Lass alle Hoffnung fahren – oder fahre selbst

Annes Adresse, Wuermelingweg 11 b, liest sich, als wäre sie nach einer Kindergartengruppe benannt. Ist sie aber nicht. Franz-Josef Wuermeling war der erste Familienminister der Bundesrepublik: 1953 bis 1962. Stand auf dem Straßenschild. In dieser Familiensiedlung beginnt Bildung eben im Vorübergehen – Kinder achten ja noch auf Straßenschilder.

Hier sieht ein Reihenhaus aus wie das andere: klein, wenig Abstand zum Nachbarn, rotes Spitzdach, winziger Garten mit Hochbeet und Schaukel. Wie in einem Psychothriller.

Ein vorbeilaufender Junge bleibt stehen und starrt mich mit unbewegter Miene an. Er sieht aus wie dieser kleine Antichrist aus dem Horrorfilm »Das Omen«. Wahrscheinlich werde ich gleich von einer umstürzenden Schaukel erschlagen.

Reinkommen soll ich nicht, darauf hat Anne bestanden. Erstens sei das »nicht notwendig«, und zweitens gehe mich ihr Privatleben nichts an. Das kann ja heiter werden.

Der Junge ist verschwunden. Dafür werfen mir jetzt zwei Mütter, die ihre Kinderwagen nebeneinander auf dem schmalen Bürgersteig herummanövrieren, misstrauische Blicke zu. Liegt wahrscheinlich an meinem Wagen: ein schwarzer 68er Ford Mustang GT 390. Richtig, der von Steve McQueen. Das ist meine Liebe – also der Wagen, nicht der Schauspieler. Amerikanische Autos sind breiter, da legt man noch Wert darauf, dass jeder Platz für sich hat. Nicht wie in dieser Reihenhaussiedlung oder in dem Hotelzimmer, in das wir gleich fahren müssen.

Die Mütter schütteln echauffiert ihre Kurzhaarfrisuren und starren mich so feindselig an, als gehörte ich zu einer Rockergang, die in ihr Viertel eingedrungen ist. Jetzt kommen sie auf mich zu und bedeuten mir, das Fenster herunterzukurbeln.

»Wohnen Sie hier?«, fragt mich die eine, Typ alterndes Modell für Hautstraffungsprodukte. Eine Frau wie ein Lederhandschuh.

»Nein, zum Glück nicht.«

»Warum beobachten Sie dann vormittags unter der Woche die Häuser?«

Die andere Mutter, ihre Flankendeckung, nickt bestätigend. Sie scannt mein Gesicht, wahrscheinlich, um hinterher ein Fahndungsbild aus ihrer Erinnerung zu zeichnen.

Ich schaue sie höflich an. »Und warum gehen Sie nicht arbeiten? Vormittags unter der Woche?«

Die Mütter schauen empört, als hätte ich ihren Kindern eine vererbte Lernschwäche attestiert. Die Erste zeigt mir den Vogel, daraufhin klappe ich den Stinkefinger aus.

Die Mutigere von beiden mustert mich kopfschüttelnd.

»Sie sind ein Mann, der in den letzten Jahren nichts dazugelernt hat.«

»Ich pflege eben die Traditionen«, entgegne ich und kurbele das Fenster wieder hoch.

Die beiden drehen auf ihren absatzlosen Schuhen um und kehren zurück zu ihren Kinderwagen.

Dumme Menschen gibt es wirklich überall. Die Leute petzen, lügen und stehlen. Probleme im Nahen Osten, in Palästina, Syrien, Afghanistan, dazu Tsunamis, Tornados und Kernkraftwerke. Wie kann man in so eine Welt nur Kinder setzen? Verstehe ich nicht.

Das Archiv hat mir Rechercheunterlagen geschickt: In den vergangenen zwei Jahren kam es in der Saunalandschaft des »Wilden Mannle« zu einigen Todesfällen betagter Wirtschaftsgrößen. Gerüchten zufolge hat dabei Viagra eine tragende Rolle gespielt. Der alte Direktor dankte ab, die Hotelkette »Relaxation de luxe« setzte eine neue Leitung ein.

