Nur wer sich fallen lässt, wird glücklich

Auf dem Frühstückstisch liegt die aktuelle Ausgabe der Hotelbroschüre »Familienurlaub«. Eigentlich stehen darin nur Wandertipps, Wellnessangebote, Hotelwitze und der Wetterbericht. Diesmal aber prangt auf der ersten Seite ein großes Foto: Mr. Perfect, der mich aus der Sauna trägt. Meine Arme hängen schlaff herunter, um uns herum stehen entsetzte Eltern, die ihren Kindern die Augen zuhalten.

Vielleicht sollte ich eine Gegendarstellung erwirken, die festhält, dass mein Penis normalerweise größer ist, wenn er nicht durch die Saunahölle gehen musste.

Über dem Foto steht in fetten Lettern die Schlagzeile: »Leonhardt Löwenherz – Lebensretter«. Text und Fotos stammen von Herrn Fröhlich.

Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

»Caspar ist müde«, stellt Leonie fest.

»Papa«, hauche ich schwach. »Anne, bitte bring ihr bei, dass ich ihr Papa bin.«

Aber Anne ist gerade viel zu sehr damit beschäftigt, Leonies echten Vater anzuhimmeln, an dessen Brust ein grüner Pappmascheeorden mit der Aufschrift »Gast der Woche« prangt. Auf der Verleihung nach dem Abendessen hat er wahrscheinlich keine Gelegenheit ausgelassen, sich offiziell als »Leonies Patenonkel und Annes starke Schulter« vorzustellen – zum Entzücken der anderen Gäste. Vermutlich kriegt er den Platinbubsi auf Lebenszeit hinterhergeschmissen.

Leider kann ich mich kaum an das Saunafiasko erinnern: Das Letzte, was ich weiß, ist, dass Frau Eisensteins nackter Großmutterschoß auf mich zuraste. Dann wurde alles schwarz. Oder grau meliert.

Meine nächste Erinnerung ist eiskaltes Wasser – überall. So muss sich ein Lachs fühlen, der versehentlich aus dem Polarmeer gehüpft ist und nun völlig neben sich auf der glitschigen Eisscholle liegt. Unter mir spürte ich die harten Fliesen des Spa-Bereichs. Ich schlug die Augen auf: Etwa zwanzig Menschen in Bademänteln starrten mich an. Einer von ihnen, Herr Fröhlich, hielt eine Kamera auf mich gerichtet. Blitz! Mr. Perfect stand direkt vor mir, eine Hand an dem mannsgroßen leeren Holzbottich. Ein Bad in Fußpilzwasser – davon hatte ich immer schon geträumt!

Mein ehemaliger Kumpel, der sadistische Aufgussmeister, schaute mir besorgt in die Augen: »Du siehst echt nicht gut aus. Einen ganz schönen Schrecken hast du uns eingejagt, vor allem der älteren Frau.«

Er deutete zu den Entspannungsliegen. Auf der ersten lag Oma Eisenstein. Wer hier wem den Schrecken eingejagt hat, muss noch geklärt werden. Ihr Mann fächelte ihr mit einer Frauenzeitschrift Luft zu. Als er merkte, dass ich sie anstarrte, ließ er die Hand seiner Frau los und machte die Kehle-durchschneiden-Geste.

»Ich habe mir Gedanken über die Sache in der Sauna gemacht«, sagt Anne gerade mit ernstem Gesicht und putzt Leonie die marmeladenbeschmierten Finger ab. »Wahrscheinlich wolltest du einfach wieder zurück in den Mutterschoß.«

»Eher in den Großmutterschoß«, feixt Mr. Perfect.

Anne prustet los. Leonie sieht sie erst überrascht an, stimmt dann aber lauthals ein. Ihr Lachen verletzt mich am meisten.

Ich höre, wie der kleine Obi ein paar Tische weiter mitkichert. Leider fühle ich mich zu schwach, um seinen Eltern eine Szene zu machen. Habe immer noch Herzrasen. Das Ding ist wohl nicht an so viel Familie gewöhnt.

»Es könnte echt sein, dass ich irgendeine Herzschwäche habe«, bemerke ich und stehe auf, gebeugt wie ein alter Mann.

»Das würde zumindest deine Beziehungsprobleme erklären«, vermutet Anne nassforsch.

»Wenn ihr wieder bereit seid, wie Erwachsene zu reden, könnt ihr mir ja Bescheid sagen«, blaffe ich und mache mich auf in Richtung Frühstücksbüfett.

Ein greller Blitz nimmt mir die Sicht. Direkt vor mir steht Herr Fröhlich mit einem Monstrum von Fotoapparat in der Hand.

»Für die Nachberichterstattung«, grinst er und hält mir die Hand zum High five hin. Ich zeige ihm den Mittelfinger, was er sofort in einem zweiten Bild dokumentiert. Vielleicht kann ich ihm das später für meinen Artikel abkaufen.

Die Metallschüsseln am Büfett sind so leer wie mein Kopf. Nur den Heringssalat hat niemand angerührt. Davor treffe ich den Psychologen und Chefjuror.

»Möchten Sie darüber sprechen?«, fragt er.

»Über Fisch zum Frühstück?«

»Mir gegenüber brauchen Sie nicht den starken Mann zu spielen. Ich bin nicht nur Juror und Erfinder des Familiencontests, ich bin auch Arzt.«

»Aber ich bin nicht krank.«

Statt mich am Kopf zu kratzen, was er sofort als Verlegenheitsgeste entlarven würde, schaufele ich Heringssalat auf meinen Teller.

Der Psychologe ignoriert meinen spöttischen Blick und nimmt sich auch etwas aus der Schüssel.

»Sie haben keine Ahnung, was das war?«, fragt er und deutet mit dem Kopf in Richtung Saunabereich.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin umgekippt, keine große Sache – ist sogar schon Chuck Norris passiert, in ›Delta Force 2‹, glaube ich.«

»Entspannung, Analyse, Konfrontation«, erklärt der Psychologe, als wollte er mich für ein äußerst lukratives Geschäftsmodell begeistern. Ich verstehe kein Wort. Er nimmt sich mit der freien Hand einen Brotkorb und legt den Kopf etwas schräg.

»Ich bin für das Wohlergehen der Gäste in diesem Haus zuständig. Wenn ich Ihnen also irgendwie helfen kann, bin ich für Sie da. Das gebietet mir mein hippokratischer Eid.« Er zwinkert vertraulich.

»Danke, echt kein Bedarf«, entgegne ich und wende mich ebenfalls zum Gehen. Der wird sich wundern, wenn mein Verriss erscheint – auch wenn ich darin mein Missgeschick nicht erwähnen werde. So weit kommt es noch, dass ich zum Psychologen gehe! Wenn ich reden will, rufe ich meine Kumpels an. Und die rufen zurück – wenn ihre Kinder schlafen.

