie entsetzt den Kopf und schaut mich voller Abscheu an. »Du hast nicht mit einer der hoteleigenen Milchpumpen masturbiert und dich dabei verletzt?«

»Nein!«, entgegne ich entrüstet.

»Wenn es schon wieder um Leonhardt geht, dann regelt eure Angelegenheiten bitte allein.«

Ich schüttele den Kopf, schaue auf meinen Teller, auf die Eierschalenreste, die Marmelade, die Obstschalen. Aber die helfen mir auch nicht. Also nehme ich all meinen Mut zusammen und sehe Anne an. Sie erbleicht.

»Herr Dr. Schade!«, stellt sie fest.

Ich nicke. »Genau.«

Doch Anne starrt nur über meine Schulter in Richtung Nachbartisch.

»Mein Auftrag …«, beginne ich, aber ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hat Anne hinter mir soeben einen Yeti erblickt. Ich drehe mich um. Da steht mein Chef und schaut so erfreut, als hätte er mir seit zehn Minuten mit Zeige- und Mittelfinger unbemerkt Hasenohren an den Hinterkopf gehalten.

»Haben Sie mich erwartet?«, fragt er mit jovialem Grinsen und wuschelt Leonie durch die Löckchen. Die zieht Sicherheitshalber ihr Kindermüsli zu sich heran und legt die Arme darüber.

Anne bringt ihre entgleisten Gesichtszüge wieder unter Kontrolle, indem sie in ein Schokocroissant beißt.

»Wir denken ständig an Sie«, lügt sie mit vollem Mund. Schade ist entweder zu gut gelaunt oder zu abgebrüht, um ironische Zwischentöne herauszuhören.

»Entschuldigen Sie bitte: Was machen Sie hier?«, will ich wissen. »Wir haben alles im Griff!«

»Darf ich mich setzen?«, fragt Schade und nimmt Platz. Leonie zieht ihr Kindermüsli noch näher an sich heran und mustert Schade argwöhnisch.

»Ich habe Sie telefonisch nicht erreicht«, sagt mein Chef, während er Anne und mich vorwurfsvoll ansieht. »Nach meinen letzten Informationen wollen Sie, Caspar, sich um das Familienthema drücken.« Anne verschluckt sich. Ich haue ihr gern auf den Rücken.

Schade fährt fort: »Da habe ich beschlossen, Sie nach besten Kräften zu unterstützen.«

Ich glaube ihm kein Wort. Wahrscheinlich will der mich einfach kontrollieren. »Wollen Sie die Geschichte jetzt selbst schreiben? Dazu gibt es keinen Anlass, unsere Recherche geht gut voran, das sehen Sie ja.«

Ich erzähle meinem Chef von unseren Abenteuern und dem Ziel, den Bubsi in Platin zu gewinnen. Dabei wische ich Leonie wie zum Beweis mit meiner Serviette über den Mund. Sie streckt die Arme aus.

»Bitte Schoß.« Den Wunsch erfülle ich ihr nur zu gern. Kaum sitzt sie auf meinen Oberschenkeln, pupst Leonie so laut, dass wir alle überrascht auf das kleine Kind schauen, aus dem so große Töne kommen. Von Leonies Windel zieht ein Gestank nach oben, der mir augenblicklich den Appetit verdirbt. Herr Schade schaut angeekelt. Leonie seufzt erleichtert. Ich tätschele ihr den Kopf.

»Hast du ein großes Konzert gemacht?«

Leonie nickt schüchtern und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. Ich sehe zu meinem Chef hinüber. Der starrt mich so irritiert an, als hätte ich soeben mein Haar aus der Stirn gestrichen und dort ein drittes Auge präsentiert.

Anne dagegen platzt vor Stolz über ihre bisherige Missionierungsarbeit.

»Die Leonie macht ihr großes Konzert jetzt nur noch, wenn Caspar dabei ist.«

Schade schüttelt den Kopf, als wollte er das alles nicht wahrhaben.

Anne nimmt die stinkende Leonie von mir herunter und verschwindet zum Wickeln aufs Zimmer. Nun bin ich allein mit meinem Chef.

»Haben Sie sich etwa einlullen lassen?«, will er im Verschwörerton wissen.

Ich schaue ihn so entsetzt wie möglich an und lache so laut, dass alle Gäste zu mir herübersehen.