Die neue Chefin, Frau Sommer, baute alles um: Whirlpools zu Kinderbecken, die Saunalandschaft zum Familienspa, aus Zweibettzimmern wurden Dreibettzimmer. Silbergabeln und scharfe Messer tauschte sie gegen stumpfes Kinderbesteck mit Teddybären. Die weißen Leinentischtücher ersetzte sie durch abwaschbare Wachsdecken, für den Fall, dass sich ein dickes Kind nach dem dritten Schlumpfeis übergibt. Statt intimer Zweisamkeit schuf die neue Direktorin ein Familienprogramm, auf das die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender neidisch gewesen wären.

Alles schön und gut, die Frage ist nur: Werden uns die Leute die Familienfassade abkaufen? Dass meine Kollegin und ich eher zänkisch als verliebt daherkommen, ist nicht das Problem – die meisten jungen Paare mit Kind erscheinen mir auch nicht gerade harmonisch. Aber ich zweifle stark an Leonies schauspielerischen Qualitäten.

Ein gellender Schrei aus der Nummer 11 b reißt mich aus den Gedanken. Klingt, als würde ein Kleinkind gekreuzigt. Kinder schreien schon mal laut, aber doch nicht so! Jetzt höre ich auch Annes kreischende Stimme. Was, wenn da ein Psychopath eingedrungen ist? Dann hat hinterher wieder niemand etwas bemerkt.

Ich springe aus dem Auto und über den viel zu niedrigen Gartenzaun. Noch zehn Meter bis zur Haustür. Soll ich sie eintreten? Egal, ist nur eine Tür. Neun Schritte, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, Fuß hoch.

In diesem Moment öffnet jemand von innen, einen Spalt breit, so, als würde er mit letzter Kraft die Klinke herunterdrücken. Ein Stöhnen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Mit Schwung reiße ich die Tür auf und remple Anne um.

Jede Menge Sachen poltern zu Boden: eine große Reisetasche, ein aufgeblasenes buntes Planschbecken, ein Spielzeugbagger, ein grünes Töpfchen, eine dunkelhäutige Puppe, unzählige Bilderbücher mit dicken Pappseiten, von denen mich debile Tiergesichter höhnisch angrinsen. Annes Augen sind gerötet, ihre Wangen auch.

»Entschuldigung«, sage ich.

»Du solltest draußen warten!«, herrscht sie mich an. Doch bevor sie weiterschimpfen kann, unterbricht sie ein neuer Schrei aus einem der hinteren Zimmer. Sie rappelt sich auf, tritt dabei auf ein Spielzeugauto, das durch den Druck nach vorn fährt, rutscht erneut weg und fällt wieder hin – wie in einer Slapstickkomödie.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und deute in die Richtung, in der ich Leonie vermute. Jetzt ganz ruhig. Bloß nichts Blödes sagen. In den vergangenen Tagen habe ich viel über Eltern, Kinder und Kinderkrankheiten gelesen. Muss nur das passende Thema finden.

»Klemmt die Spreizhose?«

Anne schaut mich entgeistert an. »So etwas kriegen nur Säuglinge mit angeborener Hüftgelenksdysplasie. Leonie ist zweieinhalb Jahre alt und völlig gesund. Sie schreit einfach gern.« Offenbar kommt die Kleine ganz nach der Mutter.

»Warum kümmert sich dein Verlobter nicht um sie?«

»Das geht dich erstens nichts an, und zweitens muss er arbeiten. Drittens wollte er ja zu Hause bleiben, um zu sehen, mit wem ich da zwei Wochen lang ins Hotel fahre. Aber ich wollte nicht, dass er dich trifft. Er ist ein bisschen …« Sie druckst herum.

