Familientag
Um sechs Uhr morgens werden auf allen Etagen Kinder gejagt – zumindest klingt es so. Ein Geschrei, Gerenne und Gestampfe wie bei einer Hetzjagd. Schon nach kurzer Zeit erkenne ich ein Muster: Erst machen die Kinder Lärm, dann sagen die Eltern, die Kinder sollen bitte noch »einen Moment« liegen bleiben und ruhig sein. Daraufhin stehen die Kinder auf und schreien lauter, bis sich schließlich auch die Eltern aufrappeln, hinter ihnen herlaufen und ebenfalls schreien. Am Ende weinen erst die Kinder und dann die Eltern, weil es ihnen leidtut und man ja nicht schreien soll. Das alles vor dem Frühstück.
»Ich will Joghurt!«, brüllt Leonie auf dem Bett ihre Mutter an, ohne es überhaupt erst freundlich zu versuchen. Kurz darauf steht Anne auf und verschwindet mit ihr im Bad.
Zehn Minuten später stehen beide ausgehfertig vor mir. Kaum zu glauben: zwei Frauen, nur zehn Minuten im Bad – das muss ein Traum sein.
»Caspar, aufstehen, frühstücken! Wir sind spät dran. Es ist neun.«
Neun Uhr? Das ist ja mitten in der Nacht! Ich dachte, wir sind im Urlaub.
»Geht schon mal vor«, entgegne ich und schließe die Augen.
»Wir sind hier eine Familie«, höre ich Annes Stimme, »wir frühstücken zusammen!«
»Lass uns altmodisch sein: Ich verdiene das Geld, du kümmerst dich um die Kinder.«
Einen Moment ist es totenstill im Zimmer. Gerade schlummere ich wieder ein, da spüre ich ein Kratzen auf meiner Stirn. Offenbar tastet Leonie mit ihren kleinen Fingerchen mein Gesicht ab, um zu überprüfen, ob ich wirklich schlafe. Das habe ich als Kind auch immer bei meinen Eltern gemacht. Aber so leicht lasse ich mich nicht zum Aufstehen bewegen. Das Kitzelkratzen geht von der Stirn über die Augenlider zur Nase, erst rechts, dann links zum Jochbein und schließlich zum Kinn.
»Was hast du denn da Schönes gemalt?«, fragt Anne interessiert.
»Eine Katze«, erklärt Leonie stolz.
Anne kichert. »Jetzt nimm den roten Edding und male noch ein Katzenbaby dazu, okay?«
Ich schrecke hoch und brülle: »Habt ihr sie noch alle?«
Leonie versteckt sich hinter Anne.
»Das sind die ältesten Partyregeln der Welt: Wer einschläft, wird angemalt.« Anne sieht mich an und grinst. »Armer schwarzer Kater.«
Aus dem Stand springe ich hoch, keine zwei Sekunden später stehe ich im Schrankklo vor dem Spiegel: Mein Gesicht ist ungewaschen, unrasiert – und unbemalt.
»Und das ist der älteste Kindertrick der Welt. Aber da du jetzt eh im Bad bist, wasch dich schnell, zieh dir saubere Klamotten an, und komm zum Frühstück. Wir warten im Speisesaal, ich bestelle dir Kaffee. Lass ihn nicht kalt werden!«
Die Zimmertür fällt ins Schloss.
Beim Frühstück sitzen wir diesmal zum Glück allein. »Wahrscheinlich weil wir spät dran sind«, vermutet Anne. »Wenn du Kontakt zu anderen Vätern knüpfen willst, musst du früher aufstehen.«
»Habe ich alles gestern erledigt«, murmele ich, während ich mein Rührei mit Speck in mich hineinstopfe.
Der werdende Zweifachvater von gestern steht gar nicht weit von uns entfernt. Offenbar hat er mit seiner Familie gerade das Frühstück beendet. Seine Frau trägt ein Baby auf dem Arm und einen kleinen Bauch unter dem Kleid. Keine Ahnung, wie es rechnerisch möglich ist, so kurz hintereinander zwei Kinder zu kriegen. Auch er hat mich erkannt. Sie kommen zu uns herüber.