Am Frühstückstisch hat sich meine falsche Familie wieder beruhigt. Leonie ist vollauf damit beschäftigt, ihr Mineralwasser mit einem Löffel aus der Tasse zu schöpfen und in meinen Tee zu füllen.

Während ich mich der bitteren Säure des Heringssalats stelle, liest Mr. Perfect schon wieder den Artikel über sich. Oder immer noch. Jetzt klappt er das Blatt so um, dass ich noch einmal das Foto meiner entwürdigenden Nacktheit vor Augen habe.

Anne sieht mich mitleidig an. »Das kann doch jedem mal passieren«, sagt sie so verständnisvoll wie die Liebhaberin eines älteren Mannes.

Ob in den wilden Zeiten des Hotels auch die Leichen der Manager, die ihr Leben beim Saunasex aushauchten, in der Hotelbroschüre abgebildet wurden? Nein, wahrscheinlich gab es damals einfach normale Centerfolds mit ein paar Witzen auf der Rückseite. Aber selbst der Gedanke daran kann mich nicht aufheitern. Ich senke meinen Blick auf die Rubrik »Reisetipp«.

»Entspannung für die Großen, Action für die Kleinen, Spaß für alle auf der Family-Fun-Farm in Furten!« Klingt nach entsetzten Vätern, quengelnden Kindern und streitenden Paaren: Kanonenfutter für meinen Artikel. Der Gedanke an meine große Geschichte verleiht mir gleich neuen Schwung.

»Lasst uns heute doch einen Familienausflug machen«, schlage ich vor und deute auf den Artikel. »Alle zusammen.«

Anne sieht mich überrascht an, Mr. Perfect schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht, ich habe geschäftlich zu tun.« Anne schaut ihn verwundert an. So, als wäre das anders besprochen gewesen.

»Aber Leonie würde sich so freuen«, bittet sie.

Mr. Perfect blickt skeptisch über seine Lektüre.

»Wenn er nicht will …«, werfe ich ein. »Das ist bestimmt nichts für so harte Kerle.«

Mr. Perfects Blick schwenkt böse zu mir. Er faltet die Zeitung zusammen. »Ist besser, wenn ich mitkomme – falls Caspar noch mal umkippt. Du kannst ja schlecht beide tragen.«

Schon gestern in der Sauna habe ich mich daran erinnert, dass Anne gesagt hat, ihr Verlobter liebe den Wettkampf. Aber macht der auch mal Pause? Was findet sie überhaupt an diesem Fatzke? Ist wahrscheinlich eher was Physisches. Darf gar nicht daran denken.

Ganz unten im »Familienurlaub« steht das Motto des Tages: »Nur wer sich fallen lässt, wird glücklich.«

Auf dem Weg zum Zimmer gehe ich am Ehepaar Eisenstein vorbei. Ich nicke den beiden freundlich zu. Im Vorübergehen höre ich Oma Eisenstein etwas wispern, ein verschwörerisches »Pst« wie von einem Drogenhändler.

Opa Eisenstein ist in den Artikel über Mr. Perfect vertieft. Seine Frau deutet auf das Cover und zwinkert mir zu. Sie bewegt die Lippen. Was flüstert sie da? Ich komme näher, um sie besser zu verstehen. Jetzt sehe ich, dass ihre Lippen einen Kussmund formen! Offenbar hat sich die gute Frau heute Morgen in der Tablettenschachtel geirrt und die Viagra ihres Mannes erwischt. Mir wird ganz flau im Magen.

Mr. Perfect schlägt vor, dass wir seinen Wagen nehmen, weil der geräumiger sei als der Mustang und eine Klimaanlage habe. »Da können wir bei dem schwülen Wetter die perfekte Temperatur für Leonie einstellen.«

Ein Audi RS 5, um die 400 PS. Leider fährt er die auch in den Serpentinen voll aus.

»Karussell«, freut sich Leonie, wenn uns die Schwerkraft wieder von innen gegen die Türen presst. Ihr Jauchzen stachelt Mr. Perfect noch mehr an. Dessen Fahrweise wiederum stachelt meinen Magen an.

Als wir wenig später vor dem Eingang zur Family-Fun-Farm-Furten parken, ist mir so übel wie damals nach dem Apfelkornwettsaufen auf der Mittelstufenparty.

Die Fun-Farm-Furten bietet laut einer schatzkartenartigen Informationstafel am Eingang »das Beste aus allen Welten«: ein bisschen Disneyland, ein bisschen Abenteuerspielplatz, ein bisschen Zoo hier, ein wenig Natur da, grellbunter Nippes überall.

Am Eingang treffen wir Familie Fröhlich. Bei ihrem Anblick wird mir gleich noch elender zumute.

»Hallöchen, Popöchen«, grüßt Herr Fröhlich überschwänglich und blitzt mir schon wieder mit seinem Fotoapparat ins Gesicht. Seine Tochter scharwenzelt um Leonie herum und versucht sie auf den Arm zu nehmen, obwohl sich die Kleine nach Leibeskräften wehrt. Erst Frau Fröhlich gelingt es, Paula von Leonie abzulenken, indem sie ihre Tochter bittet, doch auszurechnen, ob wir alle zusammen mit Gruppenrabatt oder jeweils zu fünft mit Familienrabatt günstiger dran sind. Wie befürchtet, bietet sich für uns alle der Gruppenrabatt an – allerdings gilt der nur, wenn wir zusammen kommen und auch zusammen gehen.

»Vielleicht wollt ihr ja viel länger bleiben?«, wage ich mich vor.

»Dann bleibt ihr eben auch noch«, beschließt Herr Fröhlich und fügt oberlehrerhaft hinzu: »Eure Tochter wird es euch danken.«

Wir zahlen hundert Euro mit Gruppenrabatt, was mir eher wie ein Aufpreis vorkommt – weil ich zahle. Erstaunlich routiniert vergisst Herr Fröhlich, mir mein Geld sofort zurückzugeben, und vertröstet mich auf unsere Rückkehr.

Direkt hinter dem Eingang lockt ein riesiges Bällebad. Dagegen wirkt das von Ikea wie eine Kinderbadewanne. Anne stellt sich zwischen Leonie und das Becken. »Wenn sie da einmal drin ist, kriegen wir sie nie wieder heraus.«

Danke für die Idee.

Gerade will ich Leonie in Richtung Bällebad schieben oder rufen: »Schau mal, was da ist!«, da bimmelt das erste Fahrgeschäft direkt in unser Blickfeld. Nein, es hüpft: ein grüner Zug, der aussieht, als hätte er einen Motorschaden. Die Familien in den kleinen Anhängern werden hin und her geschleudert. Die Kinder lachen, die Erwachsenen dagegen wirken so, als müssten sie sich gleich übergeben. Das Bild würde sich prima als Aufmacher für meine Story eignen.

»Oh, ein Frosch!«, ruft Leonie und jauchzt. Der Family-Fun-Farm-Furten-Frog hält direkt vor uns.