Herr Schade nimmt sich die letzte Minirosinenschnecke aus dem Brotkorb. »Ich habe Verstärkung mitgebracht!« Er deutet hinter sich.

Zwei Tische weiter sitzt Redaktionspraktikantin Nadine, meine Stalkerin. Sie winkt, ich nicke ihr zu. So ausgebucht, wie das Hotel ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass Nadine ein Einzelzimmer hat.

Schade murmelt mit vollem Mund: »Ich habe hier in der Gegend beruflich zu tun. Da habe ich gedacht, wir könnten Ihnen zuarbeiten. Acht Augen sehen mehr als vier.«

»Leonie hat auch Augen.«

Schade fegt den Einwand mit einer wegwerfenden Handbewegung zur Seite. »Aber das hier haben Sie offenbar nicht gesehen«, stellt er fest und legt einen Flyer auf den Tisch. Darauf sehe ich einen Steinzeitmenschen und den Schriftzug »Ötzi-Paleo-Cup«. Das Plakat dazu ist mir doch gleich am ersten Tag aufgefallen. Aber dann habe ich mich wohl irgendwie daran gewöhnt.

»Ich glaube, Sie müssen nach so langer Zeit in diesem Familienzoo mal wieder raus in die freie Wildbahn.« Schade nimmt sich meinen Cappuccino und spült damit den Rest der Rosinenschnecke hinunter. »Ich habe genau das Richtige für Sie, um nicht in diesem Wellnessplüsch zu versinken.«

Oh nein. Nicht schon wieder so ein Überraschungsauftrag vom Chef. »Das ist wirklich nicht nötig. Außerdem kann ich gerade nicht weg, ich muss heute Abend einen Karatekurs geben. Recherche!«

»Da bin ich dabei«, erklärt Herr Schade. »Ich habe früher auch mal Karate gemacht.«

Ich schaue meinen Chef fragend an. Das wird ja immer wilder! Er ballt die linke Hand zur Faust und streckt seinen Arm in einem Schlag, der erst wenige Zentimeter vor meiner Nase zum Stehen kommt. »Die Sache ist bloß: Es gibt nur eine Ganztagsstelle. Für drei Bewerber.«

Der will mich wohl auf den Arm nehmen? Ich hätte Lust, ihm hier und jetzt ein bisschen Karate beizubringen. Stattdessen beuge ich mich vor, um ihm meine Wut entgegenzuflüstern: »Sie hatten gesagt, ich bekomme diese Stelle. Deshalb mache ich das alles doch überhaupt nur.«

Schade schaut durch mich hindurch. »Entscheidung auf Verlagsebene: Medienkrise, Einsparungen, auch wir sind davon betroffen. Ich bin selbst nur Befehlsempfänger.«

»Und wer sind die drei Bewerber?«

»Sie als Nachtlebenkolumnist, Anne als Frauenspezialistin.« Er deutet wieder mit dem Daumen hinter sich. »Die besten Karten hat gerade Nadine als Jungredakteurin. Die käme uns nämlich am günstigsten.«

»Aber das ist doch meine Stelle?«

Schade ignoriert den Einwand und erzählt mir, dass er schon eine Idee hat, die mich wieder ganz vorn ins Rennen um die begehrte Stelle bringt.

Ich mustere ihn. »Egal, was Sie hier im Hotel gehört haben, ich gehe nicht mit Ihnen ins Bett.«

Er schaut verwundert und winkt angeekelt ab. Ich atme auf.

»Folgendes!«, beginnt Schade und erzählt, dass der »Münchner« als einzige deutsche Zeitschrift einem neuen Trend auf der Spur sei: »Paleo« kommt aus Amerika und nimmt den Zurück-zu-den-Wurzeln-Gedanken sehr wörtlich. In New York robben Manager halb nackt durch den Central Park, essen Beeren und Käfer, schleppen Baumstämme und rennen, als wäre ein Mammut hinter ihnen her.