»Herzlichen Glückwunsch, ihr drei!«, ruft er und breitet die Arme aus. Anne steht verwundert auf. Einen Moment starre ich den Kerl überrascht an, dann fällt mir der gestrige Abend auch inhaltlich wieder ein, und ich verschlucke mich an meinem Rührei. Der Vater nutzt die Zeit, um Anne zu umarmen.
»Ich weiß, es ist noch nicht offiziell, aber alles, alles Liebe für euch!« Stolz legt er die Hand auf den Bauch seiner Frau und sieht mich auffordernd an. Ich wage es nicht, Anne anzuschauen. Verlegen lächelnd lege ich meine Hand auf Annes Bauch. Die wirkt wie paralysiert. Sie ist so erschrocken, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, meine Hand wieder wegzunehmen. Ich zucke vorsichtig mit den Schultern.
»Es ist mir eben so rausgerutscht, Schatz.«
Die werdende Mutter nimmt Annes Hand. »Keine Sorge, wir behalten euer kleines Geheimnis für uns.« Dann wendet sie sich an Leonie. »Wünschst du dir lieber ein Brüderchen oder ein Schwesterlein?«
»Ein Gummibärchen«, entgegnet Leonie trotzig.
Die beiden Eltern halten sich kichernd in den Armen. Dann zückt der Vater ein Ultraschallbild.
»Wir sagen auch immer unser Gummibärchen, hihi.«
Anne will zum Büfett fliehen. »Ich hole mir jetzt einen Prosecco. Ist gut für den Kreislauf.«
Der werdende Vater sieht sie an wie ein Verkehrspolizist, der einen betrunkenen Raser erwischt hat. »Das sollten Sie nicht tun. Für Sie ist Alkohol ab sofort tabu«, bestimmt er. Wahrscheinlich leitet er daheim die Anonymen Alkoholiker.
»Ich denke, ich bin alt genug, um das selbst zu entscheiden«, protestiert Anne.
Jetzt legt ihr die werdende Mutter auch noch die Hand auf den Bauch. »Es geht nicht mehr nur um Sie.«
Anne durchbohrt mich wutschnaubend mit nicht jugendfreien Blicken. Aber sie reißt sich zusammen.
Leonie hat unterdessen nur noch ein Ziel im Kopf. »Bitte Gummibärchen!«, insistiert sie.
Rasch zückt der Vater eine Tüte Gummimannles aus der Tasche, reißt sie auf und schaut fragend zu Anne und mir.
»Sie darf doch?«
»Ja«, antworte ich.
»Nein«, entgegnet Anne.
Der Vater stutzt kurz, sieht seine Frau an, die nickt jovial, und schon liegt ein aufgerissenes Silbertütchen Gummimannles vor Leonie. Die greift in die Tüte, stopft sich die Hälfte in den Mund und sieht den werdenden Vater an.
»Danke, Papa.« Jetzt schaut Anne so richtig erstaunt. Mein Zechkumpan von gestern Nacht ebenfalls. Er deutet auf mich. »Dort sitzt dein Vater, Mäuschen.«
»Nein«, entgegnet Leonie. Nicht schon wieder.
»Doch«, entgegne ich, aber die werdende Mutter winkt ab. »Die ist bestimmt gerade in ihrer Nein-Phase, oder?«
»Ja.« Anne und ich nicken erleichtert.
»Nein«, meint Leonie.
»Darf sich meine Frau bitte kurz setzen?«, fragt der Vater zuvorkommend.
»Nein«, antwortet Leonie.
Trotzdem rücken wir zusammen. Der Vater zieht sich einen Stuhl heran.
»Lassen Sie sich nicht stören, machen Sie einfach so weiter wie immer.«
Ich zucke mit den Achseln und schaufele also weiter mein Rührei in mich herein. Leonie versucht unterdessen, das von Anne zur Hälfte mit Butter bestrichene Brot zu vervollständigen – aber vergebens. Sie schafft es einfach nicht, die Butter mit der Schneide aus dem Silberpapier zu balancieren und gleichmäßig auf der Brötchenhälfte zu verteilen. Aber das wird sie schon noch lernen.
Anne tritt mir unter dem Tisch auf den Fuß. Wahrscheinlich aus Versehen. Ich esse konzentriert weiter. Jetzt starren mich vier Augenpaare an.