»Bitte ein Familienfoto!«, dränge ich Herrn Fröhlich, schiebe Mr. Perfect beiseite und stelle mich mit Anne und Leonie vor den Zug. Artig posieren sie, während im Hintergrund die kreidebleichen Eltern an den Händen ihrer Kinder aus dem Zug steigen. Hoffentlich ist die Auflösung von Fröhlichs Kamera so gut, dass wir sein Bild nachher doppelseitig drucken können.

Vor lauter Aufregung vergesse ich meine eigene Übelkeit.

»Bitte noch ein zweites quer, damit man auch die anderen Familien im Hintergrund sieht«, fordere ich und rücke mit meiner Leihfamilie noch etwas näher an den Zug. Anne schaut mich verwundert an, lächelt aber brav in die Linse. Ich dagegen mache ein gequältes Gesicht, für das ich mich nicht mal verstellen muss. Anne wird mich später dafür hassen, aber mein Chef wird mich lieben.

Hinter Herrn Fröhlich hakt nun ein Mann im Froschkostüm eine rote Schnur zwischen den Fahrgästen und Zuschauern ein und trennt Fröhlich von seiner Familie. Aber anstatt schnell zurückzuspringen, begibt er sich lachend mit uns in den Zug. Offenbar hat selbst der perfekte Vater nichts gegen ein bisschen Zeit ohne seine Liebsten.

»Wir treffen uns dann später dahinten«, ruft Frau Fröhlich und deutet in Richtung Bällebad, woraufhin Paula und Paul losstürmen, als gäbe es dort Konsolen mit Ballerspielen geschenkt.

Wenig später sitzen wir mit Herrn Fröhlich im Fun-Farm-Furten-Frog. Einerseits finde ich das Gefährt gar nicht schlecht, um mir einen Überblick zu verschaffen. Andererseits ist mir als Kind schon auf einer normalen Schaukel übel geworden.

Kaum ist der Fun-Frog losgeruckelt, spüre ich erneut meinen Magen rebellieren. Blöderweise habe ich im Gegensatz zu Leonie keine Wechselwäsche dabei. Nach dem Saunatiefpunkt kann ich mir nicht noch ein Fiasko erlauben. Vor allem nicht in Gegenwart von Herrn Fröhlich, diesem selbst ernannten Chronisten des Familienwahnsinns.

Dem scheint die Ruckelei überhaupt nichts auszumachen, genauso wenig wie Anne und Mr. Perfect. Aber die sind ja auch schon länger Eltern. Gott, ist mir schlecht. Verdammter Heringssalat!

Herr Fröhlich unterhält sich mit Anne von Mutter zu Mutter, knipst den Park, das kleine Affengehege, die Hüpfburg, die Riesenrutsche, verschiedene Sandkastenlandschaften und ein Trampolin, an das die Kinder mit Seilen festgebunden werden, um nicht wegzufliegen. Dabei murmelt er immer wieder blöde Sprüche wie »Sonne lacht, Blende acht« oder »Grinse, grinse, in die Linse«.

Letzteres kriege ich mehr als einmal zu hören, denn unglücklicherweise bin ich sein Lieblingsmotiv. Wahrscheinlich wittert er, dass ich für einen potenziellen Schnappschuss gut bin.

Streitende Pärchen, deren Schimpftiraden ich für meinen Artikel notieren könnte, sehe ich leider nirgendwo.

Rund dreißig Hüpfer später halte ich eher nach Kotztüten Ausschau, leider vergeblich. Ich beiße die Zähne zusammen. Das einzige Gefäß in der Nähe ist Leonies grüner Ranzen mit dem Proviant, und der kommt nicht einmal für absolute Notfälle infrage. Als der Furten-Frog um die nächste Kurve biegt, muss ich sauer aufstoßen.

»Caspar krank«, stellt Leonie fest und flüstert verschwörerisch: »Papa krank.« Ich nicke schwach und stecke ihr zur Belohnung ein Gummimannle zu, obwohl sich beim Gedanken an das süße Zeug mein Magen umdreht. Herr Fröhlich schießt noch ein Foto, sieht es sich auf seiner Kamera an, schaut zu mir und lacht erleichtert auf.

»Puh! Sie sind ja echt so grün! Ich dachte schon, mein Farbfilter wäre kaputt.«

»Ist alles okay?«, fragt mich Anne. Wie ich diese Frage hasse!

Wenig später ist es in der Bahn still geworden, offenbar bin ich nicht der Einzige, dem die Fahrt auf den Magen schlägt. Nur Leonie kiekst munter auf Mr. Perfects Schoß, der kleine Ranzen steht auf dem Boden. Ein erneuter Ruck schaltet die Waschmaschine in meinem Magen auf Schleudergang. Ich spüre, wie ich allmählich mein Hemd durchschwitze, was Herr Fröhlich sofort dokumentiert. Zum Glück ist diese Fahrt gleich zu Ende.

»Möchte jemand einen Keks?«, fragt mich Anne und kramt in Leonies kleinem Rucksack. Tabletten gegen Reiseübelkeit wären mir lieber.

»Ich hätte ja mehr Lust auf ein Fischbrötchen«, stichelt Mr. Perfect. »Vielleicht eines mit Heringssalat – so richtig schön matschig.« Meine Kehle schnürt sich zu. Ich unterdrücke einen Rülpser und presse die Hand vor den Mund.

»Darf ich?«, flüstere ich und greife nach Leonies Rucksack. Anne merkt sofort, was ich vorhabe, und versucht, mir das Teil zu entreißen.

»Du wirst nicht in den Ranzen meiner Tochter kotzen!«, höre ich ihre hysterische Stimme. Mein Magen krampft sich zusammen. Etwas Säuerliches steigt in mir hoch. Schnell nimmt mir Anne den Rucksack weg. Ich schaue mich Hilfe suchend nach einem Gefäß um, entdecke aber nur die rote Notbremse und ziehe sie.

Der Zug bremst mit metallischem Quietschen und einem letzten Ruck, der mir den Rest gibt. Herr Fröhlich klammert sich an eine grüne Metallstange. »Vorsicht, Kinder!«, mahnt er lächelnd.

»Was macht ihr denn für einen Quak?«, höre ich die Stimme des Froschmannes. Er sieht uns an, wie nur ein Frosch schauen kann, begreift offenbar, dass ihm womöglich eine zusätzliche Schicht für die Reinigung seines Zuges bevorsteht, und packt mich am Schlafittchen.

»Sofort raus aus dem Fun-Frog!«, befiehlt er, aber da bin ich schon aus dem Wagen gesprungen, presse die Zähne zusammen und renne los, ohne zu wissen, wohin. Ich drücke mir die Hand auf den Mund, halte ihn zu. Verdammt, weit und breit keine Toilette in Sicht, nicht mal ein Mülleimer. Nur das riesige Bällebad.