Ursprünglich war »Paleo« als Diät- und Ernährungskonzept gedacht: rohes Fleisch und Gemüse. Eine bekannte PR-Managerin griff den Trend im Ötztal auf, kombinierte »Paleo« mit Lokalhistorie und erfand den »Ötzi-Paleo-Cup«. Dessen Teilnehmer sollen in Tierfellen durch die Ötztaler Alpen zum Tisenjoch laufen, wo Ötzi gefunden wurde. Von dort geht es zurück bis zum Fuß des Niederjochferners, in die Nähe der Ortschaft Vent, wo das Hotel »Zum Wilden Mannle« liegt, das als Sponsor fungiert. Am Ziel stehen die Erkenntnis, dass wir auch mit weniger auskommen, und eine Gratiswoche im »Wilden Mannle«. Die will ich auf gar keinen Fall gewinnen.

»Der Job ist wie gemacht für Sie, Hartmann«, schließt mein Chef. »So erleben Sie noch mal ein richtig männliches Kontrastprogramm zu diesem Rosa-Wolken-Mist hier.«

»Ötzi ist erfroren«, gebe ich zu bedenken.

Doch Schade schüttelt nur den Kopf. »Er starb an gebrochenem Herzen.«

Ich schaue ihn überrascht an.

»Späßle!« Herr Dr. Schade grinst über beide Ohren. »Aber immerhin Pfeilschuss.«

Er ist jetzt derart in Motivationslaune, dass seine Wangen leuchten. Wie die von Leonie, wenn sie ein Gummimannle kriegt.

»Danach werden Sie sofort wieder der Alte sein – kein Kerl, dem sich Kinder auf den Schoß setzen, wenn sie kacken müssen.«

»Und was ist mit Anne?«, will ich wissen.

»Die kommt doch sowieso bald unter die Haube. Dann kriegt sie ihr zweites Kind, geht in Elternzeit und kommt nicht mehr zurück. Die Halbtagsstelle ist dann eh vergessen. Habe ich schon tausendmal erlebt.«

Ich schaue mich nach Anne um. Sie ist nirgends zu sehen. Wahrscheinlich sperrt sie gerade Mr. Perfect in seine Suite ein.

Ich mustere meinen Chef ausgiebig. Er trägt die Schuld daran, dass ich überhaupt hier bin. Wenn er wollte, hätte er mir die Nachtlebenkolumne längst geben können. Stattdessen hat er Anne hintergangen, mich verraten und mir die Stalkerin ausgespannt. Als ich das letzte Mal einen Job von ihm angenommen habe, bin ich hier gelandet.

Ich schüttele den Kopf. »Tut mir leid, ich kann hier nicht weg. Sobald mein Artikel fertig ist vielleicht.« Ich lege eine rhetorische Pause ein, um dann mit einem Zitat von ihm fortzufahren: »Bis dahin gilt: First comes first.«

»Sure«, entgegnet Schade. »Aber der Ausflug passt thematisch gut zu dieser Geschichte hier.« Er macht eine allumfassende Handbewegung. »Schließlich hat die Pressefrau des Hauses die Wanderung organisiert. Das heißt, Sie kriegen für Ihre Teilnahme bestimmt wieder Fleißsternchen, die auf Ihren Pupsi angerechnet werden.«

»Bubsi«, korrigiere ich automatisch, horche aber innerlich auf.

Endlich ein Lebenszeichen von Adoré. Sie ist gar nicht vor mir geflüchtet, sondern musste einfach arbeiten. Auf dem Event könnte ich sie endlich wiedersehen und die ganze Sache mit Anne aufklären. Wenn ich dazu noch gewinne, wird sie mir bestimmt eine Medaille umhängen. Dabei muss sie ihre Hände um meinen Kopf legen, dann wird sie mich zu sich heranziehen, und wenn wir uns erst küssen, wird sie erkennen, dass wir einfach zusammengehören. Die große Versöhnung, das Happy End.

Vor lauter Träumerei habe ich gar nicht mitbekommen, dass Mr. Perfect und Anne jetzt neben uns am Tisch stehen. Offenbar hat Anne versucht, ihn davon abzuhalten, aber er ist, nun ja, stärker.