»Was ist denn?«, frage ich.
»Ja, wollen Sie Ihrer Tochter denn nicht helfen?«, fragt der werdende Vater. Ich schaue Leonie an, die wieder ihren Trotzblick aufgesetzt hat. Allmählich wird mir diese Elternnummer echt zu viel.
»Nein, will ich nicht.«
»Der Caspar tut nur so«, winkt Anne ab. »Weil er jetzt endlich mal Urlaub hat. Daheim macht er nichts lieber als abwaschen und kochen. Er ist ein echter Hausmann, Autos und Fußball interessieren ihn überhaupt nicht.«
»Ich dachte, er ist Automechaniker«, entgegnet der Vater.
Anne errötet. »Stimmt, aber im Moment nimmt er sich gerade eine Familienauszeit, nicht wahr, Schatz?«
Zum Glück fängt in diesem Moment das Baby an zu schreien und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Während ich Leonies Toast daumendick mit Nutella beschmiere, lässt Anne ihren Kopf in die Hände sinken.
»Stört es Sie, wenn der kleine Ben auch isst?«, fragt die Mutter.
»Nein, ganz und gar nicht«, entgegne ich. Hauptsache, ich muss nicht noch ein Kind bedienen und kann mich endlich wieder meinem Rührei widmen.
Plötzlich holt die Frau ihre linke Brust heraus und steckt sie dem Kind in den Mund, als wären wir hier am FKK-Strand. So etwas haben Frauen in meiner Gegenwart noch nie gemacht. Klar haben die sich ausgezogen, und natürlich weiß ich über Stillen Bescheid, aber den Vorgang an sich habe ich noch nie live miterlebt.
»Starren Sie mir auf die Brust?«
»Nein!«, entgegne ich entsetzt und versuche, meinen Blick auf Leonie zu richten. Die hat sich unterdessen die erste Hälfte Nutellabrötchen in den Mund gestopft.
»Ihr Kind hat einen gesunden Appetit«, beglückwünscht mich der Vater.
»Danke gleichfalls«, murmele ich verlegen. Zum ersten Mal ist mir eine nackte Brust unangenehm. Dabei bin ich doch sonst nicht so schüchtern.
»Wie alt ist Ihre Tochter denn?«, will er wissen.
Gute Frage. »Zwei«, rate ich.
»Zweieinhalb«, korrigiert Anne.
Leider kann ich mich gar nicht konzentrieren, solange diese nackte Brust in unserer Runde sitzt. Auch Leonie schaut dem kleinen Baby gebannt beim Trinken zu. Die Stille am Tisch wird nur durch genüssliches Schmatzen unterbrochen.
»Schade, dass wir heute schon fahren«, bemerkt der Vater schließlich. Ich sehe Anne erleichtert an.
Zum Glück fängt das Baby erneut an zu weinen, und seine Mutter steht auf, um es etwas herumzutragen. Auch Leonie wird unruhig und will unbedingt in dem riesigen Sandkasten vor dem Hotel spielen.
Beim Abschied bittet mich die Frau, ihrem Mann meine Handynummer zu geben, weil »der dringend mal wieder einen trinken gehen sollte«. Seit die beiden verheiratet seien, habe er den Kontakt zu seinen Kumpels abgebrochen und hocke nur noch zu Hause vor dem Fernseher, erzählt sie mir, während ihr Mann daneben steht. Ich nicke verständnisvoll und gebe ihm die Handynummer meiner Stalkerin Nadine. Die steht ja auf Familien.
Oben auf dem Zimmer stampft Anne vor Wut mit dem Fuß auf. »Wie kommst du bloß auf die Idee herumzuerzählen, dass ich schwanger sei? Und das auch noch vor dem dritten Monat?«
Ich erkläre ihr, dass der Typ wohl irgendetwas missverstanden haben muss, aber Anne glaubt mir kein Wort. Sie ist total sauer und meint, sie müsse jetzt »sofort ins Spa«.
Ich soll unterdessen mit Leonie im Sandkasten vor dem Hotel spielen, damit sie sich an mich gewöhnt und wir uns ein bisschen besser kennenlernen. Außerdem könne ich da beobachten, wie andere Väter mit ihren Kindern umgehen.