»Krumm gewachsen?«, vermute ich.

»Eifersüchtig – unbegründet natürlich. Aufbrausend. Er liebt den Wettkampf. Wenn es nach ihm ginge, würde er alle Männer in meinem Umfeld fertigmachen.« Sie weicht meinem Blick aus. Für eine Journalistin ist Anne echt eine schlechte Lügnerin. Die Frauenbeauftragte will den Macho heiraten? Von wegen. Ich glaube eher, der Kerl hat Haare auf der Nase und einen Buckel.

Meine Hand greift nach der größten Tasche. »Gib mal her!«

Doch Anne klammert sich an den Henkel, als wollte ich ihr die Beute eines Bankraubs entreißen. »Ich bin durchaus in der Lage, meine Sachen selbst zu tragen. Außerdem jammerst du doch immer über deinen Bandscheibenvorfall. Ich will unseren Job nicht gefährden, bloß weil du hier den starken Mann markieren musst.«

Wieder ein gellender Schrei aus dem hinteren Zimmer, diesmal drängender: »Mamaaa!«

Anne drückt mir die Tasche in die Hand und eilt zurück in Richtung Folterzimmer. »Hol schon mal den Wagen!«, befiehlt sie. Wir müssen dringend klären, wer hier den Harry und wer den Derrick gibt.

Nach dem ganzen Geschrei stehe ich der ersten Begegnung mit meiner zukünftigen Tochter ein wenig skeptisch gegenüber. Dabei muss sie, will man Anne Glauben schenken, »ein wahrer Engel« sein. Von Leonies erstem Pups hat sie geschwärmt, als wäre er ein besonders kluger Gedanke, von den ersten Zähnen, als wären sie die Stigmata des Erlösers, und als Leonie ihre ersten Schritte ging, ist Anne eine Woche lang nur gehüpft. Im Gegensatz zu anderen Müttern hat sie die Kleine aber nie in der Redaktion herumgezeigt – zumindest nicht mir.

Nach dem Tetrisprinzip verstaue ich Leonies Sachen im Kofferraum. Hätte gar nicht gedacht, dass so viel Zeug in einen Mustang passt. Kombis braucht kein Mensch.

Anne kommt heraus, mit einem Kindersitz in der einen Hand und einer katzenkopfförmigen Sonnenblende in der anderen. Ich schaue fragend.

»Für die Fenster zum Anklippen.«

»So was kommt aber nicht in meinen Mustang!«, erkläre ich felsenfest.

»Dann kommt Leonie auch nicht in deinen Mustang«, antwortet Anne. »Es ist Sommer, wir fahren drei Stunden, und ich will nicht, dass sie einen Sonnenstich kriegt. Hast du eine Klimaanlage?«

Anstatt eine Antwort abzuwarten, marschiert sie zurück ins Haus. Seufzend klippe ich die Saugnäpfe der Katzenteile an die Fenster. Nun erinnert der Mustang eher an das Zeichentrickauto von »Tom & Jerry« als an den Wagen aus »Bullitt«.

Als Nächstes schleppt Anne zwei riesige karierte Plastiktaschen heran, die selbst politisch völlig korrekte Menschen als »Türkenkoffer« bezeichnen.

»Die auch?« Ich nehme ihr die Taschen aus den Händen. Ein Stich schießt durch meine Lendenwirbelsäule.

Anne sieht mir den Schmerz an, ignoriert ihn aber. »Ich hole die nächste Ladung.«

»Wir sind doch nur zwei Wochen weg«, bemerke ich, denn ich habe nur drei Jeans, ein paar Shirts und Hemden eingepackt, außerdem Unterwäsche und mein MacBook. Nicht mal Kondome. Wozu auch?

»Nein, wir sind zwei Wochen mit Kind weg.«

»Aber Leonie ist doch total klein! Wie kann sie schon so viel Gepäck haben?« Mir kommt ein sehr logischer Gedanke. »Oder hast du sie etwa auch in die …?« Ich deute fragend auf die Plastiktaschen.