An dessen Rand steht Paula Fröhlich und winkt.

Zwanzig Minuten später sitzen Anne, Mr. Perfect, Leonie und ich wieder in Mr. Perfects Audi und fahren so vorsichtig durch die Serpentinen, dass sich hinter uns Autoschlangen wütender Tiroler bilden. Auch im Wagen herrscht dicke Luft.

»Hausverbot im Family-Land!« Anne haut fluchend mit der flachen Hand auf die Ablage. »Und wir waren keine Stunde drin!«

»Wie kann man nur ins Bällebad kotzen?«, stimmt Mr. Perfect fassungslos vom Fahrersitz ein. »Du hast die kleine Paula voll erwischt! Die kannst du jetzt wegschmeißen!« Ich hätte Lust, mich noch mal zu übergeben: in die Lüftung seines Audis. Aber mein Magen ist völlig leer.

Anne sieht ihn mahnend an und macht die Reißverschlussgeste. Ja, so einen Reißverschluss hätte ich vorhin gebraucht.

»Caspar ein Bollerchen gemacht, okay?«, verteidigt mich Leonie. »Groooßes Bollerchen!«

Ich nicke dankbar. Leider geht dieses bescheuerte Zittern schon wieder los. Offenbar habe ich mir echt einen Virus eingefangen. Aber was, wenn mit meinem Herzen etwas nicht stimmt? Meine Hände verkrampfen sich schon wieder. Das gleiche Gefühl wie in der Sauna.

»Entschuldigung«, bitte ich Anne und Mr. Perfect. Jeder Atemzug kostet mich unendlich viel Kraft. »Können wir wohl bitte in ein Krankenhaus?«

Wenig später biegen wir in die Einfahrt zur Notaufnahme ein. Mit Mühe öffne ich die Tür. Anne holt Leonie aus dem Kindersitz.

»Wahrscheinlich kannst du nicht laufen, oder?«, fragt Mr. Perfect. Mittlerweile rast mein Puls so sehr, dass ich mir sicher bin: Ich habe einen Herzinfarkt. Da kann man auf männliche Eitelkeiten keine Rücksicht nehmen. Außerdem verliere ich wahrscheinlich gleich wieder das Bewusstsein, und dann muss Mr. Perfect eh ran.

»Bitte tragen«, keuche ich.

Er seufzt und zuckt mit den Achseln. »Dich habe ich in den letzten zwei Tagen öfter über Türschwellen gehoben als meine echte Frau in unserer gesamten Beziehung«, stellt er fest, während er mich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter wirft.

Drinnen misst der Arzt meinen Puls, legt mich gleich an den Tropf und bittet Anne, Leonie und Mr. Perfect ins Wartezimmer. Kaum bin ich in der sterilen Sicherheit des Krankenhauses, fühle ich mich etwas besser.

Drei Stunden später, als eine Kardiologin mit einem Ultraschallgerät mein Herz untersucht, hat sich mein Puls vollends beruhigt. Anne und Mr. Perfect stehen fasziniert vor dem kleinen schwarzen Bildschirm.

»Können Sie schon erkennen, was es wird?«, fragt Anne mit gespieltem Ernst.

»Bestimmt ein Mädchen«, versichert Mr. Perfect feixend und legt ihr den Arm um die Schulter. Am liebsten würde ich sie rausschmeißen lassen. Zum Glück bleibt wenigstens die Ärztin ernst und lässt ihren Blick nicht vom Bildschirm, auf dem meine Herzorgane nun in verschiedenen Farben aufleuchten. Schließlich wischt sie die Sonde mit einem Papiertuch ab und schaut mich an.

»Sie haben ein sehr zartes Herz.«

»Danke«, hauche ich.

Anne und Mr. Perfect prusten los. Auch Leonie lässt ihr helles Lachen durch den Raum schallen.

Mit einem strengen Blick schickt meine Ärztin das Trio Infernale aus dem Zimmer. Offenbar will sie bei der Diagnose mit mir allein sein. Sie atmet tief ein und aus.

Oh Gott, Herzmuskelentzündung, Herzschwäche? Brauche ich einen Bypass oder gar einen Herzschrittmacher? Zahlt meine Krankenkasse das?

Die Ärztin sieht mir tief in die Augen. »Sie sind völlig gesund«, erklärt sie und versucht ein Lächeln, das allerdings ahnen lässt, dass der Diagnose ein Rattenschwanz folgen wird. »Körperlich.«

Ich schaue sie fragend an. Was soll denn das jetzt heißen?

»Hatten Sie in der Vergangenheit viel Stress?«, will sie wissen. Ihr argwöhnischer Blick erinnert mich an die Profiler in diesen amerikanischen Krimiserien.

»Ich habe mit dem Rauchen aufgehört. Beruflich hatte ich auch eine Menge um die Ohren.«

Sie sieht mich gleichzeitig so ernst und anteilnehmend an, wie das nur Mediziner können. »Dazu wahrscheinlich pushende Getränke: Kaffee, Alkohol, vielleicht psychische Stressoren. Jetzt im Urlaub kommen Sie herunter. Da brauchen Sie sich nicht schwach zu fühlen. Ist ganz normal.«

»Was ist normal?«

»Sie hatten eine Angstattacke.«

Wie bitte? Eine Angstattacke? So etwas kriegen doch nur amerikanische Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren. Die Ärztin hat sie wohl selbst nicht mehr alle.

»Ich habe gedacht, ich sterbe.«

Sie nickt. »Ich weiß. Angst stammt noch aus der Urzeit, als wir vor wilden Tieren flüchten mussten. Das sympathische Nervensystem aktiviert Muskeln und Kreislauf und sorgt dafür, dass uns mehr Energie als sonst zur Verfügung steht, um zu fliehen oder zu kämpfen: Die Knie werden weich, der Puls geht hoch, Blut schießt in die Muskeln, Sie schwitzen. Und weil Sie nicht wissen, was da mit Ihnen passiert, deuten Sie die Symptome falsch. Sie denken: Mein Herz klopft schneller als sonst – und schon klopft es tatsächlich schneller. Angstpatienten geraten in einen Teufelskreis, den sie durchbrechen müssen.« Sie sieht mich eindringlich an.

Ich nicke. Ja, genau, Teufelskreis durchbrechen.

»Wie Ihnen geht es heutzutage vielen jungen Vätern im Angesicht der neuen Verantwortung.«

Das Zitat muss ich mir unbedingt aufschreiben. Ich sehe die Ärztin aufmerksam an. Darauf hat sie nur gewartet.

»Die schlimmste Form der Angstattacke ist die Panikattacke. Dabei können Sie sogar ohnmächtig werden. Dann schaltet das parasympathische Nervensystem mal kurz alles ab und sorgt für Erholung und Entspannung – vielleicht etwas radikal, aber völlig ungefährlich. Sind Sie in letzter Zeit ohnmächtig geworden?«

Wieder nicke ich. Dabei würde ich viel lieber entsetzt den Kopf schütteln. Ich, Caspar Hartmann, abgebrühter Journalist, bekennender Hedonist, Wolf unter Lämmern, soll aus Angst umgekippt sein? Angst wovor denn? Vor kleinen Kindern?