Anne drückt mir einen Zettel in die Hand. Darauf stehen Leonies wichtigste Daten: von Geburtsdatum, Körpergröße, Gewicht und Alter über Impfungen, Lieblingsessen und Lieblingsbücher bis hin zum Namen ihrer Lieblingskopfbedeckung: der Fützelmütz.
Gemeinsam verlassen wir das Zimmer. Anne hat uns einen Rucksack mit Vollkornkeksen, Obst, Windeln, Sandförmchen und anderen Kinderutensilien gepackt – als würden Leonie und ich zum Spielen mal eben die Zivilisation verlassen.
An der Rezeption treffen wir doch noch mal den werdenden Vater und seine Frau. Zum Glück ist die jetzt vollständig angezogen. Gerade haben sie ausgecheckt und tauschen Adressen mit Familie Fröhlich. Anne gibt schnell den Schlüssel ab, winkt mir zum Abschied und rennt in Richtung Spa.
»Halt!«, ruft ihr der werdende Vater hinterher. »Sie wollen doch nicht etwa in die Sauna?« Die Blicke der Anwesenden richten sich interessiert auf meine Frau. »In den ersten drei Monaten reagiert das ungeborene Kind stark auf ungewohnte Umwelteinflüsse. Durch bestimmte Düfte oder einen Aufguss können sogar Wehen ausgelöst werden.«
Herr und Frau Fröhlich schauen überrascht. So viel zum Thema Diskretion.
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, flötet Anne lächelnd und nimmt lieber die Treppen, anstatt auf den Fahrstuhl zu warten. Jetzt richten sich die Blicke auf Leonie und mich.
»Wollen Sie Ihre Frau denn nicht aufhalten?«, fragt der Vater besorgt.
Ich schüttele den Kopf. »Frauen kann man nicht aufhalten.«
Jetzt nicken die beiden Männer synchron.
»Andererseits ist Saunieren ja auch gut gegen Wassereinlagerungen«, konstatiert Frau Fröhlich.
Ihr Mann nickt. »Regelmäßige Saunabesuche entspannen die Muskeln und bereiten den Körper auf die Geburt vor.«
»Nur niedrige Temperaturen und viel trinken«, ergänzt die Schwangere.
»Ich muss dann los«, verkünde ich mit bedeutungsschwangerem Seitenblick auf Leonie.
»Ja, klar«, sagt Herr Fröhlich und zwinkert mir zu. »Herzlichen Glückwunsch zum Zweiten.«
Seine Frau knufft ihn scherzhaft am Arm, dann sieht sie mich ebenfalls lächelnd an: »Mit dem zweiten Kind steigen Sie in die Liga der echten Eltern auf.«
Auf den Bänken, die rund um den Sandkasten aufgestellt sind, sitzen einzelne Väter oder Mütter in Zweier- und Dreiergrüppchen. Ich kenne hier nur den Architekten. Er baut mit Obi eine Sandburg, nein, er baut die Burg allein. Obi sitzt einfach nur da und schaut zu. Gerade setzt der Architekt eines von acht identisch langen Zweigchen als Stützbalken ein. Wahrscheinlich hat das Anwesen sogar einen Keller mit Pool.
»Obi!«, ruft Leonie begeistert und rennt auf ihren Freund von gestern zu. Bevor sie bei ihm angekommen ist, fällt ihr Blick auf die Burg. Ihre Augen gleiten von Turm zu Turm über die Zinnen zum Innenhof. Ohne zu zögern, hebt sie den rechten Fuß und tritt gegen den Turm, der ihr am nächsten ist. Der Terrorgnom schlägt zu. Dann lässt sich Leonie mit ihrem ganzen Gewicht auf die Burg plumpsen und reißt mit ihren kleinen Händchen eine Mauer nach der anderen ein. In weniger als zehn Sekunden hat sie die Burg dem Erdboden gleichgemacht.