Anne schaut mich fassungslos an, schnaubt wütend und verschwindet im Haus. Wahrscheinlich schleppt sie zur Strafe für meine Nachfrage als Nächstes den Eichensekretär heraus.

Ich denke an meine Kolumne, seufze und beginne zu stopfen: Windeln, Feuchttücher, Wickelunterlagen, Schmusedecken, Kuscheltiere, Bilderbücher, Fläschchen, Messerchen, Gäbelchen, Tellerchen, eine Riesentasche mit Kinderkleidung, noch eine Riesentasche mit Kinderkleidung, noch eine Riesentasche mit Kinderkleidung und eine ebenso große Tasche mit Kinderkosmetik, obwohl sich Leonie wahrscheinlich auch nicht schminkt.

Wozu das ganze Zeug? Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich in einem Ganzkörperplastikeinteiler mit integrierten Stiefeln, mit dem man mich nach dem Spielen unter die Dusche stellen konnte und in dem ich aussah wie ein kleiner Kammerjäger.

Der Kofferraum ist voll, mit letzter Kraft und unter Einsatz meines ganzen Körpergewichts gelingt es mir, ihn zu schließen. Annes silberfarbener Trolley passt nicht mehr hinten rein, den muss sie eben auf den Schoß nehmen. Gewicht auf den Oberschenkeln sind Eltern ja gewöhnt.

Meine neue Frau kommt mit einer monströsen Kreuzung aus Kinderwagen, Dreirad und Einkaufswagen um die Ecke, mit dem ich bisher nur joggende Eltern gesehen habe. In diesem hier thront Leonie.

Sie hat große blaue Augen, aus denen der Schalk blitzt, darüber lange schwarze Wimpern. Ihre geschwungenen Brauen wirken wie gezupft. Die obere Modelpartie ihres Gesichts steht in lustigem Kontrast zu ihren Pausbacken, dem Doppelkinn, dem aschblonden Lockenkopf und dem erstaunlich runden Bauch, den sie vorstreckt wie ein kleiner Buddha.

Auch ich habe blaue Augen, und wenn es regnet, kriege ich ehrlich gesagt manchmal Locken. Zumindest nach außen hin könnten wir tatsächlich als Vater und Tochter durchgehen.

»Hallo, du bist also die Leonie«, schleime ich. »Für die nächsten beiden Wochen bin ich dein Daddy.«

Die Kleine hört mir offenbar konzentriert zu. Sie nickt mit dem Kopf. »Bitte Breze!«, sagt sie so ernst, als wäre das Gebäck der Schlüssel zu ihrer Zuneigung.

Ich lächle verlegen und kremple hilflos das Futter meiner Hosentaschen nach außen. »Tja, leider habe ich gerade keine Breze dabei.«

Mit einem Mal verändert sich ihr Gesicht: Die großen blauen Kulleraugen werden noch etwas größer, sie klimpert mit den tiefschwarzen Wimpern, eine dicke Träne rollt vom rechten Auge über die Pausbacke. Es sieht aus, als versuchte sie mit aller Kraft, die Enttäuschung wegzudrücken. So ein kleines manipulatives Biest.

»Bitte … Breze«, wiederholt sie mit brüchiger Stimme.

Das ist ja der reinste Psychoterror! Ratlos schaue ich Anne an. Die ist damit beschäftigt, einen Kindersitz auf der Rückbank des Wagens zu installieren. Ich vergesse für eine Sekunde, dass mir das gar nicht passt, und wende mich wieder Leonie zu.

»Wir können ja noch an der Tanke halten«, schlage ich vor. »Die haben bestimmt einen Backshop!«

Aus dem Auto heraus höre ich Annes harte Stimme: »Es gibt jetzt keine Breze! Du kannst einen Apfel haben.«

Leonie fängt sofort an zu weinen. Anne streckt den Kopf aus dem Auto und schaut mich strafend an. »Was hast du jetzt schon wieder gemacht?«

»Gar nichts.«

Anne schüttelt abfällig den Kopf, nimmt Leonie aus dem Kinderwagen, legt sie an ihre Schulter und streichelt ihr über die Locken.