Okay, ich hatte beruflich viel um die Ohren, der Tinnitus, dann Nadine und ihre Familienphantasien und jetzt die große berufliche Chance, aber bis jetzt bin ich noch mit allem fertig geworden.

»Wie kann ich so etwas wieder loswerden?«, druckse ich herum.

»Medikamente oder Psychotherapie?«, will die Ärztin wissen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich mich in der Lobby des »Wilden Mannle« auf der Chaiselongue liegen, hinter mir Psychologe Ainberger, der etwas in sein ledernes Familiencontestbüchlein notiert, während ich vor den anderen Gästen meine Bindungsangst gestehe.

»Medikamente, bitte.«

Sie geht zu einem Blechschrank und holt eine Tablettenpackung heraus. Wo bei Verdauungstabletten ein illustrierter Darm den Wirkungsbereich markiert, ziert hier ein stilisierter Kopf die Packung. Er ist mit einem schwammartigen Wulst gefüllt, der die zwei Gehirnhälften darstellen soll. Sie strahlen in hellem Rot.

Die Ärztin öffnet die Packung und drückt eine Tablette heraus. »Wenn Sie die genommen haben, sollten Sie kein Auto mehr fahren«, verordnet sie mit ernstem Blick. »Und seien Sie vorsichtig im Umgang mit Ihrer Nichte.«

»Leonie ist meine Tochter.«

Wieder dieser argwöhnische Profilerblick.

»Wie Sie meinen.«

Ich schlucke die Tablette hinunter und beschließe, niemandem von der Diagnose zu erzählen. Im Wartesaal will meine falsche Familie natürlich wissen, was die Ärztin gesagt hat.

»Kleine Lebensmittelvergiftung«, lüge ich.

Auf dem Rückweg ins Hotel schweigen wir. Seltsam, ich war mir vorhin ganz sicher, ich würde an Herzversagen sterben. So sicher, dass ich mich gefragt habe, was der Nachwelt von mir erhalten bleiben wird. Meine Artikel über den singenden Bäckermeister? Meine kurzen Affären? Meine meterlange Plattensammlung? Ganz sicher nicht. Der Bäckermeister wird verstummen, die Affären werden vergessen, die Plattensammlung verkauft.

Die Antwort auf diese Frage war kurz, klar und nicht unbedingt logisch: Leonie.

Beim Abendessen, diesmal wieder am Tisch von Frau Sommer, herrscht betretene Stille. Mein Malheur im Bällebad hat sich herumgesprochen. Wegen der traumatisierten Paula Fröhlich musste ich mit ihren Eltern reden.

»Wahrscheinlich wird sie nie wieder einem Erwachsenen winken«, vermutete ihr Vater grimmig.

Dabei habe ich mich bei ihm und Paula so umfangreich entschuldigt, wie ich es noch nie zuvor bei Menschen gemacht habe – nicht einmal, als ich nach einer durchfeierten Nacht versehentlich die Freundin meiner Begleiterin geküsst habe. Oder als ich auf der Hochzeit meines besten Freundes in die Torte gefallen bin.

Jedenfalls habe ich Paula als Entschädigung einen H&M-Gutschein über dreihundert Euro versprechen müssen. Dass ich von ihrem Vater noch Geld für den Eintritt bekomme, habe ich unter den Tisch fallen lassen.

Trotz des Ärgers herrscht in meinem Kopf seltsamerweise die fröhliche Gedämpftheit einer rosa Wolke. Mit diesen Tabletten kann man bestimmt super feiern gehen.

Frau Fröhlich und ihre Kinder scheinen die Erlebnisse des Tages ganz gut verkraftet zu haben. Paula hat schon wieder einen gesegneten Appetit. Wahrscheinlich freut es sie insgeheim, dass mein heutiges Verhalten mich wieder ein ganzes Stück vom Platinbubsi entfernt hat.

Ihr kleiner Bruder taxiert mich, als überlegte er, wie er aus mir ebenfalls einen Einkaufsgutschein herausholen könnte. Nur Herr Fröhlich sitzt nicht mit am Tisch, seine Frau meint, er brauche gerade »mal etwas Zeit für sich«.

»Na, eine Geliebte wird er in dieser Bergwelt schon nicht aufreißen«, kalauere ich drauflos. »Es sei denn, er steht auf Ziegen.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich Frau Sommer an ihrem allabendlichen Welcome-Drink verschluckt. Verdammt, diese Tabletten machen mich ganz meschugge.

Leonie, die nach dem ganzen Trubel endlich mal ausgepowert scheint, schaut sich mit Obi ein Bilderbuch an. Die Augen fallen ihr schon fast zu.

Opa Eisenstein fixiert mich böse über den Tisch hinweg. Ich trinke aus Verlegenheit schneller, als ich sollte. Oma Eisenstein hilft mir, die erste Flasche Weißwein noch vor dem »Gruß aus der Küche« zu leeren. In der Kategorie Trinken liege ich im Gegensatz zu den anderen Vätern auf jeden Fall vorn. Muss unbedingt eruieren, ob es auch die Disziplinen Medikamentenmissbrauch oder Weinglasstemmen gibt.

Heute ist Jeannie die Kellnerin. Als sie Kindercracker unter marinierten Rinderfiletschnipselchen serviert, stülpt Oma die leere Rieslingflasche verkehrt herum in den Kühlkübel, drückt ihn Jeannie in die Hand und lässt ihn mit »schönem Gruß an die Küche« zurückgehen.

Ich steige auf Rotwein um, weil diese Flasche noch halb voll ist.

»Was halten Sie denn von dem Artikel im ›Familienurlaub‹?«, will der Architekt von mir wissen und grinst mich an.

»Ach, was diese Journalisten immer so schreiben …«, nuschele ich. Kann mich gar nicht richtig konzentrieren, seine Zahnreihen leuchten so unschuldig weiß wie Engelsflügel.

»Das war ein toller Text«, findet Mr. Perfect und lehnt sich nach vorn. »Wahrer Journalismus!« Er hält seinen Löffel vor der Brokkolispargelcremesuppe erhoben. »Ein Klient von mir, hohes Tier bei einer großen deutschen Bank, immer nur geraucht und getrunken, der steht im Urlaub auf den Seychellen am zweiten Tag vor dem Pool – und zack!« Er lässt den erhobenen Löffel in seine Suppe plumpsen. »Da haut’s ihn um: kopfüber in den Pool. Seine Frau hat ihn gerettet.« Er blickt zu Anne hinüber. Alter Schleimer. »Sei dankbar, Caspar, dein Körper hat dir ein Zeichen gegeben.«

Der Psychologe sieht zu mir herüber, notiert etwas in sein Lederheftchen und steht auf. Würde ich auch gern machen.