Der Architekt schnappt nach Luft. Leonie liegt auf dem Boden und wischt mit ihren Gliedmaßen hin und her – wie Kinder, die Engelsfiguren in den Schnee wischen. »Engelchen«, ruft sie dabei und zeigt ihre Milchzähne. »Engelchen!«
Der Architekt sieht aus, als hielte er Leonie eher für ein Teufelchen, das gerade seine Sixtinische Kapelle plattgemacht hat. Obi dagegen lacht und klatscht in die Hände. Wahrscheinlich hatte er den gleichen Plan.
»Kinder!«, sage ich matt, biete dem Architekten eine Zigarette an und stecke mir eine zwischen die Lippen. Muss es ausnutzen, dass Anne mich gerade nicht sieht. Außerdem sind Obi und Leonie nun vollauf damit beschäftigt, in den Trümmern von Ground Zero ein Loch zu graben.
Der Architekt schüttelt entsetzt den Kopf. »Das ist ein Kinderspielplatz, Sie dürfen hier nicht rauchen.«
»Hier steht aber kein Schild.«
»Das muss es auch nicht. Eltern wissen so etwas. Sie etwa nicht?«
»Es ist kompliziert«, entgegne ich.
Leonie schnappt den Satz auf und versucht, das schwere Wort zu wiederholen: »Es ist kompi. . . klompitz. . .«
»Kompliziert«, erkläre ich etwas genervt, schnippe die Zigarette in den Sandkasten und trete sie aus. Kaum habe ich meinen Fuß von dem Stummel genommen, hebt ihn der Architekt auf und hält ihn mir vorwurfsvoll hin, als wäre er der Beweis für meine Verdorbenheit.
»So eine Zigarette kann ein Kind vergiften! Was sind Sie nur für ein Vater?«
Die um den Sandkasten sitzenden Eltern nicken beifällig. Zum Glück ist der Psychologe nicht hier.
Wahrscheinlich hat er recht. Wahrscheinlich haben sie alle recht. Anne auch. Ich muss mich auf das Thema Familie einlassen und mich um meine Tochter kümmern wie ein guter Daddy. Sonst kann ich die ganze Geschichte vergessen. Also nehme ich die Kippe und befördere sie vor den Augen aller in den Mülleimer am Eingang. Dann greife ich in meine Tasche, hole meine letzte Schachtel Zigaretten heraus, halte sie hoch, dass alle sie sehen können, zerknülle sie und schmeiße sie hinterher. Der Architekt im Sandkasten nickt zufrieden.
Leonie breitet die Arme aus und rennt auf mich zu. Ich fange sie vorsichtig auf und hebe sie hoch.
»Was willst du denn spielen, meine Süße?«
Leonie deutet auf die Rutsche. Ich stelle sie vor die Leiter, aber sie traut sich noch nicht, allein hochzuklettern. Während sie dort steht, bildet sich hinter ihr eine kleine Schlange. Geduldig erkläre ich den anderen Kindern, dass Leonie noch klein ist und sie als die Großen bitte ein wenig warten können. Die anderen Eltern schauen selig zu uns herüber oder wenden sich wieder ihren Zeitschriften und Gesprächspartnern zu.
Sprosse für Sprosse helfe ich Leonie, die Rutsche hinaufzusteigen. Oben angekommen, strahlt sie wie ein Honigkuchenpferd über ihren kleinen Triumph. Ehe ich um die Rutsche herumlaufen kann, flitzt sie schon mit aufgerissenem Mund hinunter und knallt ungebremst in den Sand. Sofort fängt sie bitterlich an zu weinen.
»Mama!«, ruft sie. »Maaamaaa!« Eine Schocksekunde lang stehe ich hilflos da. Dann sehe ich vor meinem inneren Auge das Bild von Herrn Fröhlich, wie er Leonie aus dem Hochstuhl hebt. Ich nehme die Kleine auf den Arm.
»Diese Scheißrutsche«, flüstere ich dabei und streiche Leonie die Sandkörner vom Kinn. »Und dieser verschissene Sand.«
Leonie ruft abwechselnd nach ihrer Mama und ihrem Schnuller, aber ich habe gerade keines von beidem da. Also fische ich ein Gummimannle aus der Hosentasche und stecke es ihr in den Mund.
»Danke, Papa.«
Wir setzen uns ein wenig abseits. Auf der Bank neben mir wickelt der Architekt gerade Obi. Leonie beruhigt sich ein bisschen und schaut interessiert zu. Sie wird mir schon sagen, wenn sie selbst eine frische Windel braucht.