»Obi!«, befiehlt Leonie.

Ich sehe meine neue Frau fragend an. Beruhigt Leonie etwa der Anblick von Bohrmaschinen, Schmirgelpapier, Rindenmulch und neonfarbenen Wäscheständern? Ich dachte, daran erfreuen sich nur ältere Männer?

»Ihre Puppe, bitte«, erklärt Anne. »Der Name ist afrikanisch.«

Ich krame im Kofferraum. Ganz unten finde ich die Puppe und drücke sie Leonie in die Hand. Aber die starrt mich nur böse an.

»Du nicht«, schnauzt sie mich an und feuert die Puppe auf den Boden.

»Nicht werfen!«, ermahnt Anne ihre Tochter.

Ich zucke mit den Schultern, hebe den Obi auf und schmeiße ihn zurück in den Kofferraum. Sofort fängt Leonie wieder an zu weinen.

Ein weiterer strafender Blick meiner Kollegin. »Das mit dem Werfen gilt auch für dich«, sagt Anne, zieht einen Schnuller aus der Tasche und steckt ihn Leonie in den Mund. Sofort entspannen sich deren Gesichtszüge.

Anne deutet auf mich. »Das ist Caspar.« Ich winke und zwinge mich zu einem Friedensangebotsgrinsen. »Für die nächsten beiden Wochen ist er dein Papa«, erklärt sie.

Leonie starrt mich immer noch finster an und schüttelt den Kopf. »Nein!«

Was habe ich mir da nur eingebrockt? Die ist ja noch bockiger als ihre Frau Mutter. Kaum sitzt die Kleine im Kindersitz, höre ich von der Rückbank ihre fragende Stimme: »Wer war das?«

Die hat wohl zu viel gekifft. Anne seufzt, als hörte sie diese Frage nicht zum ersten Mal. Durch die Rückscheibe sehe ich, wie sie Leonie trotz Katzenschutz noch einmal einkremt und schließlich anschnallt. Als sie endlich damit fertig ist, fällt ihr Blick auf den Jogger.

»So, jetzt noch den Kinderwagen, und wir können los.«

»Der passt nicht mehr rein«, stelle ich fest.

Anne schüttelt den Kopf, was sie auch in den Themenkonferenzen immer macht, wenn ich neue Clubs oder aktuelle DJs vorstelle. »Leonie braucht einen Kinderwagen. Oder willst du sie etwa die ganze Zeit über tragen?« Sie drückt sich mit der Hand ins Kreuz und ahmt meinen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck nach.

»Lass uns wenigstens einen Buggy mitnehmen, den kann man zusammenklappen.«

»Die haben im Hotel sicher sowohl Buggys als auch Kinderwagen in allen Größen«, behaupte ich. »In Seniorenheimen gibt es auch überall Rollstühle und Gehwagen.«

»Ganz sicher?«

»Klar.«

»Wehe, wenn nicht.«

Anderthalb Stunden später: Leonie starrt mich durch den Rückspiegel vom Kindersitz aus an. Dabei zieht sie ihre kleinen Augenbrauen böse zusammen wie ein Mafiaboss beim Pokern.

Der Kindersitz in meinem Mustang ist leider noch nicht das Schlimmste: Schon an der ersten Raststätte droht unsere Mission vorzeitig zu scheitern, weil Anne einen »Baby an Bord«-Aufkleber kauft und darauf besteht, ihn an die Heckscheibe zu kleben. »Zur Tarnung.« Aber diesmal bleibe ich hart. Ich erkläre ihr die kulturelle Bedeutung meines Autos und kann sie schließlich einigermaßen überzeugen. Schmollend steigt sie wieder ein.