Vielleicht hat Mr. Perfect ja recht, und der Zusammenbruch war wirklich ein Zeichen: Mein Körper mag einfach keine Familien. Lieber schaltet er komplett ab, als hier in der Masse der Fortpflanzer zu versauern. Aber ich muss diesen Job durchziehen. Für Dr. Schade, für meine Nachtlebenkolumne und für die alleinstehenden Männer dieser Welt. Wenn Schade mitkriegt, dass ich unter Panikattacken leide, degradiert er mich vom wilden Hengst zum Angsthasen. Und Angsthasen schreiben keine Nachtlebenkolumnen.

»Der kleinen Paula hat Caspars Körper auch ein Zeichen gegeben«, leitet Mr. Perfect die nächste Runde ein. »Es war bunt und roch nach Heringssalat.«

Ich brauche jetzt eine Zigarette, sonst drehe ich wirklich durch. Mit unsicheren Griffen falte ich meine Serviette, lege sie auf den Tisch und nicke Anne zu.

»Bis später, Schatz.«

Mr. Perfect sieht mich spöttisch an. »Soll ich dich lieber rauftragen?«

Auf dem Weg nach draußen begegne ich dem Psychologen. Er grüßt freundlich und will gerade zurück an unseren Tisch gehen, aber ich halte ihn am Arm fest.

»Bitte werten Sie meine Schwäche nicht zu unseren Ungunsten. Anne und Leonie können doch nichts dafür. Vielleicht lag es ja an der finnischen Sauna. Die war falsch eingestellt, kaum Luft drin.«

Ainberger schüttelt lächelnd den Kopf. »Tut mir leid, aber das Problem sind Sie. Auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.«

Diesmal schaut er mir nicht nur in die Augen, sondern starrt mir regelrecht in die Pupillen – wie ein Verkehrspolizist.

»Nehmen Sie Psychopharmaka?«

»Natürlich nicht!«

»Das ist gut. Denn falls Sie so was genommen hätten«, er sieht mich an wie ein Hausmeister, der einen Lausbuben beim Rauchen ertappt hat, »sollten Sie jetzt auf keinen Fall noch mehr Alkohol trinken. Diese Pillen machen aus einem intelligenten, nun ja, Automechaniker einen abgestumpften Zombie – entschuldigen Sie meine Ehrlichkeit.«

Ich schlucke. Sogar die Spucke schmeckt nach Wein. »Na, ein Glück, dass ich keine genommen habe, nicht wahr?«

Wenig später stehe ich vor der Hoteltür. Es weht ein schwüler Wind, und zwar so stark, als würde er ein Jahrhundertgewitter ankündigen. Blöderweise habe ich meine letzte Schachtel Kippen in den Spielplatzmülleimer geschmissen, und der ist bestimmt schon geleert. Hier ist auch weit und breit kein Automat in Sicht: Rechts von mir beleuchten Laternen die alleeartige Ausfahrt, links liegen dunkle Wiesen. Der Ort ist zwei Kilometer entfernt. Bei dem Rückenwind schaffe ich den Weg dorthin in zehn Minuten.

Eine halbe Stunde später erblicke ich am Straßenrand das Leuchtschild einer Bar: »Bei Anton«. Zur Skisaison tobt hier bestimmt die Hüttengaudi. Jetzt erinnert der Schankraum eher an eine Mischung aus Heimat- und Horrorfilm: helles Holz, Eckbänke, schummriges Licht. An den abgeschrammten Tischen sitzen nur wenige Gäste. Der Barkeeper ist gerade damit beschäftigt, die Flaschen im Regal mit dem Handtuch abzustauben.

»Entschuldigung, wo finde ich denn den Zigarettenautomaten?«, will ich wissen.

»Im Klo«, antwortet Herr Béla. Was macht der denn hier? Verfolgt er mich?

Nein, es gibt nur eine Lösung. »Sie arbeiten so viel, um Ihre arme Familie in Ungarn zu ernähren, stimmt’s?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich will reich werden, damit ich eine gute Frau kaufen kann.«

»Machen Sie das lieber nicht«, rate ich ihm. »Sie würden es bereuen. Allein ist man noch am besten dran.«

Aber Herr Béla lässt sich nicht beirren. »Ein Mann braucht eine Frau«, behauptet er. Selber schuld.

Auf dem Rückweg von den Toiletten komme ich an einem Gast im Karohemd vorbei, der versunken vor seinem Glas sitzt.

»Was machen Sie denn hier?«, fährt er mich an. Es ist Herr Fröhlich. Er sieht zornig aus.

»Ich wollte nur Zigaretten holen«, stammle ich, »bin gleich wieder weg. Tut mir echt leid wegen Ihrer Tochter.«

»Setzen Sie sich«, befiehlt Fröhlich und winkt Herrn Béla, mir auch ein Glas von dem Gesöff zu bringen, das vor ihm steht. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er gleich mit mir vor die Tür gehen will. Wahrscheinlich möchte er mich erst psychisch brechen und dann physisch. Oder hat er es auf noch mehr Geld für seine Tochter abgesehen? Auf jeden Fall habe ich gerade echt andere Sorgen als diesen überambitionierten Vater.

Herr Béla stellt mir ein Glas hin.

»Was ist denn das?«, will ich wissen.

»Papa Ice Tea.«

Ich seufze. Schon wieder dieser Kindersekt, nein, diesmal wohl ein Kindercocktail. »Ohne Alkohol?«

Herr Béla schüttelt den Kopf und grinst. »Papa ist der Kosename meines Heimatdorfes. Der ganze Name ist zu lang für die Getränkekarte.« Er sieht Fröhlich fragend an.

Der deutet auf seinen Deckel. »Heute gehen alle Drinks auf mich. Ich schulde dem Mann noch Geld.«

Der will die kompletten fünfzig Euro versaufen, die er mir vom Eintritt schuldet? Na, dann Prost. Aber immerhin zivilisierter, als sich zu prügeln.

»Stanley«, sagt er und nimmt sich, ohne zu fragen, eine Zigarette aus meiner Schachtel. Ich murmele meinen Vornamen und tue es ihm gleich. Wir stoßen an und trinken. Der Papa Ice Tea schmeckt wie ein guter Drink, der ohne unalkoholische Geschmacksverstärker auskommt. Es schüttelt mich sogar kurz. Eine Weile rauchen wir schweigend, während mein Gegenüber offenbar seinen Gedanken nachhängt. Irgendwann drückt Stanley seine Kippe aus und zündet sich eine zweite an.

Ich räuspere mich. »Wir hatten einen schlechten Start – der Stress im Sandkasten, der Ärger im Tanzkurs –, du kannst mir gern noch eine reinhauen, aber bitte erst, wenn ich ein paar von diesen Drinks intus habe.«

Er schaut mich erstaunt an und winkt ab. »Ich hab gerade andere Sorgen. Emma und ich haben uns gestritten.« Will der jetzt echt mit mir ein Männergespräch führen?