Wenig später will Leonie wippen. Ich setze sie auf die eine und mich auf die andere Seite. Sofort sinke ich in den Sand, während Leonie in die Höhe schießt. Als ob ich so schwer wäre!
Der Architekt, der mich beobachtet hat, kommt mit Obi hinzu, und ich tausche mit dem Jungen den Platz. Jetzt ist die Wippe im Gleichgewicht. Einen Moment lang wippen die beiden Kinder einträchtig, dann lässt Leonie plötzlich die Bügel los und sich hintenüberfallen. Sie plumpst in den Sand, fängt wieder an zu weinen, Obi stimmt ein. Diesmal hebe ich sie sofort hoch und drücke sie an mich.
Zum Glück habe ich jede Menge Gummimannles dabei. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die anderen Eltern registrieren, dass sich Leonie beruhigt, sobald ich sie auf den Arm nehme. Je mehr ich mich um die Kleine kümmere, desto mehr mögen sie mich. Von nun an werde ich einfach nicht mehr von ihrer Seite weichen.
Die nächste Stunde spielt Leonie ganz friedlich im Sand. Sie leiht sich hier ein Förmchen und da ein Bobbycar. Wenn sie Durst hat, nimmt sie sich einfach eine Trinkflasche, die am Sandkastenrand steht, oder läuft zu einem Elternteil, das gerade sein Kind füttert, und schnorrt sich etwas zu essen. Sie ist wirklich selbstständiger, als ich dachte.
Mittlerweile ist auch Herr Fröhlich mit seinem Sohn Paul dazugestoßen. Der Kleine ist ein echter Racker: Sobald sein Vater wegschaut, schubst und haut er die anderen Kinder. Ich starre ihn nur böse an, damit er und sein Vater uns nicht zu nahe kommen. Aber Herr Fröhlich gesellt sich eh zum Architekten, der nun ganz damit beschäftigt ist, Paul davon abzuhalten, seinen kleinen Obi zu verprügeln.
Irgendwann will Leonie schaukeln. Als ich sie frage, ob sie das denn schon allein könne, schüttelt sie ehrlich den Kopf.
Das Holzgerüst mit den Schaukeln ist das Zentrum des Spielplatzes. Ganz brav stehen die Kinder mit ihren Eltern Schlange. Jeder darf etwa eine Minute schaukeln, dann ist das nächste Kind an der Reihe. Nur der kleine Paul drängelt sich vor.
»Hey«, rufe ich streng. »Hinten anstellen. Wir sind hier nicht im Klub.«
Der Junge schaut mich böse an, geht zu Leonie und schubst sie. Leonie fällt um, und prompt füllen sich ihre großen Kulleraugen mit Tränen. Obwohl ich den starken Drang verspüre, dem verzogenen Kerlchen zu zeigen, wer hier der Stärkere ist, muss ich mich an meine neue, väterlich-pädagogische Richtung halten. Ich nehme Leonie ein wenig beiseite und flüstere ihr ins Ohr, was sie als Nächstes machen soll. Leonie nickt.
Dann geht sie zu Paul, der direkt vor ihr in der Schlange steht, und klopft ihm von hinten auf die Schulter. Als er sich umdreht, zeigt sie ihm ihr schönstes Lächeln – und boxt ihn in den Bauch. Das zeigt leider nicht so viel Wirkung, wie ich erhofft hatte, aber immerhin setzt sich der Junge erstaunt auf den Hosenboden. Am Rand des Sandkastens springt Herr Fröhlich auf und stapft über Förmchen, Schäufelchen und Kinder hinweg auf mich zu wie ein Bulle in der Arena.
»Ihre Tochter hat meinen Sohn geschlagen, ich habe es genau gesehen!«, brüllt er. »Das werde ich Herrn Ainberger melden.«
»Der Kleine ist doch Träger des Goldenen Bubsi«, frotzele ich, »da wird er wohl einen Stupser von einem Mädchen wegstecken.«
Leonie marschiert an Paul vorbei, der noch immer verdattert im Sand sitzt. Dann hockt sie sich neben ihn und fängt an, ein neues Sandloch zu buddeln. Paul hilft sofort mit, der Streit scheint vergessen.