Als wir wieder unterwegs sind, will Leonie plötzlich herumlaufen, Anne verlangt eine Pinkelpause pro Stunde, und wenn ich eine rauchen will, soll ich das »bitte draußen machen«. Mitten auf der Autobahn. Und sehen soll es Leonie am besten auch nicht.

Als ich während der zehnten Pause rauchend am Kofferraum lehne, fällt mir ein dreieckiger Aufkleber an meiner Stoßstange auf: »Baby an Bord«.

Anne meint, wahrscheinlich habe Leonie ihn dorthin geklebt – gegen ihren Willen. Mit einem Lächeln erklärt sie sich bereit, den Aufkleber nach Ende der Mission eigenhändig zu entfernen. Den Rest der Fahrt über erzählt Anne von den Freuden des Familienlebens. Glaube ich. Bei Monologen schalte ich automatisch ab. Auch ein Grund, warum ich für Beziehungen nicht geeignet bin.

Ein blauer Touran rast hinter mir auf der linken Spur heran. Er fährt so dicht auf, dass ich den Fahrer erkennen kann: Sieht aus wie ein Software-Consultant, mit Karohemd und bunter Krawatte.

»Wenn diese Nerds ihre Krawatten zu eng binden, wird ein Nerv im Auge beeinträchtigt«, erkläre ich Anne. »Dann können sie Distanzen nicht mehr richtig einschätzen.«

Anne gibt sich unbeeindruckt. »Mein echter Mann trägt auch Krawatten. Ist aber kein Nerd.«

»Sondern?«, frage ich mäßig interessiert.

Jetzt blendet der Typ hinter mir auf. Dabei schaut er auf sein Smartphone. Wahrscheinlich spielt er gerade die Familienversion von »World of Warcraft«. Keine Ahnung, womit er lenkt.

»Er ist Manager. ›Mr. & Mrs. Perfect.‹«

»Mr. Perfect?«, frage ich ungläubig.

Anne verdreht die Augen. »Und Mrs. Perfect. So heißt seine Firma. Ein Fitnessstudio mit mütter- und väterfreundlichen Konditionen, also Kinderbetreuung, Kinderyoga – und ganz neu: Baby-Pilates! Er denkt sogar über eine Art Nacht-Kita nach. Sein Name ist Leonhardt. Deshalb auch Leonie.«

»Genial«, spotte ich und trete das Gas durch: hundertdreißig Stundenkilometer, neuer Rekord für meinen alten Mustang. Auf österreichischen Autobahnen darf man eh nicht schneller fahren. Der Touran macht es trotzdem. Ich werde mich hier aber nicht von einer Familienkarre überholen lassen. Ist mir zu symbolschwer.

Annes Stimme bekommt einen bewundernden Klang: »Leonhardt hat Philosophie studiert und danach sofort eine Dozentenstelle an der Uni Marburg bekommen.«

Der Touran schiebt mich gleich.

»Davon kann man auch nicht reich werden«, bemerke ich.

»Stimmt«, entgegnet Anne. »Deshalb verdient er sein Geld als Personal Trainer für Wirtschaftsgrößen.« Sie dreht sich zu dem Touran um. »Jetzt lass ihn halt überholen.«

Ich umklammere das Lenkrad mit beiden Händen und versuche, das Gaspedal durch das Bodenblech zu treten. So rostig, wie es ist, könnte mir das sogar gelingen.

»Das hier ist eine Sache zwischen ihm und mir.«

Anne runzelt die Stirn. »Was soll denn das?«, schimpft sie. »Wir fahren in den Familienurlaub. Du bist jetzt ein Familienvater. Hör auf, dich zu stressen! Hör auf, uns zu stressen!«

Vielleicht hat Anne recht. Ich muss mich an meine Tarnung gewöhnen. Also ziehe ich auf die rechte Spur und reihe mich zwischen den Lkw ein.