»Ich kenne den Begründer der Paleo-Bewegung«, rückt er sich ins Gespräch. »Unsere Kette ›Mr. & Mrs. Perfect‹ hat eine Ernährungskooperation mit seinem Unternehmen. Ich kann euch alles darüber erzählen.« Er setzt sich an den Tisch und stellt sich als Leonies Patenonkel vor, der hier »zufällig gerade Urlaub macht«. Seltsamerweise scheint Herr Schade das zu schlucken, vielleicht weil Mr. Perfect gleich fortfährt: »Die Idee, Paleo im Ötztal zu platzieren, ist genial. So können die Themen Nachhaltigkeit, Familie und Gesundheit mit historischem Lokalkolorit aufgeladen werden. Und Paleo bekommt endlich ein bekanntes Gesicht.«

Herr Dr. Schade wirkt interessiert. »Die Teilnehmer laufen in Dreierteams«, liest er vom Flyer ab.

Mr. Perfects Blick hellt sich auf.

»Vielleicht sollten Sie Caspar begleiten«, schlägt Schade vor.

Mein Erzfeind grinst noch etwas breiter. »Dann kann ich ihn tragen, falls er umfällt.«

Herr Schade schaut überrascht, fragt aber nicht nach.

»Jetzt müssen wir nur noch einen dritten Mann finden, und schon ist die Sache geritzt.« Anne hebt zaghaft den Finger.

»Einen dritten Mann«, erklärt Dr. Schade. »Die Tour wird kein Kinderspiel, auch wenn das nicht die Originalstrecke ist: Gewandert wird zwei Tage – im Originaloutfit von Ötzi: also Felle, Leder und Ranken statt Schnürsenkel. Das ist nichts für Frauen.«

Mr. Perfect wendet sich an Anne. »Bleib du besser mit der Kleinen hier, Schat. . . äh . . . Schwester. Ist sicherer.« Auch Herr Schade besteht darauf, dass Anne und Leonie im Hotel bleiben – schon aus Versicherungsgründen.

»Aber ich brauche Caspar doch für unsere Geschichte«, wendet meine Kollegin ein. »Er ist gerade auf dem Weg, sich zu öffnen, da sollte er bei seiner Familie sein.«

»Lass die Männer mal auf Heldenreise gehen«, säuselt Nadine, die nun auch an unseren Tisch gekommen ist. »Wir bleiben einfach hier und machen uns mit Leonie einen richtig schönen Mädelsabend. Muss auch mal sein.«

Anne schaut sie an, als hätte Nadine ihr gerade vorgeschlagen, Leonie mit dem stumpfesten Zacken der Kindergabel Piercings zu stechen.

»Uns wird bestimmt nicht langweilig«, verkündet Nadine mit einem Seitenblick zu mir. »Ich kann dir ein paar Dinge über deinen Ehemann verraten, die dich bestimmt interessieren.« Sie schaut mich an, als wäre ich ein Mafiaboss, der ihr Leben ruiniert hat. »Ach ja, neuerdings ruft mich immer so ein Kerl an und will sich unbedingt mit mir treffen. Er redet von nichts anderem als seinem zweiten Kind, das in einem halben Jahr auf die Welt kommt. Ich frage mich, woher der meine Handynummer hat.«

Ich schüttele erstaunt den Kopf. »Da musst du echt aufpassen. Dort draußen laufen jede Menge Verrückte herum.«

Leonie, die unterdessen immer unruhiger geworden ist, fängt jetzt an zu weinen. Anne steckt ihr einen Schnuller in den Mund und steht auf. »Was wolltest du mir eigentlich vorhin erzählen?«, fragt sie.

»Ach«, winke ich ab. »Ist nicht so wichtig. Das erkläre ich dir, wenn wir wieder da sind.« Kaum habe ich den letzten Satz beendet, wünschte ich, jemand hätte mir rechtzeitig einen Schnuller in den Mund gestopft.

Anne geht demonstrativ zum Büfett, um sich noch »ein bisschen Familienglück« zu holen, Nadine läuft hinterher, weil sie wahrscheinlich noch nicht weiß, dass es nur ein Dessert ist.

»Frauen!«, schnauft Mr. Perfect, als die beiden außer Hörweite sind.

Kaum haben wir wieder etwas mehr Platz am Tisch, kommt Stanley vorbei. Er wirkt ganz aufgeregt, will sich nicht wegschicken lassen und breitet ungefragt ein Blatt Papier auf dem Tisch aus. Darauf hat er Zeichnungen und Symbole gemalt, die mich an Höhlenmalereien erinnern. Er hat endlich seine neuen Tatoos entworfen: »Neusteinzeitliche Glyphen, die mich immer an das Ursprüngliche und Wilde in meinem Leben erinnern«, schwärmt er mit leuchtenden Augen.