Ich deute auf die beiden. »Sehen Sie.«
Bevor Herr Fröhlich etwas erwidern kann, steigt das Kind vor uns von der Schaukel, und wir sind an der Reihe. Ich schnappe mir Leonie und nehme sie auf den Schoß. Herr Fröhlich will uns unbedingt anschubsen. Wenn es ihm Freude macht.
Wir schaukeln ein paarmal hoch, etwas höher und noch etwas höher. Leonie jauchzt vor Freude. Plötzlich höre ich den Balken über mir knarren. Ich drehe mich über die Schulter zu meinem Anschubser, aber der scheint voll in seinem Element.
Die Kinder in der Schlange rufen: »Höher, höher!«
»Caspar, stopp!«, bittet Leonie plötzlich. In dem Moment springt eine Öse der Schaukelkette aus dem Querbalken. Die linke Kette peitscht zur Seite, die Schaukel fällt quer hinterher, ich purzele zu Boden und Leonie auf mich drauf.
Ein Stich fährt durch meinen Rücken, ein erschrockenes »Huch!« geht durch die Reihen der Eltern, ich zähle die Sekunden, bis Leonie anfängt zu weinen. Aber die grinst mich nur fröhlich an.
»Lustig, oder?«, fragt sie eifrig. Ich nicke erleichtert.
Herr Fröhlich reicht mir die Hand. »Sachen gibt’s«, stellt er mit schlecht gespieltem Erstaunen fest und deutet mit dem Kopf zur Seite. »Ist echt gefährlich hier.«
Ich sehe ihm tief in die Augen und nicke. Eines hatte ich offenbar vergessen: Der Spielplatz ist die Arena der kleinen Leute.
Mein Gegner beugt sich über uns und schnüffelt. »Irgendwer hat sich hier in die Hose gemacht: Sind Sie das?«
Ein paar Eltern lachen. Ich rieche an Leonie. Sie stinkt tatsächlich.
»Dann werde ich sie mal wickeln gehen«, verkünde ich. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie das geht. Zur Not lasse ich einfach Anne ausrufen.
Herr Fröhlich und Paul winken zum Abschied.
Leonie winkt zurück.
Ich nicht.
Zum Glück ist Anne schon auf dem Zimmer. Sie macht sich Notizen, wahrscheinlich schreibt sie ihren ersten Triumph über mich auf. Um ehrlich zu sein, hätte ich mir so einen Sandkastenausflug mit Leonie nicht zugetraut.
Anne nimmt ihre Tochter gleich auf den Arm. »Hast du mich vermisst?«
»Nein!«
»Wie ist es denn so ohne mich, nur mit Caspar?«
»Es ist kompiziert«, antwortet die Kleine.
Meine Kollegin und ich lächeln wie stolze Eltern. Aber sofort haben wir uns wieder im Griff.
Den Rest des Tages verbringen wir zusammen im Spa. Dort entdecke ich heute nur die Familien mit ganz kleinen Kindern. Die größeren backen wahrscheinlich gemeinsam Pizza – das stand zumindest auf dem Tagesprogramm. Anne dagegen setzt sich gegen »jede Art von Kinderarbeit« ein, Leonie ist das Thema offenbar gleich, und ich werde nicht gefragt.
Was auffällt im Spa: Die meisten Mütter haben bessere Figuren als die Väter. Auch Anne könnte statt des ollen Badeanzugs locker einen Bikini anziehen. Die Architekten tragen selbst im Spa schwarze Bademäntel und darunter schwarze Badesachen.
Leonie planscht nur mit Schwimmwindel und Schwimmflügeln bekleidet herum. Anne wirft sie hoch und fängt sie auf. Ich bleibe lieber auf dem Liegestuhl und beobachte das Ganze vom Trockenen aus, denn ich weiß noch aus eigener Erfahrung, wie gern ich als Kind ins Becken gepinkelt habe.
Diesmal bringen wir Leonie noch vor dem Abendessen ins Bett. Sie ist von der frischen Luft und der Bewegung so müde, dass sie ohne Schnuller und Gutenachtgeschichte einschläft.