»Lass mich raten: wegen des Gutscheins für Paula. Tut mir echt leid, dass ich sie heute, nun ja, wie sagt man das am besten? Mit einem großen Bollerchen bedacht habe?«

»Ach, Blödsinn. So was ist mir früher auf Partys ständig passiert.«

Auf Partys? Diesem Spießer? Ich glaube ihm kein Wort.

Er seufzt, als lastete die Entscheidung über ein drittes Kind auf seinen Schultern. »Wegen der Tattoos.«

Jetzt muss ich wirklich lachen. Offenbar wollen mich heute alle zum Narren halten. Dafür habe ich jetzt echt keinen Nerv. Ich stecke meine Zigaretten ein und will gehen. Aber Stanley bleibt ernst.

»Ich will mir seit Jahren die Unterarme tätowieren lassen, aber meine Frau meint, das gehöre sich nicht für einen höheren Beamten.«

»Ich glaube dir kein Wort.«

»Dass ich Beamter bin?«

»Na ja, das schon.«

Wortlos öffnet er sein Karohemd. Nur zwei Knöpfe – und schon sehe ich Kirschblüten und die grüngelben Schuppen eines asiatischen Drachens über seinem Schlüsselbein. Ich muss an die japanischen Yakuza denken, die ihre Tätowierungen verstecken, damit die Gesellschaft ihr wahres, wildes Wesen nicht auf den ersten Blick erkennt.

»Mit Stock gestochen«, erklärt Stanley Fröhlich. »Zeckt ganz schön, ist aber original.« Sein ganzer Oberkörper sei tätowiert, erklärt er. »Bis zum Hintern – wie ein T-Shirt und Shorts.« Zum Beweis krempelt er die entsprechenden Kleidungsstücke hoch. Nun wolle er sich endlich auch die Unterarme stechen lassen, aber seine Frau sei dagegen. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr liebe er seine Tattoos. »Emma habe ich erst zehn Jahre später kennengelernt.«

Der Kerl wird mir gerade sympathisch. Und wenn er tatsächlich der Familie abschwört, um sich tätowieren zu lassen, habe ich den perfekten Protagonisten für meine Reportage gefunden.

Herr Fröhlich fährt mit dem kleinen Finger die Silhouette des Drachenrückens auf seinem linken Oberarm entlang.

»Früher habe ich keine Party ausgelassen. Aber dann kam eins zum anderen, und ehe ich mich versah, war ich Gewinner«, sein Ton klingt verächtlich, »des Goldenen Bubsi.«

Wer hätte gedacht, dass auch Familienväter ab und zu den Ruf der Wildnis spüren? Jetzt könnte ich ihn auf meine Seite ziehen. Aber offen gesagt, bin ich dazu schon viel zu betrunken und will jetzt nicht ans Arbeiten denken. Außerdem mag ich seine Tattoos, und das hier ist der erste anständige Abend seit Langem. Vor allem aber habe ich mich heute schon auf seine Tochter übergeben, das reicht eigentlich an Zumutung.

»Bleib du lieber bei deiner Familie, Stanley Fröhlich, bevor Herr Béla sie dir abkauft.« Ich deute zum Barchef, der das zum Anlass nimmt, sich zu uns zu setzen.

Ist eh kein Gast mehr da außer uns. Weil wir schon zu viel getrunken haben und in bester Herrenrundenstimmung sind, weise ich den Ungar darauf hin, dass er sich besser eine Frau nehmen sollte, die er nicht kaufen muss.

Aber der Ungar will nicht von seiner These abrücken. »Jeder Mann zahlt. Viele geben das Geld nur nicht auf einmal aus.«

Das sollte ich mir für meinen Artikel merken. Jetzt aber halte ich erst mal eine vom Papa Ice Tea entflammte Laudatio auf die Freiheit des Mannes, den Alkohol, durchzechte Nächte, wilde Partys und das Grundrecht auf Polygamie. Die beiden anderen sehen mich verwundert an.

»Du haust ja ganz schön auf die Kacke für einen Vater«, findet Stanley. Der Psychologe hatte recht, was diese Pillen angeht. Zum Glück sind auch die anderen beiden schon betrunken, und so einigen wir uns schnell darauf, einfach auf die guten, alten Zeiten anzustoßen, als man noch jung und wild war – einmal, zweimal, zehnmal.

Im Lauf des Abends verspricht mir Stanley Fröhlich, zu seiner Frau zurückzukehren und sich mit ihr zu vertragen. Herr Béla will von nun an auf sein Herz hören und seine wahre Liebe suchen. Ich dagegen gebe den beiden mein Wort, mich nicht mehr nachts in Clubs herumzutreiben.

»Wahrscheinlich bist du deshalb überhaupt erst in der Sauna umgekippt«, vermutet Stanley.

»Ich hatte eine Panikattacke.«

Mein Gegenüber schaut mich aufmerksam an und schüttelt ungläubig den Kopf. »Wovor soll ein Kerl wie du denn Panik haben? Vor dem zweiten Kind?«

Ich atme tief durch. »Wir kriegen kein zweites Kind, Stanley«, erkläre ich ihm. »Dieser andere Vater hat da irgendetwas falsch verstanden. Es ist nicht leicht, so ein Missverständnis aufzuklären.«

Stanley Fröhlich wird mit einem Mal sehr ernst. »Tut mir leid. Manchmal bin ich so sehr mit meiner Familie beschäftigt, dass ich gar nicht richtig mitkriege, was um mich herum passiert.« Er greift über den Tisch und nimmt meine Hand. »Keine Sorge. Das klappt schon noch.« Er hebt sein Glas und ich meines.

Irgendwann löscht Herr Béla die Lichter der Bar. Die vergangene halbe Stunde habe ich gar nicht mehr so richtig mitbekommen. Stanley hat tatsächlich alle Drinks bezahlt.

Ich glaube, er hat auch angefangen, mich für den Familiencontest zu coachen. Erinnere mich nur noch an Begriffe wie »Erziehung«, »Bildung«, »Sozialisation« – und was war da noch? Hoffentlich fragt er mich morgen nicht ab. Herr Béla bringt uns zu Fuß ins Hotel. Wir brauchen eine Stunde.

Als ich mich in der Lobby von meinen neuen Freunden verabschiede, bin ich so betrunken, dass ich tapse, anstatt zu gehen. Kurz überlege ich, noch bei der heißen Frau Fröhlich zu klopfen, ins Bett will ich nämlich noch nicht. Denn erstens schnarcht Anne so laut, dass man sie schon wirklich lieben muss, um neben ihr schlafen zu können, zweitens finde ich es unmoralisch, in der Gegenwart von kleinen Kindern betrunken zu sein. Aber wohin? Vielleicht liegt es an den Tabletten, am Papa Ice Tea, an meinem Familienplädoyer oder einer Kombination aus alledem – jedenfalls komme ich auf die beste Idee seit Langem: ein Zimmertausch mit Mr. Perfect.