Mit einem Mal wird ihm bewusst, dass wir nicht allein am Tisch sitzen. Ich stelle ihm Herrn Dr. Schade vor, aber Stanley ist in seinem Eifer nicht mehr zu bremsen.

Er erzählt mir, dass er neben seiner Beamtentätigkeit immer noch genug Zeit hat, um auf LARPs zu fahren, Live Action Role Playings: Offenbar ist er einer von den Jungs, die den Sommer über von Mittelaltermarkt zu Mittelaltermarkt ziehen, um mit der Familie in Fellzelten zu schlafen, in authentischer Kleidung am Lagerfeuer über die korrekte Form von Gürtelschnallen zu fachsimpeln und abends im Waschzuber die Frauen mit Minnegesang zu betören.

Mr. Perfect, Schade und ich wechseln einen Blick. Stanley ist genau der richtige dritte Mann für unsere Tour. Wir bestellen ihm erst mal einen Tee zur Beruhigung und erklären ihm den Plan. Stanley sagt sofort zu. Er kennt »Paleo«, allerdings »eher vom kulturhistorischen als vom sportlichen Aspekt«. Nach seinem Einsatz in der Therme mache ich mir um seine Widerstandsfähigkeit aber keine Sorgen.

Aus dem Flyer liest uns Schade die Details der Wanderung vor: »1552 Höhenmeter, zunächst leichter Alpinweg, Kletterei, gute Kondition und Ausdauer sowie Bergerfahrung erforderlich, in 3600 Meter Höhe erwartet uns der Similaun mit seiner eisigen Nordflanke. Fünf Stunden hin – drei Stunden zurück.«

Weil Mr. Perfect und Stanley nicken, schließe ich mich an.

»Tierfelle und authentische Ausrüstung bekommt ihr vor Ort vom Veranstalter«, erklärt mein Chef und empfiehlt dazu dicke Socken, gute Schuhe und Thermounterwäsche. »Die Felle sind nur für das Ötzi-Feeling.«

Worum ich mir viel mehr Gedanken mache, ist das Feeling zwischen Mr. Perfect und mir. Wahrscheinlich werden wir in den Bergen bei jeder Gelegenheit versuchen, uns gegenseitig von den Gipfeln zu schubsen.

Oder wir erledigen die Sache jetzt gleich, bei meinem Karatekurs.

Damit die Teilnehmer auch wissen, worauf sie sich einlassen, habe ich in der Frühstückspostille ein Bekenntnis zur Männlichkeit verfasst, gespickt mit Zitaten aus meinem Artikel. Es prangert die Verweichlichung des neuen Mannes an und fordert die ganzen Kerle heraus – in diesen Trainingsraum. Selbst Anne und Leonie habe ich gebeten, nicht zu stören. Schließlich möchte ich nicht, dass Leonie Angst kriegt, falls mir beim Bruchtest ein Kampfschrei herausrutscht.

Mit dem Päckchen meiner Mutter verschwinde ich um halb drei im Materiallager hinter dem Yogaraum und ziehe mich im Halbdunkel zwischen Gesundheitsbällen, Schaumstoffklötzen, Gurten und Decken um. Das Gefühl der schweren Baumwolle des Gi auf meiner Haut erinnert mich an die Kämpfe, die ich in diesem Anzug ausgefochten habe – vor allem mit mir selbst.

Noch ist allerdings keiner da. Um Viertel vor drei öffnet sich die holzverkleidete Tür einen Spalt. Endlich! Der Architekt steckt seinen Kopf herein, gehüllt in einen schwarzen Trainingsanzug mit hochgeklapptem Kragen. Er sieht mich musternd an. Ich winke ihm zu – nur keine Scheu.

Anstatt hereinzukommen, schaut mich der Architekt skeptisch an, schüttelt den Kopf und verschwindet wieder. Von nun an öffnet sich die Tür erst im Zweiminuten-, dann im Minutentakt, und schließlich stecken alle dreißig Sekunden potenzielle Teilnehmer den Kopf herein. Um kurz nach drei höre ich aufgeregtes Kichern vor der Tür. Ich öffne.