Die zweite gute Nachricht des Abends ist, dass wir diesmal nicht am großen Tisch der Direktorin sitzen können, weil der Empfang des Babyfons nicht durch die dicken Hotelwände dringt. Immer wieder laufen Anne und ich wie Amateurfunker auf der Suche nach außerirdischem Funkverkehr durch den Speisesaal, drücken Knöpfe an dieser Persiflage eines Walkie-Talkies, aber es bringt nichts: Der letzte Balken verschwindet kurz hinter dem Katzentisch am Eingang, auf dem der Käse steht.
Schließlich deckt Herr Béla dort für uns ein – sehr zum Bedauern von Frau Sommer, die es nicht so gern sieht, »wenn das Gesamtbild in Unruhe kommt«, aber schmallippig hinzufügt, dass sie »natürlich für alles Verständnis« habe.
Immerhin vermeiden Anne und ich so mögliche weitere Blamagen in ihrer Runde. Wir verzichten auf Vorspeise, Salate und Pausen zwischen den restlichen Gängen. Stattdessen fragt mich Anne die Fakten zu Leonie ab, als wären wir in einer Quizshow ohne Humor. Leider gibt es als Hauptgericht heute die von den Kindern gebackene Pizza aus dem Nachmittagsprogramm. Nachdem ich den Wissenstest halbwegs bestanden habe, erzähle ich von meinem Tag mit Leonie, und wir lassen den Beginn unserer Mission Revue passieren.
Zur Feier der ersten überstandenen Tage bestellen wir zwei Gläser Wein und stoßen an. Aber richtige Wärme will zwischen uns einfach nicht aufkommen. Als ich Anne vorschlage, der Tarnung halber doch einfach von nun an in einem Bett zu schlafen, schüttelt sie so entsetzt den Kopf, dass der ganze Tisch wackelt und ihr Weinglas umkippt.
Wenig später stehen wir auf und verabschieden uns von Frau Sommer. Die scheint erleichtert, dass wir den Platz für den Käse räumen, bevor ihre Gäste sich aus alter Gewohnheit an unserem Tisch anstellen. »Ja, gehen Sie ruhig ins Bett, damit Sie morgen fit für den Tanzkurs sind.«
Herr Fröhlich, der sich nach dem Zwischensieg offenbar ein Gläschen Alkohol gegönnt hat, zwinkert Anne zu.
»Gönnen Sie sich ein bisschen Schlaf. Das tut dem Nachwuchs gut.«
Was gäbe ich dafür, mal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können. Als Anne im Schrankklo verschwindet, springe ich blitzschnell auf die Matratzen. Aber kaum ist sie zurückgekehrt, verweist sie mich so vehement aufs Sofa, dass Leonie aufwacht. Ohne dass die Kleine darum gebeten hat, hebt Anne sie aus dem Kinderbett und legt sie auf meine Seite.
So habe ich mir die Ehe immer vorgestellt: Man spricht ungehemmt über Körperausscheidungen und schläft nicht gern im gleichen Bett. Auch wenn der Tag mit Leonie im Sandkasten, sagen wir mal, außergewöhnlich war – Herr Dr. Schade hatte recht. Junge Familien sind unerträglich.
Ohne mich zu verabschieden, schwinge ich meine Beine aus dem Bett. Kaum haben sie den Boden berührt, fährt ein stechender Schmerz durch die Fußsohlen über die Knie nach oben, offenbar hat jemand meine Hotelschlappen vor dem Bett durch Reißzwecken ersetzt. Das Gefühl, barfuß auf ein Stück Lego zu treten, ist nichts dagegen.
»Autsch!«, rufe ich.
Hinter dem Vorhang knipse ich die Sofalampe an. In meinem einen Fuß steckt ein Nashorn – ein kleines, aus Plastik. Im anderen hängt eine Straßenlaterne. Der Traktor hat es nicht durch die Hornhaut geschafft.
Die Plastikfigürchen sollen nicht kaputtgehen, deshalb stelle ich sie lieber auf Annes Seite. Die freut sich morgen früh bestimmt darüber.
Dann ziehe ich mich mit letzter Kraft auf das tolle Designersofa zurück und wünschte, es wäre bloß ein Schlafsofa.