Er wird ja wohl lieber bei seiner Familie schlafen als allein in der Reicher-Onkel-Suite. Bei mir ist es umgekehrt. Und weil er mich in den letzten Tagen ein paarmal auf Händen getragen hat, bin ich ihm etwas schuldig.

Im Fahrstuhl drücke ich die oberste Taste. Die Fahrt dauert nicht lang. Angekommen im sechsten Stock, stütze ich mich abwechselnd rechts und links an den Wänden ab und hinterlasse Handflächenabdrücke, die glatt als Höhlenmalereien durchgehen würden. Egal – morgen fällt der Verdacht sicher auf die Kinder, und denen wird eh verziehen.

Die Suite liegt am Ende des Gangs. Wie in den Filmen. Ich klopfe. Nichts. Sicherheitshalber horche ich an der Tür. Aber drinnen ist es absolut still. Ich klopfe lauter. Als sich immer noch nichts tut, hämmere ich gegen die Tür und rufe: »Zimmerservice!« Genau genommen ist das nicht mal gelogen.

Ich höre Schritte im Zimmer.

Mr. Perfect öffnet die Tür. Zumindest hat der Kerl vor mir seine Statur. Von seinem Gesicht kann ich nichts erkennen, denn es besteht offenbar aus Quark. Dazu hat er sich wirklich zwei Gurkenscheiben auf die Augen gelegt. Ich dachte, so etwas macht man nur im Film. Der Quark wird in der Mitte von einer Zornesfalte zerfurcht.

»Willst du schon wieder umkippen, oder was?«, fährt mich der Gurkenmann an. Eindeutig Mr. Perfect.

Ich senke meinen Blick, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Gleichzeitig befremdet mich der Gedanke, von einem Mann noch am Mittag als Mädchen beschimpft zu werden, der abends Gesichtsmasken aus Frauenzeitschriften anrührt.

»Nein, dafür würde ich nicht extra hier hochgurken, also, ich meine fahren.«

»Bist du betrunken?«

»So ein Quark! Ich meine Mist. Nein!«

»Was willst du?«

Ich nehme alle Kraft zusammen und sehe ihn an. »Mich bedanken. Du hast so viel für mich getan, und ich halte dich nur davon ab, mit deiner Familie zusammen zu sein. Das ist nicht richtig. Du bist ein guter Mensch. Du tust so viel für die Mütter und Väter dieser Welt. Ich wollte dir mein Zimmer anbieten, als Dank. So kannst du bei deiner Familie schlafen.«

Keine Ahnung, was unter der ganzen Schmiere vor sich geht. Mr. Perfect steht einfach nur da, die Gurkenscheiben auf mich gerichtet.

»Ist schon ein bisschen spät.« Er macht Anstalten, die Tür zu schließen.

Ich traue meinen Ohren nicht. Der Kerl soll der perfekte Ehemann und Vater sein? Er scheint ganz glücklich ohne seine Familie. Ich zucke mit den Schultern und wende mich zum Gehen.

»Na gut, dann werde ich das Anne mal so ausrichten.«

Hinter mir höre ich ein tiefes Seufzen.

Wenig später liege ich auf der besten und breitesten Matratze des Hotels. Was für ein Luxus! Es gibt sogar eine vom Bad getrennte Toilette!

Auf Mr. Perfects Schreibtisch liegen irgendwelche Grundrisse. Der Typ hört wohl nie auf zu arbeiten. Leider verschwimmen alle Zahlen und Linien vor meinen Augen.

Die Anspannung fällt von mir ab. Wer hätte gedacht, dass der Tag doch noch so endet? Ob ich mir Champagner bestellen soll? Ich wähle die Nummer des Zimmerservice und wundere mich nicht, als Herr Béla abnimmt.

Kurz darauf klopft es an der Tür. Das ging ja schnell. Oder ist es Mr. Perfect, der seinen Gurkenquark vergessen hat? Hoffentlich will er nicht sein Zimmer zurück. Am besten, ich bleibe einfach liegen.

Es klopft erneut. Eine Frauenstimme flüstert so laut es geht: »Mr. P.! Pst, ich bin es!«

Seltsamerweise bekomme ich eine Gänsehaut. Meine Knie werden weich, diesmal allerdings vor Aufregung. Woher kenne ich denn diese Stimme? Stanleys Frau ist es garantiert nicht, oder?

Langsam stehe ich auf und gehe zur Tür. Meine Hand schwitzt, während sie die Klinke herunterdrückt. Die Tür öffnet sich einen Spalt.

Ich traue meinen Augen nicht: Da steht Adoré.

Sie ist älter geworden, kein Zweifel, es ist ja auch zehn Jahre her, dass sie mich von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Wahrscheinlich ist sie bloß eine Alkohol-und-Psychopharmakabedingte Halluzination. Aber sosehr ich auch zwinkere, sie will nicht weggehen.

Weil ich wie versteinert im Türrahmen stehe, streckt sie die Hand aus – mit einer mädchenhaften Geste und einem Lächeln, das mich sofort wieder genauso verzaubert wie vor zehn Jahren.

»Guten Abend, entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte zu Mr. Perfect, ich habe einen Termin.«

Ihre Arme führen ein paar engagierte Joggingbewegungen vor.

»Fitness«, erklärt sie. »Ich wusste nicht, dass er noch einen Kunden hat.« Sie schüttelt den Kopf, als sei ihr etwas Wichtiges eingefallen. »Ich habe mich nicht vorgestellt, bitte entschuldigen Sie: Ich bin die Pressefrau des Hotels.« Sie streckt ihre Hand aus. Die fühlt sich auch an wie damals. Ich sehe ihr in die Augen.

»Mein Name ist Adoré Baroudel«, sagt sie.

»Ich weiß«, entgegne ich und bitte sie herein.

Im Zimmer zieht sie ihre Jacke aus und mustert mich. Sie legt den Kopf ein wenig schief, betrachtet mich lange, atmet dann tief ein und aus. Wie ein Seufzer, nur viel zärtlicher. Das Lächeln weicht nicht von ihren Lippen. Sie lässt meine Hand los und streicht über mein Gesicht, als wäre ich ein ausgestorbenes Tier.

»Caspar Hartmann«, flüstert sie ebenso leise wie verwundert. Keine Ahnung, wie sie das macht, jedes ihrer Worte, jede Geste dringt direkt in mein Herz.

Ich bin verloren.

Schon wieder.

»Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«, fragt sie leise lockend.

Wir sind füreinander bestimmt.

»Ich war immer hier«, sage ich – keine Ahnung, warum.

Bin wie ferngesteuert.

Kann nicht nachdenken, auch nicht reden.

Also küsse ich einfach.