Dort stehen etwa zwanzig Männer, Frauen und Kinder, die bei meinem Anblick erschrocken »Huch!« rufen, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Unter ihnen erkenne ich Stanley, den Architekten und sogar meinen Chefredakteur. Sie alle tragen Trainingskleidung, aber keiner von ihnen scheint den letzten Schritt in den Raum wagen zu wollen. Meine meditative Grundstimmung ist mit einem Mal dahin wie ein Ziegelstein nach der Begegnung mit Bruce Lee. Die Leute fangen an, sich im Scherz zu hauen. Dabei rufen sie mit tuckig verstellten Stimmen: »Aua!« oder: »Hallöchen, Popöchen!« Frauen hauen ihren Männern affektiert mit der Handkante auf den Hintern, und selbst die Kleinen, die noch weit entfernt sind von Aufklärungslektüre und noch weiter weg vom Christopher Street Day, geben sich tuntig. Nichts gegen Schwulenwitze, aber der ganze Zauber nur wegen eines Gerüchts in der Therme?

»Was soll denn das?«, schimpfe ich, werde aber einfach weiterhin ausgelacht.

Mein Chef kommt auf mich zu. Endlich ein seriöses Gesicht. Mit ausgestreckten Armen und der natürlichen Autorität einer Respektsperson gebietet er Ruhe. In seinem Gesicht allerdings zucken die Mundwinkel. Als endlich Stille eingekehrt ist, fragt er mich mit hoher Stimme und gespieltem Lispeln: »Kann ich pei Ihnen lernen, wie man Purchen zu Poden chleudert?«

Eine Lachsalve überrollt mich, die Leute keuchen, japsen nach Luft. Sogar der Architekt wälzt sich in einer Art epileptischem Lachanfall am Boden.

Am Ende des Flurs sehe ich Anne und Mr. Perfect mit Leonie in ihrer Mitte in Richtung Spa-Bereich flanieren. Hätte mir ja denken können, dass er nicht in einen Kurs kommt, den ich leite.

Als sie das Lachen hören, drehen sie sich zu mir um, stutzen und kommen näher. Mr. Perfect schaut mich an wie einen Außerirdischen und bricht ebenfalls in brüllendes Gelächter aus. Leonie stimmt ein, selbst Anne kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie kommt auf mich zu, stellt sich neben mich und rückt uns direkt unter einen Scheinwerfer. Dann legt sie mir einen Arm um die Schultern. Ihr Bademantel strahlt deutlich weißer als mein Karateanzug. Wenn ich meinen Baumwollstoff so direkt neben ihrem Frottee sehe, schimmert mein Anzug eindeutig rosa. Offenbar hat meine Mutter ihn verwaschen, sich aber gedacht, dass der leichte Rosétouch entweder modern rüberkommt oder gar nicht auffällt.

Anne pfeift auf zwei Fingern so laut, dass es das Gegacker im Flur übertönt. »Alle mal herhören«, kommandiert sie mit lauter Stimme. Das Lachen verstummt. »Caspar hat versehentlich Leonies rote Socken mit in die weiße Wäsche getan und seinen Karateanzug verwaschen.« Erstaunte Gesichter. Anne räuspert sich. »Ich finde es schade, dass ihr einen emanzipierten Mann auslacht, der seiner Frau die Hausarbeit abnehmen möchte.« Die Gesichter der anderen Frauen auf dem Flur werden sofort ernst. Ein paar stupsen ihre feixenden Männer vorwurfsvoll an.

»Was glaubt ihr, wie das für mich ist, wenn ich eure blöden Sprüche höre, ich sei nur eine Leihmutter oder so? Glaubt ihr, ich kriege das nicht mit?« Sie macht eine kurze Pause und schluckt. Wusste gar nicht, dass Anne so eine gute Schauspielerin ist. Jetzt rettet sie uns zumindest die Tarnung. Denn die eben noch so hämischen Gäste schauen nun betreten aus der Wäsche. Ein paar murmeln verlegen: »Stimmt.« oder »Ist ja gut.«

»Wollt ihr nun trainieren oder nicht?«, fragt Mr. Perfect, und man hört ihm an, dass er diese Frage nicht zum ersten Mal stellt.

Ich deute mit dem Arm einladend in Richtung Trainingsraum. Mr. Perfect macht den Anfang, die anderen Männer folgen, und die Mütter und Kinder verabschieden sich. Anne nimmt Leonie an die Hand und winkt zum Abschied.