Die Heckscheiben des Touran sind tiefschwarz getönt, als würde darin ein Staatsoberhaupt chauffiert. Auf einem Sticker über dem Nummernschild klebt ein Smiley. Daneben steht: »Immer Fröhlich bleiben!«

Während der Touran vorbeizieht, winkt die Beifahrerin fanatisch. Anne winkt grinsend zurück – wahrscheinlich weil wir alle im Bescheuerte-Autoaufkleber-Club sind.

»Kennt ihr euch?«, will ich wissen.

»Nein, aber das war eine Familie, und wir sind auch eine Familie.« Als der Touran überholt hat, grüße ich ihn sicherheitshalber noch mal von hinten mit Fernlicht.

Der Fahrtwind weht laute Musik aus der Familienkutsche herein. Klingt wie Nena.

»Mukiz«, freut sich Leonie vom Kindersitz aus. Immerhin hat die Kleine Ahnung von Autos.

»Ja, der Touran hat Muckis. Ist der neue TDI.«

»Musik, meint sie«, erklärt Anne und dreht sich zu Leonie. »Möchtest du was singen, Süße?«

»Jaaa!« Leonie klatscht mit den Händen auf den Kindersitz.

»Neeein!«, rufe ich noch, aber da höre ich schon von hinten: »Aramsamsam, aramsamsam, gulligulligulligulligulli ramsamsam!«

Im Rückspiegel sehe ich erhobene Kinderhände.

»Araaabi, araaabi!« Leonie klatscht auf den Kindersitz. »Gulligulligulligulligulli ramsamsam!«

Arabi? Gulligulli? Schon klar.

»Deine Tochter ist Rassistin«, bemerke ich und schaue Leonie im Rückspiegel an. »Singt ihr zu Hause auch ›Zehn kleine Negerlein‹?«

Leonie: »Schwuli!«

Ich höre wohl nicht richtig. »Wie bitte?«

»Sie möchte ihren Schnulli«, erklärt Anne und steckt Leonie den Schnuller in den Mund. »Der Schn-Laut klappt noch nicht so ganz, aber sonst spricht sie schon ganz gut, oder?«

»Gut«, wiederholt Leonie, den Gummisauger jetzt bis zum Ansatz im Mund.

»Meinst du echt, dein Verlobter ist sauer, weil du mit mir zwei Wochen Liebesurlaub machst?«, stichele ich.

»Leonhardt findet das nicht sonderlich gut, akzeptiert aber meine Entscheidung, weil er weiß, wie wichtig mir die Rückkehr in den Job ist. Er unterstützt mich, wo er kann.«

Puh! Solche Phrasen wollte ich nie hören müssen.

Anne sieht mich an. »Und was sagt deine Freundin dazu? Hast du überhaupt eine?«

»Nein, ich habe keine Beziehung. Aus ideologischen Gründen.«

»Idiotischen …«, versucht es Leonie.

»Nein, Leonie, ideologisch«, erklärt ihre Mutter. »Das ist das Gegenteil von idiotisch. Eigentlich. Aber in diesem Fall passt beides.«

Ein Tempo-80-Schild bremst den Verkehr ab, der Touran wechselt auf meine Fahrbahn. Das ist die Chance: Ich beschleunige erneut auf hundertdreißig und schere aus, auf die Überholspur. Als ich schon fast am Touran vorbeigezogen bin, wird Anne laut.

»Hier ist achtzig!«, schimpft sie, als würden wir auf einen Abhang zurasen.

»Der Touran hat hundertsiebzig PS. Den kann ich nur im Tempolimit überholen.«

»Du hast ein Kind im Auto. Und das ist definitiv kein Ding zwischen dir und ihm. Wir sind jetzt eine Familie. Besser, du gewöhnst dich daran.«

Ich seufze, blinke und reihe mich wieder in die Karawane der Lkw ein.

»Schwuli«, nuschelt Leonie und schmatzt zufrieden an ihrem Schnuller.