»Bis heute Abend, Schatz«, sagt sie mit kokettem Grinsen. Dann verschwinden die beiden um die Kurve hinter einer bunten Glastür mit der Aufschrift »Familienparadies«.

Als ich den Trainingsraum betrete, hält mir mein Chef eine dunkle Trainingshose und ein weißes T-Shirt hin. Wenig später schleudere ich den Burschen zu Boden.

Nach diesem Befreiungsschlag läuft der Kurs besser, als ich gedacht habe. Klar, das sind keine Profis, aber ich kann ihnen ein paar Schläge und Tritte beibringen, wir kommen alle ordentlich ins Schwitzen, und selbst Mr. Perfect ist eifrig bei der Sache. Vielleicht ist er doch kein so schlechter Kerl, wenn er auch manchmal den Abstand nicht richtig einschätzt und mir den einen oder anderen Schlag verpasst. Die beste Figur aber macht mein Chef, der offenbar nur ein paar Gürtelstufen unter mir liegt. Er kann auch ein paar Schläge in die Bauchgegend locker wegstecken.

In den Verschnaufpausen fragen wir gemeinsam nach den Nöten und Ängsten der anderen Männer. Sie schütten uns genauso rücksichtslos ihr Herz aus, wie ich mir das gewünscht habe. Einer der Iren unternimmt zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder etwas allein, ein anderer ist froh, endlich mal seine Energie loszuwerden, weil er seit einem halben Jahr keinen Sex mehr hatte. Der Architekt reißt plötzlich Frauenwitze, Stanley Fröhlich zeigt seine Tattoos, ein rothaariger Mittdreißiger schlägt vor, »so was regelmäßig zu machen«, und sein Kumpel, ein Brillenträger, gesteht mir mitten im schönsten Sparring, dass er jede Nacht von seiner Jugendliebe träumt: eine Gala der verpassten Lebensentwürfe. Eigentlich sollte man all diesen Männern zur Scheidung raten. Das werde ich auch machen – in meinem Artikel.

Nach dem Training sind alle Vorbehalte gegenüber mir oder Mr. Perfect wie weggeblasen. Mein Chef bietet mir sogar das Du an. Die Nachtlebenkolumne rückt wieder näher.

Abends im Bett bittet mich Anne, Leonie etwas von der Reise mitzubringen, nur eine Kleinigkeit. »Ein guter Vater macht so etwas.«

Die ist ja lustig. Ich glaube nicht, dass ich zwischen Geröllfeldern und Bergseen einen Kinderladen entdecke. Trotzdem gebe ich Anne mein Wort. Ich höre Leonie ganz leicht im Schlaf seufzen. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass ich das auch immer gemacht habe und sie es »total putzig« fand. Gerade kann ich sie verstehen.

»Was denkst du?«, will Anne wissen. »Mal ganz ehrlich.«

Ich fasse mir ein Herz. Mein Mund wird trocken, aber diese Frage muss noch raus.

»Ist Leonie meine Tochter?«

Annes Lächeln erstirbt. Hinter ihren Augen schließen sich Türen, Tore fallen herab und verriegeln alle Zugänge.

»Nein«, sagt sie mit fester Stimme, die so eisklar ist, dass sie Diamanten schneiden könnte.

»Ich dachte nur, weil wir damals …«, rudere ich verlegen im freien Fall herum.

Anne lässt mich abstürzen. »Sie ist nicht deine Tochter.«

»Aber woher weißt du das so genau? Hast du jemals einen Test gemacht? Oder ist das wieder diese weibliche Intuition?«

Die eben noch ganz angenehme Atmosphäre hat sich mit einem Mal ins Gegenteil verwandelt. Annes Miene ist wie aus Marmor, aus schwarzem Marmor.

»Ich brauche keinen Test, Caspar Hartmann. Eine Mutter weiß solche Dinge«, zischt sie. »Und ein Mensch, der noch einen Funken Anstand in seinem offenbar völlig verdorbenen Gehirn hat, sollte das gefälligst akzeptieren!«

Was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Verstehe einer die Frauen – ich kann es nicht.

»Gute Nacht, Anne.«

Wortlos macht sie das Licht aus.